Die “Süddeutsche Zeitung” geht mit der Zeit und hat ihre Digitalausgabe modernisiert, sagt sie. Und zugleich das Redaktionssystem/CMS gewechselt. Dabei ist aber wohl einiges schiefgelaufen. Zumindest aus meiner Sicht ist die neue Gestaltung ausgesprochen mangelhaft (bei einigen guten Ansätzen). Ich lese die SZ täglich im Abonnement auf dem Tablet und habe mal aufgeschrieben, was mir direkt ins Auge gefallen ist.
Ein neues Layout und neues Redaktionssystem (also andere Software), aber für einen Typographen oder Schriftsetzer (oder überhaupt jemanden, der nur ein bisschen Ahnung von Textsatz und ‑gestaltung hat), reichte es offenbar nicht mehr.
Schon beim ersten Lesen auf dem Tablet gleich aufgefallen sind mir (und da bin ich noch nicht mal auf Fehlersuche gegangen):
Es gibt keine Silbentrennung, dafür aber katastrophale Löcher im Flattersatz der nicht sehr breiten Textspalten. Dabei gibt es doch inzwischen sehr gute automatische Silbentrennungen, die ohne manuelle Eingriffe (nahezu) fehlerfrei arbeiten.
Dafür werden Zahlen wie 150.000 jetzt gnadenlos getrennt, weil die Tausenderstelle hier wohl ein gewöhnliches Leerzeichen ist. Das ist ein erbärmlicher Anfängerfehler, der das Lesen sehr erschwert.
Es gibt keine richtigen Anführungszeichen (die im Deutschen normalerweise zu Anfang unten, zu Ende oben stehen und nicht das Zoll-Zeichen benutzen), weder in Überschriften noch im Text. Das ist einfach sehr unschön.
Ein verwandtes Problem: Auch der verwendete Apostroph ist sehr blockig.
Es gibt keinen Gedankenstrich (Halbgeviertstrich), sondern nur Binde-/Trennungsstriche — zumindest wird der Halbgeviertstrich nicht genutzt, weder bei der Trennung der Ortsmarke vom Text noch bei den typischen Fällen im Satz.
Die kursive Schrift wirkt im Text zugleich angefettet.
Meines Erachtens ist die ausgewählte Schriftart für die Ressortüberschriften für diesen Zweck ungeeignet und wirkt seltsam (gerade in Verbindung mit den anderen verwendeten Schriften), aber das ist auch eine Geschmacksfrage.
Immerhin sind die Buch-Übersichten (die Ressortseiten) nun deutlich besser strukturiert. Vor allem zeigen sie endlich die Autor*innen nicht nur bei wenigen, sondern allen Artikeln (außer bei reinen Meldungen, das ist ja sinnvoll) und sind durch die Striche besser in sinnhafte Abschnitte gegliedert. Auch die Reihenfolge der Artikel ist jetzt konsistenter zwischen Ressortübersicht und Artikelansicht (das war vorher nicht immer so, sondern schien manchmal Glückssache).
Aber als Ganzes ist das ziemlich unwürdig für ein Unternehmen dieser Größe. Es scheint fast so, als hätte das niemand mal vorher getestet ;-) Man könnte also sagen, die “Süddeutsche Zeitung” ist mit dieser Missachtung gestalterischer Grundregeln mit der Zeit gegangen …
Verlebendigung. Zweite These zur Geschichtskultur | Mein Jahr mit Luther → achim landwehr über die personenfixierte verlebendigung der geschichtskultur: Der Zweck der Personalisierung und Verlebendigung innerhalb der Geschichtskultur ist eben, dasjenige zu verlebendigen und zu personalisieren, was wir gemeinhin als ‚die Geschichte‘ bezeichnen und was uns in seiner monumentalen Übermächtigkeit derart zu überragen scheint, dass wir ihm nicht zuletzt auf dem Weg konkreter Lebensgeschichten von konkreten Menschen nahezukommen versuchen. […] Was daran so problematisch anmuten muss, ist die Erzeugung einer nahezu magischen Illusion, der Vorstellung nämlich, der Unterschied zwischen Jetzt und Früher ließe sich unproblematisch auflösen. Nichts anderes soll die Verlebendigung bewerkstelligen: so zu tun, als sei die Vergangenheit auf unmittelbare Weise wieder gegenwärtig zu machen.
