Wolf­gang Sof­sky: Wei­sen­fels. Ber­lin: Matthes & Seitz Ber­lin 2014. 236 Sei­ten.

sofsky, weisenfels„Unab­ding­ba­re Erschüt­te­rung“, „ver­fal­le­ne Gemäu­er“, „die Begeg­nung zwei­er Men­schen im Zenit des Unter­gangs einer ver­lo­re­nen Welt“ – der Umschlag­text hält sich nicht zurück. Dabei ist Wei­sen­fels eigent­lich ein ziem­lich selt­sa­mer Roman: Zwei (ehe­ma­li­ge) Freun­de tref­fen sich im Fami­li­en­sitz des einen, einem ver­fal­len­den Schloss, dass gefüllt ist mit Arte­fak­ten der abend­län­di­schen Kunst- und Kul­tur­ge­schich­te – aber nicht mit Men­schen. Die bei­den wan­deln durch die Gemäu­er und durch die Samm­lun­gen und durch die Erin­ne­rung an eine Welt oder eine Epo­che, die nicht mehr ver­füg­bar ist – eine Unter­neh­mung, die ganz fol­ge­rich­tig nur mit dem Tod enden kann. Es war nicht so sehr der plot, der mir schwer­fiel, son­dern die sehr selt­sa­me Pro­sa, die Sof­sky hier pflegt. Das ist ein unent­weg­tes Dekla­ri­en, Dozie­ren und Dekla­mie­ren, sowohl der Figu­ren als auch des Erzäh­lers. Über­haupt die Figu­ren, die sind auch sehr selt­sam – näm­lich eigent­lich nur (noch) als Mas­ke, als Rol­le oder als Platz­hal­ter prä­sent und damit unto­te Hül­len, leb­lo­se Über­res­te einer einst leben­di­gen Welt (dem christ­li­chen Abend­land, das mit sei­ner Tra­di­ti­on und Bil­dung so ger­ne beschwo­ren wird, aber schon lan­ge nicht mehr leben­dig ist …). Reli­gi­on und ihre Anzie­hungs­kraft, aber auch ihre Aus­prä­gun­gen, Pra­xen und Theo­lo­gien spie­len eine gro­ße Rol­le, vor allem aber ein ganz wört­lich genom­me­nes Leben „in“ Kul­tu­ren: Wenn hier über­haupt noch Leben ist, dann im Über­rest der Kul­tur, nicht aber in dem, was man Welt nen­nen möch­te.

Der Ver­lust der Bil­dung und der Kul­tur ist sozu­sa­gen die Grund­the­se, von der aus die­ser Text geschrie­ben ist. Der koket­tiert aber zugleich selbst auf allen Ebe­nen und auf­dring­lich per­ma­nent damit, mit dem Bil­dungs­wis­sen sei­ner Prot­ago­nis­ten bzw. deren Erzäh­ler: Tabak, Whis­key, Renais­sance-Male­rei, Kunst­mu­sik des 19. Jahr­hun­derts, Lite­ra­tur, Enzy­klo­pä­dis­tik, Skulp­tu­ren – alles ist hier da, prä­sent und wird erzählt. Man könn­te auch sagen: Das ist lau­ter bedeu­tungs­schwan­ge­res Wis­sen-Geklin­gel … Denn die Idee ist schnell klar, eben­so schnell zei­gen sich Län­gen im Text, der manch­mal recht zäh daher­kommt. Denn auch ihm gelingt natür­lich nicht das, was im und mit dem Schloss ver­sucht wird: Der Ver­such, den ewi­gen Pro­zess des Zer­fal­lens und Ver­falls anzu­hal­ten, den Ver­lust zu ver­mei­den: Des­halb das mani­sche Sam­meln und Rekon­stru­ie­ren ver­lo­re­ner Bil­dungs- und Kul­tur­gü­ter – ein Ver­such, der nahe­zu zwangs­läu­fig mit dem Ver­lust der Erin­ne­run­gen, des Selbst und des Lebens – also dem Tod – enden muss.

