Farm to Fable | Tampa Bay Times → ein interessanter und aufwendig recherchierter, aber sehr langer (und bisweilen arg langatmiger) text der restaurantkritikerin der “tampa bay times” in florida über die lügen der gastronomie, was “local” (in deutschland eher: regional) zutaten (und herkunftsangaben überhaupt) angeht. auf den punkt gebracht:
If you eat food, you are being lied to every day.
(es gibt aber auch positive beispiele …)
Biller unread | der Freitag → michael angele vom “freitag” schreibt eine sammelrezensension der kritiken von billers “biografie”
So bildete sich mir beim Lesen ein eigener kleiner Roman über einen Kritiker, was will man mehr.
Exit-Strategie: Herrndorfs Revolver | FAS → julia encke hat sich im literaturarchiv marbach die waffe von wolfgang herrndorf zeigen lassen und erzählt für die “fas” die geschichte, wie sie dorthin kam
Doch ist die eigentliche Pointe vielleicht eine ganz andere. Denn von Wolfgang Herrndorf liegt hier in Marbach jetzt nur der Revolver und kein Manuskript, keine Skizze, keine handschriftlichen Notizen. Nur die Reliquie sozusagen, aber nicht die Schrift. Wer „Arbeit und Struktur“ liest — dieses überwältigende Buch mit zwei Protagonisten: Wolfgang Herrndorf und seine Waffe -, der kennt auch die Passagen, in denen der Autor seine Abneigung gegenüber Germanisten ziemlich deutlich zum Ausdruck bringt. Dass die Germanisten jetzt nur das Werkzeug der Beendigung des Schreibens in die Hände bekommen und nicht den Text selbst, das hätte ihm möglicherweise gefallen. Es passt jedenfalls zu der Art von Scherzen, die Wolfgang Herrndorf mochte.
Sein eigenes multimediales, Gattungsgrenzen sprengendes Schaffen aber lässt sich kaum auf den Punkt bringen. Jedenfalls hat er — wie sein Freund Dieter Schnebel es treffend sagte — nie “normale” Musik geschrieben.
Aldis final Discountdown | Krautreporter → peer schader über den “strategiewechsel” bei aldi und die damit einhergehenden probleme für händler, hersteller und kunden
Naturschutz: Was ist nur aus uns geworden? | Zeit → haral welzer ist etwas ratlos — all das grüne leben, das bemühen um nachhaltigkeit und ökologie — es scheint nichts zu nutzen, weil das “immer mehr” aus dem kapitalisten system offenbar nicht wegzubekommen ist …
Der Preis für das so perfekt funktionierende Bündnis zwischen Ökobesorgnis und Normalwirtschaft ist hoch: Nicht nur klafft heute zwischen der ausgebauten Expertokratie in Ministerien, Universitäten, Nichtregierungsorganisationen und Umweltverbänden und ‑räten aller Art und der bunten, aber eher staatsfernen und entpolitisierten Graswurzelaktivisten-Szene eine große gesellschaftspolitische Lücke, auch ist den Grünen ihr Markenkern abhandengekommen, seit die ganze Gesellschaft symbolisch ergrünt ist.
Das wirkt sich umso dramatischer aus, als die Folgen einer fortgesetzten Naturzerstörung heute immer deutlicher werden – bis hin zu den sozialen Folgen in Gestalt von Flucht und Vertreibung. Eine Weile lang hat die Ökobewegung als Modernisierungsimpuls für eine moderne Gesellschaft gewirkt, die so etwas regelmäßig braucht, um neue Märkte, Produkte und Bedürfnisse zu erschließen. Aber in dieser Modernisierung hat sie sich selbst weitgehend verloren. Ivan Illich hatte auf Selbstbegrenzung bestanden, weil es keiner noch so effizienzgeschärften Produktivität jemals gelingen könne, “die nach Belieben geschaffenen und multiplizierten Bedürfnisse zu befriedigen”. Wohl wahr. Aber Selbstbegrenzung ist einem System wesensfremd, dessen Erfolgsrezept gerade darin liegt, unablässig natürliche Grenzen zu überschreiten.
Viel zu lange gewartet mit der nächsten Aus-Lese, deswegen ist das jetzt eine Auslese der Aus-Lese …
Friedrich Forssman: Wie ich Bücher gestalte. Göttingen: Wallstein 2015 (Ästhetik des Buches, 6). 79 Seiten.