Fleuron → coole sache: eine datenbank von ornamenten des buchdrucks des 18. jahrhunderts
Fleuron is a database of eighteenth-century printers’ ornaments. Eighteenth-century books were highly decorated and decorative. Their pages were adorned with ornaments that ranged from small floral embellishments to large and intricate head- and tailpieces, depicting all manner of people, places, and things. Fleuron includes ornaments cut by hand in blocks of wood or metal, as well as cast ornaments, engravings, and fleurons (ornamental typography).
Printers’ ornaments are of interest to historians from many disciplines (learn more here), not least for their importance as examples of early graphic design and craftsmanship. These miniature works of art can help solve the mysteries of the book trade, and they can be used to detect piracy and fraud.
What this all means is that the IoT will remain insecure unless government steps in and fixes the problem. When we have market failures, government is the only solution. The government could impose security regulations on IoT manufacturers, forcing them to make their devices secure even though their customers don’t care. They could impose liabilities on manufacturers … we need to build an internet that is resilient against attacks like this. But that’s a long time coming.
Weimarer Republik: Hatte Weimar eine Chance? | ZEIT ONLINE → die “zeit” stellt zwei bewertungen der weimarer republik gegenüber — von tim b. müller und andreas wirsching. interessant die unterschiede (müller wiederholt, was er seit zwei jahren auf allen kanälen mitteilt …), aber auch die gemeinsamkeiten. und vielleicht sollte man die beiden ansätze/bewertungen überhaupt gar nicht so sehr als gegensätze, sondern als ergänzungen betrachten …
In JPod lässt Douglas Coupland (der im Buch als er selbst auch immer wieder auftaucht) seinen Ich-Erzähler Ethan beobachten und sagen:
I’ve come to the conclusion that documents are thirty-four percent more boring when presented in the Courier font.
Und, wie in diesem Text nicht anders zu erwarten (der gerne mit typographischen Mustern spielt und das traditionelle Erzählen reichlich ausreizt), folgt gleich ein Beispiel. Das sieht in meiner Ausgabe (Bloomsbury Paperback, 2007) so aus:
Farm to Fable | Tampa Bay Times → ein interessanter und aufwendig recherchierter, aber sehr langer (und bisweilen arg langatmiger) text der restaurantkritikerin der “tampa bay times” in florida über die lügen der gastronomie, was “local” (in deutschland eher: regional) zutaten (und herkunftsangaben überhaupt) angeht. auf den punkt gebracht:
If you eat food, you are being lied to every day.
(es gibt aber auch positive beispiele …)
Biller unread | der Freitag → michael angele vom “freitag” schreibt eine sammelrezensension der kritiken von billers “biografie”
So bildete sich mir beim Lesen ein eigener kleiner Roman über einen Kritiker, was will man mehr.
Exit-Strategie: Herrndorfs Revolver | FAS → julia encke hat sich im literaturarchiv marbach die waffe von wolfgang herrndorf zeigen lassen und erzählt für die “fas” die geschichte, wie sie dorthin kam
Doch ist die eigentliche Pointe vielleicht eine ganz andere. Denn von Wolfgang Herrndorf liegt hier in Marbach jetzt nur der Revolver und kein Manuskript, keine Skizze, keine handschriftlichen Notizen. Nur die Reliquie sozusagen, aber nicht die Schrift. Wer „Arbeit und Struktur“ liest — dieses überwältigende Buch mit zwei Protagonisten: Wolfgang Herrndorf und seine Waffe -, der kennt auch die Passagen, in denen der Autor seine Abneigung gegenüber Germanisten ziemlich deutlich zum Ausdruck bringt. Dass die Germanisten jetzt nur das Werkzeug der Beendigung des Schreibens in die Hände bekommen und nicht den Text selbst, das hätte ihm möglicherweise gefallen. Es passt jedenfalls zu der Art von Scherzen, die Wolfgang Herrndorf mochte.
Sein eigenes multimediales, Gattungsgrenzen sprengendes Schaffen aber lässt sich kaum auf den Punkt bringen. Jedenfalls hat er — wie sein Freund Dieter Schnebel es treffend sagte — nie “normale” Musik geschrieben.
Aldis final Discountdown | Krautreporter → peer schader über den “strategiewechsel” bei aldi und die damit einhergehenden probleme für händler, hersteller und kunden
Naturschutz: Was ist nur aus uns geworden? | Zeit → haral welzer ist etwas ratlos — all das grüne leben, das bemühen um nachhaltigkeit und ökologie — es scheint nichts zu nutzen, weil das “immer mehr” aus dem kapitalisten system offenbar nicht wegzubekommen ist …
Der Preis für das so perfekt funktionierende Bündnis zwischen Ökobesorgnis und Normalwirtschaft ist hoch: Nicht nur klafft heute zwischen der ausgebauten Expertokratie in Ministerien, Universitäten, Nichtregierungsorganisationen und Umweltverbänden und ‑räten aller Art und der bunten, aber eher staatsfernen und entpolitisierten Graswurzelaktivisten-Szene eine große gesellschaftspolitische Lücke, auch ist den Grünen ihr Markenkern abhandengekommen, seit die ganze Gesellschaft symbolisch ergrünt ist.