Bern­hard Stro­bel: Ein dün­ner Faden. Erzäh­lun­gen. Graz, Wien: Dro­schl 2015. 152 Sei­ten.

bernhard strobel, ein dünner fadenMit dem „dün­nen Faden“ konn­te Stro­bel mich nicht so recht begeis­tern. „Schnör­kel­lo­se Schil­de­run­gen des müh­sam unter­drück­ten Alp­traums im Häus­chen im Grü­nen“ ver­spricht der Schutz­um­schlag. Das trifft die Erzäh­lun­gen auch ziem­lich genau, ver­schweigt aber, dass sie dabei eher fad her­über­kom­men – unter ande­rem, weil das Mus­ter schnell erkannt ist: Es geht um ein­bre­chen­de Gefah­ren, Dro­hung, Andro­hun­gen und Streit. Immer wie­der wird der All­tag durch ein plötz­lich über die Prot­ago­nis­ten her­bre­chen­des Unheil, ein Unglück und Tra­gik, in der Rea­li­tät des Figu­ren­le­bens oder auch nur in Gedan­ken, Träu­men und Ahnun­gen, unter­bro­chen. Das beson­de­re bei Stro­bel ist dabei, dass gera­de die Momen­te der Erwar­tung des Unheils, das spür­ba­re, aber (noch) nicht zu benen­nen­de (und damit auch nicht zu hegen­de) Bro­deln unter der Ober­flä­che des gewön­li­chen All­tags eine gro­ße Rol­le spielt. Vie­les ist und bleibt dabei auf­fal­lend unspe­zi­fisch – nicht nur Ort, Raum und Zeit, son­dern vor allem die Figu­ren selbst. Das kann man natür­lich aus dem erzähl­ten Gesche­hen – etwa dem Neben­ein­an­der­le­ben der Paa­re, der aus­ge­stell­ten Nicht-Kom­mu­ni­ka­ti­on – moti­vie­ren. Das wird auch dem­entspre­chend ganz unauf­fäl­lig erzählt, in unmar­kier­tem Stil und unmar­kier­ter Form. Lau­ter Nor­ma­li­tät – oder eben lei­der oft: Mit­tel­maß – also. Klar, der „müh­sam unter­drück­te Alp­traum“ ist da: unter den Ober­flä­chen bro­delt es gewal­tig. Aber der Text ver­rät das kaum, sei­ne „schnör­kel­lo­se Schil­de­run­gen“ blei­ben selbst schreck­lich ober­fläch­lich und vom Gesche­hen oder des­sen Ahnung und Ankün­di­gung gänz­lich unbe­rührt. Wofür dann die Stil­ver­knap­pung, die künst­li­che Kunst­lo­sig­keit gut ist, erschließt sich mir also nicht wirk­lich. Alles in allem über­zeu­gen mich die­se Erzäh­lun­gen also lei­der über­haupt nicht.

Die Spra­che. Sie ist ein unzu­rei­chen­des Hilfs­mit­tel, und sie ist das ein­zi­ge Hilfs­mit­tel. Ein schö­nes Dilem­ma. (131)

Peter Neu­mann: geheu­er. Dres­den: edi­ti­on azur 2014. 88 Sei­ten.

neumann, geheuerEine mari­ti­me Gedicht­samm­lung. Das Meer mit sei­ner Bewe­gung, der Gren­ze zwi­schen Land und Was­ser, der (mög­li­chen) Frem­de und den unbe­herrsch­ten und unbe­herrsch­ba­ren Gewal­ten spielt hier – der Titel weist dar­auf hin und das Titel„bild“ unter­stützt das noch – eine gro­ße Rol­le. Sind das also Natur­ge­dich­te? Nun­ja, Natur taucht hier eher und vor­ran­gig als Impuls für Wahr­neh­mung des Men­schen und für Poe­sie auf, sie steht nicht für sich selbst und wird auch nicht so wahr­ge­nom­men und beschrie­ben. Neu­manns Gedich­te eröff­nen oft und ger­ne einen gro­ßen Raum (der Ima­gi­na­ti­on), ohne den auch nur annä­he­rungs­wei­se aus­zu­lo­ten und ohne das auch über­haupt zu wol­len. Gewis­ser­ma­ßen wird eine Tür geöff­net, der Blick des Lesers in den Raum gewie­sen – und dann allei­ne gelas­sen. Schön gemacht und deut­lich zeigt das Gedicht „bud­del­schiff“ die­ses Ver­fah­ren:

das gefühl einer lan­gen rei­se
auf­ge­klapp­te mas­ten
und take­la­ge, das eng­li­sche

schiffstau zum rei­ßen gespannt
der wind hum­pelt
auf ein­ge­schla­fe­nen bei­nen

durch die schma­le öff­nung
im fla­schen­hals
flaut ab, ein hel­les pfei­fen (55)

Typisch für Neu­manns Gedich­te ist außer­dem ihre Kür­ze. Immer wie­der sind sie durch das Anrei­ßen von sol­chen Augen­bli­cken der (erkennt­nis­haf­ten) Wahr­neh­mung, die dann aber nicht wei­ter­ge­führt und aus­ge­ar­bei­tet wird, gekenn­zeich­net. Sel­ten sind sie län­ger als 10/​12 Ver­se. For­mal schei­nen sie mir vor allem dem Flie­ßen, dem Flow ver­pflich­tet, ohne erkenn­ba­re Regel­haf­tig­keit. Die Gedich­te ste­hen zwar ger­ne in Grup­pen von drei Ver­sen, aber einen Grund erken­ne ich dafür nicht …