„Ein Buch ist schön, wenn die Gestaltung zum Inhalt paßt.“ (71) — in diesem kleinen, harmlosen Satz steckt eigentlich schon das gesamte gestalterische Credo Forssmans (dessen Name ich immer erst beim zweiten Versuch richtig schreibe …) drin. Forssman, als Gestalter und Setzer der Spätwerke Arno Schmidts schon fast eine Legende, inzwischen auch durch die Neugestaltung der Reclamschen “Universal Bibliothek” in fast allen Händen, will in diesem kleinen Büchlein — 79 Seiten sind nicht viel, wenn es um Buchgestaltung, Typographie, Herstellung und all das drumherum gehen soll — zeigen, wie er selbst Bücher gestaltet, das heißt, nach welchen Kriterien er arbeitet. Ein Werkstattbericht soll das sein — und das ist es auch, nicht nur, weil es so aussieht.
Locker plaudert er, könnte man sagen, über die Arbeit an der Herstellung eines Buches. Das betrifft letztlich all die Aspekte, die über den “reinen” Text als Inhalt hinausgehen: Typographie, Satz, Format, Herstellung, Umschlag und vieles mehr. Forssman plaudert, sage ich, weil er sich dezidiert als Theorie-Verächter darstellt. Letztlich sind das alles Regel- und Geschmackfragen: Ein Buch ist schön, wenn es gut ist — und es ist gut, wenn es schön ist. Viel mehr steckt da eigentlich nicht dahinter. Forssman sieht Buchgestaltung ausdrücklich als Kunsthandwerk, das bestimmten Regeln gehorcht. Die — und den guten Geschmack bei der Beurteilung ihrer Anwendung — lernt man, indem man andere Bücher der Vergangenheit (und Gegenwart) anschaut und studiert. Freiheit und Tradition bzw. Regel sind die Pole, zwischen denen jeder Kunsthandwerker sich immer wieder verortet. Beim Lesen klingt das oft traditioneller und langweiliger, als Forsmanns Bücher dann sind. Das liegt wahrscheinlich nicht zuletzt daran, dass er sehr stark auf eine ausgefeilte und konsequente Durchgestaltung des gesamten Buches Wert legt — vom Bindungsleim bis zur korrekten Form der An- und Abführungsstriche hat er alles im Blick. Und, darauf weist er auch immer wieder hin, Regelhaftigkeit und Tradition heißt ja nicht, dass alles vorgegeben ist: Es gibt Freiheitsgrade, die zu nutzen im Sinne einer Interpretation des vorliegenden Textes die Aufgabe des Buchgestalters ist. Und dabei gilt dann doch wieder:
Die Beweislast liegt immer beim Veränderer, in der Typographie erst recht. (42)
Ilija Trojanow: Macht und Widerstand. Frankfurt am Main: Fischer. 479 Seiten.
Ein ganz schöner Brocken, und ein ganz schön heftiger dazu. Nicht wegen der literarirschen Form, sondern wegen des Inhalts — der ist nicht immer leicht verdaulich. Es geht um Bulgarien unter sozialistischer/kommunistischer Herrschaft, genauer gesagt, um die “Arbeit” und die Verbrechen der Staatssicherheit. Das erzählt Trojanow auf der Grundlage von Archivakten, die zum Teil auch ihren Weg ins Buch gefunden haben (seltsamerweise werden sie — und nur sie — in kleinschreibung angekündigt …). Trojanow konstruiert eine Geschichte aus zwei Polen — Macht und Widerstand natürlich — die sich in zwei Männern niederschlagen und recht eigentlich, das wird ganz schnell klar, personifizieren. Die sind dadurch für meinen Geschmack manchmal etwas eindimensional geworden: Der eine ist eben die mehr oder weniger reine Verkörperung des Prinzipes Widerstand, der anderen der Macht (bzw. des prinzipienlosen Opportunismus). In abwechselnden Kapiteln wechselt auch immer die Perspektive entsprechend. Geschickt gelingt Trojanow dabei ein harmonischer Aufbau, der Informationen sehr harmonisch und allmählich weitergibt. Seinen hauptsächlichen Reiz zieht Macht und Widerstand vielleicht aber doch daraus, dass es sozusagen Literatur mit Wahrheitsanspruch ist, den Fiktionalitätspakt also aufkündigt (und daran im Text durch die eingestreuten Aktenübersetzungen, die sonst für den literarischen Text wenig tun, immer wieder erinnert). Das macht die Bewertung aber zugleich etwas schwierig: Als rein literarischer Text überzeugt es mich nicht, in seiner Doppelfunktion als Literatur und historisch-politische Aufklärung ist es dagegen großartig.
