Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: wirklichkeit

Wirklichkeit

Die Wirk­lichkeit ist ein ver­patztes Ideenkonzept.”
Robert Musil, Ideen­blatt zum Mann ohne Eigen­schaften

Wahn und Wirklichkeit

“Du weißt wohl nicht, daß der Wahn, den du von dir selb­st hast, wahrer ist als die Wirk­lichkeit der Frauen. Ach, glauben die Men­schen immer noch an diese arm­selige Erfind­ung, diese erbärm­liche Hil­f­skon­struk­tion, die Wirk­lichkeit? Diese Ver­här­tung, Kruste, schwindende und wieder aufgekratzte Nar­bie, die uns juckt auf den atmenden Wun­den unseres fließen­den Blutes.”

—Franz Hes­sel, Heim­lich­es Berlin (2012 [1927]), 47

Weltmüller und andere Fast-Reportagen

Das ist ein wun­der­bares nettes kleines Buch, dieser Welt­müller von Frank Fis­ch­er.1 Der hat sich ja — zumb Beispiel in der eben­falls amüsan­ten “Zer­störung der Leipziger Stadt­bib­lio­thek im Jahr 2003” — schon öfters an kon­trafak­tis­chen Reporta­gen ver­sucht. Das ist nicht unbe­d­ingt wahnsin­nig gehaltvoll und tief­schür­fend, aber hochtra­bend unter­halt­sam. Dass wahrschein­lich kein Pub­likum der Welt den “Ham­let” so genau ken­nt, dass es genau fol­gen kann, wenn statt Men­schen Hunde auf der Bühne ste­hen und entsprechend kein einziges Wort gesprochen wird — geschenkt. Dass Godot in ein­er bahn­brechen­den Insze­nierung zwar mit “dem besten deutschsprachi­gen” Schaus­piel­er beset­zt wird, aber naturgemäß nicht auf­taucht, nicht ein­mal zum Schlus­sap­plaus, ist natür­lich an sich eine blasse Pointe. Aber darum alleine geht es Fis­ch­er ja nicht. Son­dern um die Mit­tel und Möglichkeit­en, solche (Nicht-)Ereignisse des Kul­turlebens zu beschreiben. Und das kann er richtig gut — ein­fach präzise unter­hal­tend näm­lich, in ein­er genau durchge­führten Stil­par­o­die. Mehr ist das ganze Büch­lein auch kaum. Aber das ist ja schon nicht wenig.

Der Witz bei den Erzäh­lun­gen hier ist natür­lich, dass sie zwar ein­er­seits absurd erscheinen, ander­er­seits als (fast?) real­is­tisch gel­ten müssen: Ohne Prob­leme kann man sich eine Godot-Insze­nierung vorstellen, bei der ein Godot beset­zt wird. Selb­stver­ständlich liegt es nicht außer­halb des Möglichen, das ein Kunst­werk qua­si im Moment des Entste­hens ver­waist, weil sein vorge­blich­er Schöpfer jede Beteili­gung leugnet und so eine “seman­tis­che Zeit­bombe” im öffentlichen Raum hin­ter­lässt — denn wenn nicht bekan­nt ist, wer das Kunst­werk (das spricht dem Pro­jekt übri­gens bei Fis­ch­er fast nie­mand ab) geschaf­fen hat, ist es auch nicht deut­bar.2 Schließlich muss der imag­inäre Jour­nal­ist Fis­ch­ers resümieren: “Man lässt das Werk nun doch ein­fach gewähren.” (81)

Das Chang­ieren zwis­chen unser­er “Real­ität” und kon­trafak­tis­chen Sit­u­a­tio­nen, denkbaren Ereignis­sen in möglichen Wel­ten zieht seinen Witz genau daraus, dass nicht immer auf den ersten Blick erkennbar ist, was Real­ität ist oder sein kann und was nur eine mögliche Vorstel­lung darstellt. Wer außer­dem noch Freude an Metaspielchen (aber ganz unaufgeregt, ohne großes The­o­retisieren) und Schlüs­sel­erzäh­lun­gen aus dem Kul­turbe­trieb hat und sich an den vorge­führten Hohlheit­en von man­nig­falti­gen Worthülsen aus diesem Sek­tor delek­tieren kann, der wird hier sicher­lich eine oder zwei vergnügliche Stun­den haben (übri­gens gibt es “Welt­müller” auch als preiswertes E‑Book).

Frank Fis­ch­er: Welt­müller. Berlin: Sukul­tur 2012. 120 Seit­en. ISBN 978–3‑941592–32‑2.

Show 2 foot­notes

  1. Aufmerk­sam gewor­den bin ich darauf im “Text & Blog”-Blog (hier), dann auch beim Begleitschreiben: klick.
  2. das ist natür­lich Quatsch … — aber weit ver­bre­it­er Blödsinn und deshalb hier glaub­würdig

Wirklichkeit

„Wirk­lichkeit ist ein anderes Wort für das, woran Zeu­gen sich erin­nern.” (Juli Zeh, Spiel­trieb)

“Marcel Proust …

… hat Unsag­bares — sag­bar gemacht. Daran messe ich einen Autor. Unsag­bares begreif­bar machen, das tut nicht die Gesellschaft. Und die Wirtschaft schafft’s auch nicht.” (Ger­hard Meier, Borodi­no, 94)

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