Durch die inhalt­li­che und for­ma­le Kür­ze – wenn man das mal so nen­nen mag – kommt es manch­mal zur Über­fül­le der visu­el­len und sprach­li­chen Bil­der, die ange­häuft, nebein­an­der gesetzt wer­den, aber im Text kaum bezie­hun­gen zuein­an­der haben – außer eben dem vor allem als (aus­ge­spar­ten) aus­lö­sen­den Moment der Erin­ne­rung an ein Gefühl, eine Emp­fin­dung, eine beob­ach­ten­de Wahr­neh­mung. Das (fast) rein bild­li­che Spre­chen wirkt dabei für mich etwas über­sät­ti­gend – man darf wohl nicht zu viel am Stück lesen, dann wird die kunst­vol­le Schön­heit die­ser Gedich­te schnell etwas schal. Aber es lohnt sich, immer wie­der zurück zu kom­men.

Jörg Döring, Felix Römer, Rolf Seu­bert: Alfred Andersch deser­tiert. Fah­nen­flucht und Lite­ra­tur (1944−1952). Ber­lin: Ver­bre­cher 2015. 277 Sei­ten.

drews/römer/seubert, alfred andersch desertiertEine schö­ne Gemein­schafts­ar­beit ist die­ses Buch über Alfred Andersch, sei­ne letz­ten Tage als Sol­dat im Zwei­ten Welt­krieg, sei­ne Gefan­gen­schaft und vor allem die lite­ra­ri­sche – oder eben auto­bio­gra­phi­sche? – Ver­ar­bei­tung des­sen in meh­re­ren Anläu­fen in der Nach­kriegs­zeit, mit der sich Andersch auch und gera­de im öffent­li­chen Dis­kurs sehr ein­deu­tig und nach­hal­tig posi­tio­nier­te. Eine Arbeit des bio­gra­phi­sches For­schens also. Aber nur bedingt bio­gra­phisch, denn die drei Autoren beto­nen wie­der­holt, dass es nicht pri­mär dar­um geht, die bio­gra­phi­sche Dimen­si­on fik­tio­na­ler Tex­te in den Blick zu neh­men (das wäre ja auch unsin­ning und wenig hilf­reich), son­dern dar­um, die spe­zi­fi­sche Situa­ti­on von Deser­ti­on, Kriegs­en­de und Nach­kriegs­zeit bzw. vor allem ihre Deu­tung in der Retro­spek­ti­ve zu unter­su­chen. Da Andersch die auto­bio­gra­phi­sche Dimen­si­on der „Kir­schen der Frei­heit“ stark for­ciert – und damit in der Lek­tü­re und Dis­kus­si­on des Tex­tes auch erfol­reich ist -, lässt sich das ver­tre­ten. Zumal die drei Autoren aus Ger­ma­nis­tik und Geschichts­wis­sen­schaft sich mit weit(er)gehenden Deu­tun­gen und Spe­ku­la­tio­nen zurück­hal­ten, son­dern einen star­ken Fokus auf die Rekon­struk­ti­on der Ereig­nis­se um Alfred Andersch im Krieg in Ita­li­en, um die (Mög­lich­keit der) Nie­der­schrift und lite­ra­ri­schen Bear­bei­tung sol­cher Erleb­nis­se in der Nach­kriegs­zeit rich­ten. Das ist, auch wenn ich mich für Andersch nur am Ran­de inter­es­sie­re, gera­de in der Ver­ei­ni­gung ver­schie­de­ner fach­li­cher Per­spek­ti­ven, sehr inter­es­sant und auf­schluss­reich – und trotz der teil­wei­se sehr akri­bi­schen Auf­ar­bei­tung der mili­tär­his­to­ri­schen und werk­stra­te­gi­schen Zusam­men­hän­ge auch sehr gut – zu lesen.