John Hirst: Die kürzeste Geschichte Europas. Hamburg: Atlantik 2015. 206 Seiten.
Eine interessante Lektüre bietet diese Geschichte Europas, sie ist durchaus erfrischend, die extreme Verknappung. Aber halt auch immer wieder problematisch — vieles fehlt, vieles ist ungenau bis fehlerhaft. Aber um Vollständigkeit (der behandelten Themen oder der Darstellung) kann es in einer “kürzesten Geschichte” natürlich überhaupt nicht gehen.
Hirst geht es im ersten Teil — „Die kürzeste Version der Geschichte“ überschrieben — vor allem um die Formierung Europas: Wie wurde Europa das, was es heute ist (oder vor wenigen Jahren war)? Er stützt sich dabei vor allem auf drei Phänomene und siedelt das maßgeblich im Übergang von Antike zu Mittelalter an: Europa ist die Verbindung von der „Kultur des antiken Griechenlands und Roms“, dem Christentum und der „Kultur der germanischen Krieger“. Immer wieder betont er, dass Europa als Idee und Gestalt eben maßgeblich eine Mischung sei. Und die versteht man nur, wenn man ihre Genese im Blick hat (das alles gilt übrigens für ihn bis in die Jetztzeit — ich bin mir nicht sicher, ob er dabei nicht doch die Macht & Notwendigkeit der Geschichte überschätzt …): Nur mit Kenntnis dieser Wurzeln versteht man also die Gegenwart. Er fasst seine Überlegungen zum Zusammenwirken seiner Grundfaktoren immer wieder in schönen Diagrammen zusammen, die dann zum Beispiel so aussehen:
(Seite 31)
(Seite 61)
Die ersten Teile — wo es um die eigentliche Geschichte und Formierung Europas als Europa geht — sind dabei gar nicht so schlecht: Natürlich ist das alles sehr verkürzt, aber übrigens auch gut lesbar. Danach, wo es unter Überschriften wie „Einfälle und Eroberungen“, „Staatsformen“, „Kaiser und Päpste“ um Linien und Tendenzen der europäischen Geschichte in Mittelalter und Neuzeit geht, wird es für meinen Geschmack aber zu episodisch und auch historisch oft zu ungenau. In der Konzeption fehlt mir zu viel Kultur und Kulturgeschichte: Hirst geht weitestgehend von klassischer politischer Geschichte aus, ergänzt das noch um etwas Philosophie und ein bisschen Religion. Und: Hirst denkt für meinen Geschmack auch zu sehr in modernen Begriffen, was manchmal zu schiefen Bewertungen führt (übrigens auch anderen bei Historikern (immer noch) ein beliebter Fehler …)
Manche Wertung und Einschätzung stößt bei mir auf größeren Widerstand. Manchmal aber auch einfaches handwerkliches Pfuschen, wenn Hirst etwa Davids Zeichnung „Schwur im Ballhaus“ unhinterfragt als getreues Abbild einer wirklichen Handlung am Beginn der Französischen Revolution liest und interpretiert (dass er den Leser sonst mit Quellen nicht weiter behelligt, ist natürlich dem Format geschuldet). Seltsam fand ich auch sein Bild der mittelalterlichen Kirche vor Gregor VII und ihr Verhältnis zur Politik: „Örtliche Machthaber und die Monarchen Europas hatten sie [die Kirche] untergraben, schlechtgemacht und ausgeplündert.“ (149) — eindeutiger kann man kaum Position beziehen …
Damit ist Hirst insgesamt also sicher nicht die letzte Autorität zur Geschichte Europas, nichtsdestotrotz aber durchaus eine stimulierende Lektüre. So weit wie Gustav Seibt, der das in der SZ ein “Meisterwerk der Vereinfachung” nannte, würde ich allerdings nicht gehen.
Roland Barthes: Der Eiffelturm. Berlin: Suhrkamp 2015. 80 Seiten.
Zum 100. Geburtstag des großen Roland Barthes hat Suhrkamp seinen kleinen Text über den Pariser Eiffelturm in einem schön gemachten Büchlein mit ergänzenden Fotos veröffentlicht (das bei mir allerdings schon beim ersten Lesen zerfiel …). Barthes untersucht nicht nur, was der Eiffelturm eigentlich ist — nämlich ein (annähernd) leeres Zeichen -, sondern vor allem, was er bedeutet und was er mit Paris und dem Beobachter oder besser Betrachter macht. So konstatiert er unter anderem, dass der Eiffelturm einen neuen Blick (aus der Höhe eben) auf die Stadt als neue Natur, als menschlichen Raum ermöglicht und eröffnet. Und damit ist der Eiffelturm für Barthes die Materialisation dessen, was die Literatur im 19. Jahrhundert schon längst geleistet hatte, nämlich die Ermöglichung, die Struktur der Dinge (als “konkrete Abstraktion”) zu sehen und zu entziffern. Der besondere Kniff des Eiffelturms besteht und darin, dass er — im Unterschied zu anderen Türmen und Monumenten — kein Innen hat: „Den Eiffelturm besichtigen heißt sich zu seinem Parasiten, nicht aber zu seinem Erforscher machen.“ (37), man gleitet immer nur auf seiner Oberfläche.
Damit und durch die Etablierung eines neuen Materials — dem Eisen statt dem Stein — verkörpert der Eiffelturm einen neuen Wert — den der funktionellen Schönheit. Gerade durch seine Nutzlosigkeit (die ihn vor seiner Erbauung so suspekt machte) befähigt ihn besonders — weil keine tatsächliche Nutzung sich mit einmengt -, zum Symbol der Stadt Paris zu werden: “Der Eiffelturm ist durch Metonymie Paris geworden.” (51) — und mehr noch, er ist “die ungehemmte Metapher” überhaupt: “Blick, Objekt, Symbol, der Eiffelturm ist alles, was der Mensch in ihn hineinlegt.” (63). Genau das ist es natürlich, was ihn für den strukturalistischen Semiotiker Barthes so interessant und anziehend macht. Und diese Faszination des Autors merkt man dem Text immer wieder an.
Michael Fehr: Simeliberg. 3. Auflage. Luzern: Der gesunde Menschenversand 2015. 139 Seiten.
Grau nass trüb ein Schweizer Wetter ziemlich ab vom Schuss (5)
- so fängt das “Satzgewitter” von Michael FehrsSimeliberg an. Die Methode bleibt über die fast 140 Seiten gleich: Die Sätze der harten, schweizerisch gefärbten Prosa werden durch ihre Anordnung der Lyrik angenähert (das typographische Dispositiv ist sogar ganz unverfälscht das der Lyrik), statt Satzzeichen benutzt Fehr Zeilenumbrüche. Diese zeilenweise Isolierung von Satzteilen und Teilsätzen verleiht dem Text nicht nur eine eigenartige Gestalt, sondern auch ein ganz eigenes Leseerlebnis: Das ist im Kern “echte” Prosa, die durch ihre Anordnung aber leicht wird, den Boden unter den Füßen verliert, ihre Festigkeit und Sicherheit (auch im Bedeuten und Meinen) aufgegeben hat: Sicher im Sinne von unverrückt und wahr ist hier kaum etwas, die Form lässt alles offen. Dabei ist die erzählte Geschichte in ihrem Krimicharakter (der freilich keine “Auflösung” erfährt) beinahe harmlos: Ein abgelegener Hof, seltsame Todesfälle, eine gigantische Explosion, eine Untersuchung, die Konfrontation von Dorf und Stadt, von Einheimischen und Zugezogenen. Genau wie die Geschichte bleibt alles im Ungefähren, im Düsteren und Schlammigen — die Figuren sind Schattenrisse, ihre Motivation wie ihre Sprache bruchstückhaft. Und genau wie die Menschen (fast) alle seltsame Sonderlinge sind, ist auch der Text sonderbar — aber eben sonderbar faszinierend, vielleicht gerade durch seine Härte und die abgründige Dunkelheit, die er ausstrahlt. Und die Fehr weder mildern will noch kann durch eine “angenehmere”, das heißt den Lesererwartungen mehr entsprechende, Erzählweise.