Jules Renard: Das Leben wird über­schätzt.Ber­lin: Matthes & Seitz 2015. 72 Sei­ten.

renard, das leben wird überschätztDie­se ganz klei­ne – aber auch aus­ge­spro­chen fei­ne – Aus­wahl aus dem „Jour­nal“ Jules Renards hat der inzwi­schen lei­der ver­stor­be­ne Hen­ning Rit­ter besorgt und auch selbst über­setzt, der Ver­lag Matthes & Seitz hat sie in sei­ner über­aus emp­feh­lens­wer­ten Rei­he „Fröh­li­che Wis­sen­schaft“ nun ver­öf­fent­licht. Das hier vor­ge­leg­te ist zwar chro­no­lo­gisch – von 1890 bis 1910 – an- und zuge­ord­net, aber den­noch kein eigent­li­ches Tage­buch, son­dern eher eine Nota­te-Samm­lung (Rit­ter selbst hat sein ähn­li­ches Unter­neh­men „Notiz­hef­te“ genannt). Man könn­te auch sagen: Das sind Extrem-Apho­ris­men. (Zu über­le­gen wäre frei­lich, ob das im Ori­gi­nal auch so ist, oder ob das erst durch die dar­auf abzie­len­de Aus­wahl des Her­aus­ge­bers so erscheint.) Denn was Rit­ter aus­ge­wählt hat und hier ver­öf­fent­licht wird, das sind lau­ter klei­ne und kna­cki­ge, tref­fen­de und tota­le Sät­ze. Das hat natür­lich immer wie­der ein Hang zum Apo­dik­ti­schen, beruht aber ande­rer­seits auf einer genau­en Beob­ach­tung der Welt und ihrer Kunst, die sich mit einer aus­ge­feil­ten Prä­zi­si­on der genau­es­ten For­mu­lie­rung paart.

Ich den­ke nicht nach: Ich schaue hin und las­se die Din­ge mei­ne Augen berüh­ren. (13)

Oft geht es in den Minia­tur-Ein­trä­gen um die Lite­ra­tur, noch mehr um das Schrei­ben an sich, aber auch um die Fel­der der Kri­tik und des Jour­na­lis­mus – lau­ter Zeit­lo­sig­kei­ten also. Das Ich, sein selbst und sei­ne Tugen­den wird dabei genau­so unbarm­her­zig und oft hart beob­ach­tet wie die ande­ren um ihn und um die Jahr­hun­dert­wen­de her­um. Da kann ich sehr viel Zustim­mungs­fä­hi­ges fin­den – man nickt dann beim Lesen immer so schön mit dem Kopf … -, auch poin­tiert Über­ra­schen­des, aber auch Frag­li­ches. Gera­de in sei­ner Hal­tung zur Welt, die vor allem aus sei­ner Abso­lu­tie­rung sei­ner Indi­vi­dua­li­tät resul­tiert, sehe ich nicht nur Vor­bild­haf­tes.

Das Recht eines Kri­ti­kers ist es, sei­ne Grund­sätze einen nach dem ande­ren zu ver­leug­nen, sei­ne Pflicht ist es, kei­ne Über­zeu­gung zu haben. (5)
Was ist das Leben, wenn es nur mit Augen gese­hen wird, die nicht Augen von Dich­tern sind? (22)

außer­dem unter ande­rem gele­sen:

  • Alex­an­der Osang: Im nächs­ten Leben. Repor­ta­gen und Por­träts. Ber­lin: Ch. Links 2010. 254 Sei­ten
  • Hein­rich Dete­ring: Vom Zäh­len der Sil­ben. Über das lyri­sche Hand­werk. Mün­chen: Stif­tung Lyrik Kabi­nett 2009. 28 Sei­ten.
  • Hans-Wer­ner Rich­ter: Die Geschla­ge­nen. Mün­chen: Kurt Desch 1949. 459 Sei­ten.
  • Siri Hust­vedt: The Bla­zing World. Lon­don: Scept­re 2014. 379 Sei­ten.
  • Jür­gen Kau­be: Im Reform­haus. Zur Kri­se des Bil­dungs­sys­tems. Sprin­ge: zu Klam­pen 2015 (Zu Klam­pen Essay). 174 Sei­ten.
  • Isa­bel­la Straub: Das Fest des Wind­rads. Ber­lin: Blu­men­bar 2015. 348 Sei­ten.
  • Dani­el Mar­tin Fei­ge: Phi­lo­so­phie des Jazz. Ber­lin: Suhr­kamp 2014. 142 Sei­ten.
  • Tho­mas Hecken: Avant­gar­de und Ter­ro­ris­mus. Rhe­to­rik der Inten­si­tät und Pro­gram­me der Revol­te von den Futu­ris­ten bis zur RAF. Bie­le­feld: Tran­script 2006. 158 Sei­ten.
  • Harald Wel­zer, Dana Gies­ecke, Lui­se Tre­mel (Hrsg.): FUTURZWEI Zukunfts­al­ma­nach 2015/​16. Geschich­ten vom guten Umgang mit der Welt. Schwer­punkt Mate­ri­al. Frank­furt am Main: Fischer 2014. 544 Sei­ten.
  • Ben­ja­min Stein: Ein ande­res Blau. Pro­sa für 7 Stim­men. Ber­lin: Ver­bre­cher 2015. 107 Sei­ten.