Auch wieder ein nettes, sympathisches Büchlein: In über 60 kurzen Geschichten, Anekdoten, Skizzen hinterfragt Henrici (den man sich wohl als alter ego des Literaturwissenschaftlers Frey vorstellen darf) den Alltag der Gegenwart, unser Tun und unser Sprechen. Das ist einfach schön verspielt, verliebt ins Spielen, genauer gesagt, ins Wortspiel: Durch das spielerische Arbeiten mit gedankenlos geäußerten Worten und Sätzen, mit Gemeinplätzen, hinsichtlich ihres Klanges und ihrer Semantik bringt Frey immer wieder die Bedeutungen zum Tanzen. Das sind oft oder sogar überwiegend gar keine weltverändernden Beobachtungen, die diese Miniaturen erzählen. Aber sie haben die Kraft, das Alltägliche, das Normale, das man immer wieder als Gegeben unhinterfragt einfach so hinnimmt und weiterführt, für die Beobachtung und Inspektion zu öffnen: Denn im spielerischen Verdrehen der Worte zeigt Frey immer wieder, was die eigentlich leisten (können), wenn man sie nicht bloß unbedacht äußert, sondern auch in banalen Situationen auf ihre Möglichkeiten und Bedeutungen abklopft — da kommt Erstaunliches, oft ausgesprochen Komisches dabei heraus. Eine sehr sympathische (und leicht zugängliche) Art des (Sprach)Philosophierens …
Zu diesem ganz wunderbaren Büchlein mit dem zauberhaften Titel Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung von Titus Meyer, das voller faszinierend artistischer Sprachkunstwerke steckt, habe ich schon vor einiger Zeit ein paar Sätze verloren: klick.
Wolfgang Herrndorf: Bilder deiner großen Liebe. Ein unvollendeter Roman. Herausgegeben von Kathrin Passig und Marcus Gärtner. RM Buch und Medien 2015. 141 Seiten.
Bilder deiner großen Liebe ist ein unveröffentlichtes und auch unfertiges Manuskript aus dem Nachlass Wolfgang Herrndorfs, das Kathrin Passig und Marcus Gärtner (die mit Herrndorf eng bekannt/befreundet waren) zur Veröffentlichung “arrangiert” haben. Denn das vorhandene Textmaterial setzt an verschiedenen Stellen des geplanten Romans an und ist auch unterschiedlich stark ausgearbeitet. Das merkt man auch beim Lesen — einiges passt (etwa chronologisch und topographisch) nicht zusammen, an einigen Stellen brechen Episoden mit Stichworten oder Halbsätzen ab. Trotzdem liest man eben Herrndorf: Wieder eine Art Road-Novel, diesmal von der “verrückten” Isa auf ihrem Weg durch das Land berichtend, wobei sie einige spannende Begegnungen erlebt. Ein sehr bunter, etwas chaotischer und deutlich unfertiger Text — ich bin mir nicht sicher, ob Herrndorf damit ein Gefallen getan wurde, das noch zu veröffentlichen. Sicher, das ist nett zu lesen. Aber in dieser Form ist es eben überhaupt nicht auf der Ebene, auf der Herrndorfs andere Texte angesiedelt sind. Für Herrndorf-Fans sicher ein Muss, die anderen können das ohne großen Verlust auslassen.
Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert. (7)
außerdem noch gelesen:
Iris Hanika: Wie der Müll geordnet wird. Graz, Wien: Droschl 2015. 298 Seiten.
Ulrike Almut Sandig: Grimm. Gedichte. Nach den Kinder- und Hausmärchen von Jacob und Wilhelm Grimm, hg. von Brigitte Labs-Ehlert. Detmold: Wege durch das Land 2015 (Wege durch das Land 23). 32 Seiten.
Urs Faes: Und Ruth. Frankfurt am Main, Wien, Zürich: Büchergilde Gutenberg 2001 [Suhrkamp 2001]. 181 Seiten.
Monique Schwitter: Eins im Andern. 5. Auflage. Graz: Droschl 2015. 232 Seiten.
Thomas Melle: Raumforderung. Erzählungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007. 200 Seiten.
Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard. Eine Biografie. Wien: Residenz Verlag 2015. 452 Seiten.
Peter Stamm: Nacht ist der Tag. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2014. 253 Seiten.
Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur. Berlin: Rowohlt 2013. 447 Seiten.
Das Blog von Wolfgang Herrndorf, eben “Arbeit und Struktur”, habe ich erst recht spät wahrgenommen und dann auch immer etwas gefremdelt. Hier, in seiner Ganzheit, wirkt das sehr anders. Und jetzt ist Herrndorfs Weblog “Arbeit und Struktur” wirklich so großartig, wie es viele Rezensenten beschreiben. Aber nicht, weil es so besonders direkt und “authentisch” ist (das ist es nicht, es ist Literatur und sorgfältig bearbeitet), sondern weil es den Eindruck von Ehrlichkeit und skrutinöser Selbstbefragung vermitteln kann — gerade in den schwierigen Situationen, z.B. dem Empfang der Diagnose, den Berechnungen der verbleibenden Lebenszeit. Und weil es schonungslos die Schwierigkeiten recht unmittelbar darstellt. Etwa auch die Verzweiflung, dass es in Deutschland kaum möglich ist, als todkranker Mensch sein Lebensende wirklich selbst zu bestimmen. Schon früh tauchen die Überlegungen zu einer “Exitstrategie” (79) auf. Deutlich merkt man aber auch einen Wandel in den drei Jahren: vom lockeren (beinahe …) Anfang, als Herrndorf sich vor allem in die Arbeit (an Tschick und Sand) flüchtet, hin zum bitteren, harten Ende. Das manifestiert sich auch in der Sprache, die dichter und härter, ja kantiger wird. Natürlich geht es hier oft um die Krankheit, den Hirntumor (die “Raumforderung”), aber nicht nur — er beschreibt auch die kleinen Siege des Alltags und die Segnungen der Arbeit, die poetischen Gedanken: “Arbeit und Struktur” dient auch als Form der Therapie, die manchmal selbst etwas manisch wird, manchmal aber auch nur Pflicht ist; ist aber zugleich auch eine poetische Arbeit mit den entsprechenden Folgen.
Ich erfinde nichts, ist alles, was ich sagen kann. Ich sammle, ich ordne, ich lasse aus. Im Überschwang spontaner Selbstdramatisierung erkennbar falsch und ungenau Beschriebenes wird oft erst im Nachhinein neu beschrieben. (292)
Ein großer Spaß, dieses Sterben. Nur das Warten nervt. (401)
Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahnsinn I. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012 (1983). 153 Seiten.
Den Klassiker der Diskurstheorie habe ich jetzt endlich auch mal gelesen — nicht so sehr um des Themas, also der Untersuchung der Erzählung der Befreiung der Sexualität, willen, sondern der Methode willen. Foucault zeigt ja hier, wie Machtstrukturen in Diskursen und Dispositiven sich realisieren, hier am Beispiel der Sexualität und der Entwicklung des Sprechens über sie, also der Regulierung von Sexualität in der Neuzeit Europas. Insbesondere die Ubiquität von Macht(strukturen) ist entscheidene, die auch nicht irgendwie zentral gesteuert sind (und gegenteilige Ergebnisse haben können: “Ironie dieses Dispositivs: es macht uns glauben, daß es darin um unsere ‚Befreiung‘ geht.” (153)).
Entscheidend ist hier ja Foucaults neuer Begriff von Macht, der über den Diskurs & nichtdiskursive Formationen geprägt ist. Dazu noch die Idee der Dispositive als Sammlung von Umsetzungsstrategien, die über Diskurse hinaus gehen und z.B. hier auch pädagogische oder architektonische Programme umfasst — das ergibt die Beobachtung der Macht von “unten”, die im Geständnis der Sexualität Verhaltensweisen und Ordnungen der Gesellschaft aushandelt.
Mara Genschel: Referenzfläche #3.
Dieses kleine, nur bei der Autorin selbst in limitierter Auflage zu bekommende Heft ist ein einzigartiges, großes, umfassendes Spiel mit Worten und Texten und Bedeutungen und Literatur oder “Literatur”: Zwischen Cut-Up, Montage, experimentell-avantgardistischer Lyrik, Ready-Mades und wahrscheinlich noch einem Dutzend anderer Künste vagabundieren die sprachspielerischen Text‑, Sprach‑, und Wortfetzen, die sich gegenseitig ergänzen, permutieren und variieren. Einige davon sind wirklich im wahrsten Sinne des Wortes Fetzen: Ausrisse aus anderen Texte, aus journalistischen oder handschriftlich-privaten Erzeugnissen, die hier montiert und geklebt sind. Manches hinterlässt einfach Ratlosigkeit, manches ruft ein amüsantes Augenbrauenheben hervor — und manche Seite begeistert einfach. Ob das Scharlatanerie oder Genialität ist — keine Ahnung, ehrlich gesagt. Langweilig ist es aber auf jeden Fall nicht.
Peter Handke: Die schönen Tage von Aranjuez. Ein Sommerdialog. Berlin: Suhrkamp 2012. 70 Seiten.
Ich habe oft solch eine Lust, zu erzählen, vor allem diese Erfahrung — diese Geschichte. Aber sowie ich bedrängt werde mit ‚Erzähl!‘: Vorbei der Schwung. (9)
Ein karges Stück, das allein von seiner Sprache lebt: “Ein Mann” und “Eine Frau” sitzen sich gegenüber und führen einen Dialog. Nun ja, sie reden beide, aber nicht immer miteinander. Offenbar gibt es vorher vereinbarte Regeln und Fragen, deren Verstöße manchmal moniert werden. Es geht um viel — um die Geschichte und Geschichten, ums Erzählen und die Erinnerung. Aber auch um Licht und Schatten, Anziehung, Geborgenheit und Entfremdung oder Ernüchterung, um Begehren und Liebe. Dahinter steht ein spielerisch-erzählerisch-tastendes Ausloten der Beziehung(smöglichkeiten) zwischen Mann und Frau. Das Ganze — es sind ja nur wenige Seiten — ist poetisiert bis zum geht nicht mehr. Genau darin aber ist es schön!
Zum Glück ist das hier zwischen uns beiden kein Drama. Nichts als ein Sommerdialog. (43)
Laß uns hier schweigen von Liebe. Höchsten vielleicht ein bißchen Melancholie im November.(49)
Man hat es nicht leicht mit den Schriftstellern. Sie vertreten ihre Meinung schön und überzeugend, auch wenn es sich um eine mäßig durchdachte Meinung handelt. Ebenso schwierig ist es mit ihren Freunden. Als ich zusagte, diesen Beitrag zu schreiben, wollte ich für eine bessere Regelung der Sterbehilfe in Deutschland plädieren – nicht gerade für die Extremform der Liberalisierung, die Herrndorf sich wünschte, aber doch dafür, dass Sterbewillige es leichter haben sollten als er. Aber vor dem Gesetz besteht kein Unterschied zwischen meinem Wunsch und denen anderer Hinterbliebener, die aus akutem Unglück heraus die Todesstrafe für Kindermörder fordern, ohne sich dafür zu interessieren, dass das Recht noch andere Situationen als die ihre zu berücksichtigen hat.
Es ist einfach, anhand von Arbeit und Struktur die Nachteile des bestehenden Systems zu kritisieren. Aber es ergibt sich keineswegs einfach daraus, wie ein anderes System auszusehen hätte.
Publikation von “Mein Kampf” — “Der Auftrag ist gestoppt” — Süddeutsche.de — die spinnen wirklich in Bayern: Nach 70 Jahren hin und her um Hitlers “Mein Kampf” beschließen sie nun, das sei volksverhetzend und blasen kurzerhand die schon ziemlich weit fortgeschrittene wissenschaftlich kommentierte Edition des IfZ ab.
Nun trifft die Staatsregierung die Entscheidung im Alleingang. Das Buch sei volksverhetzend, sagte Staatskanzleichefin Haderthauer. Wenn Verlage das Buch in Zukunft veröffentlichen wollten, werde die Staatsregierung Strafanzeige stellen./
Manchmal wirkt es, als mussten die Autoren blind in einen Container mit wiederzuverwertendem Material greifen und es irgendwie zu einem gemeinsamen Oberbegriff zusammenklöppeln.