Das wirkt sich umso dramatischer aus, als die Folgen einer fortgesetzten Naturzerstörung heute immer deutlicher werden – bis hin zu den sozialen Folgen in Gestalt von Flucht und Vertreibung. Eine Weile lang hat die Ökobewegung als Modernisierungsimpuls für eine moderne Gesellschaft gewirkt, die so etwas regelmäßig braucht, um neue Märkte, Produkte und Bedürfnisse zu erschließen. Aber in dieser Modernisierung hat sie sich selbst weitgehend verloren. Ivan Illich hatte auf Selbstbegrenzung bestanden, weil es keiner noch so effizienzgeschärften Produktivität jemals gelingen könne, “die nach Belieben geschaffenen und multiplizierten Bedürfnisse zu befriedigen”. Wohl wahr. Aber Selbstbegrenzung ist einem System wesensfremd, dessen Erfolgsrezept gerade darin liegt, unablässig natürliche Grenzen zu überschreiten.
Viel zu lange gewartet mit der nächsten Aus-Lese, deswegen ist das jetzt eine Auslese der Aus-Lese …
Friedrich Forssman: Wie ich Bücher gestalte. Göttingen: Wallstein 2015 (Ästhetik des Buches, 6). 79 Seiten.
„Ein Buch ist schön, wenn die Gestaltung zum Inhalt paßt.“ (71) — in diesem kleinen, harmlosen Satz steckt eigentlich schon das gesamte gestalterische Credo Forssmans (dessen Name ich immer erst beim zweiten Versuch richtig schreibe …) drin. Forssman, als Gestalter und Setzer der Spätwerke Arno Schmidts schon fast eine Legende, inzwischen auch durch die Neugestaltung der Reclamschen “Universal Bibliothek” in fast allen Händen, will in diesem kleinen Büchlein — 79 Seiten sind nicht viel, wenn es um Buchgestaltung, Typographie, Herstellung und all das drumherum gehen soll — zeigen, wie er selbst Bücher gestaltet, das heißt, nach welchen Kriterien er arbeitet. Ein Werkstattbericht soll das sein — und das ist es auch, nicht nur, weil es so aussieht.
Locker plaudert er, könnte man sagen, über die Arbeit an der Herstellung eines Buches. Das betrifft letztlich all die Aspekte, die über den “reinen” Text als Inhalt hinausgehen: Typographie, Satz, Format, Herstellung, Umschlag und vieles mehr. Forssman plaudert, sage ich, weil er sich dezidiert als Theorie-Verächter darstellt. Letztlich sind das alles Regel- und Geschmackfragen: Ein Buch ist schön, wenn es gut ist — und es ist gut, wenn es schön ist. Viel mehr steckt da eigentlich nicht dahinter. Forssman sieht Buchgestaltung ausdrücklich als Kunsthandwerk, das bestimmten Regeln gehorcht. Die — und den guten Geschmack bei der Beurteilung ihrer Anwendung — lernt man, indem man andere Bücher der Vergangenheit (und Gegenwart) anschaut und studiert. Freiheit und Tradition bzw. Regel sind die Pole, zwischen denen jeder Kunsthandwerker sich immer wieder verortet. Beim Lesen klingt das oft traditioneller und langweiliger, als Forsmanns Bücher dann sind. Das liegt wahrscheinlich nicht zuletzt daran, dass er sehr stark auf eine ausgefeilte und konsequente Durchgestaltung des gesamten Buches Wert legt — vom Bindungsleim bis zur korrekten Form der An- und Abführungsstriche hat er alles im Blick. Und, darauf weist er auch immer wieder hin, Regelhaftigkeit und Tradition heißt ja nicht, dass alles vorgegeben ist: Es gibt Freiheitsgrade, die zu nutzen im Sinne einer Interpretation des vorliegenden Textes die Aufgabe des Buchgestalters ist. Und dabei gilt dann doch wieder:
Die Beweislast liegt immer beim Veränderer, in der Typographie erst recht. (42)
Ilija Trojanow: Macht und Widerstand. Frankfurt am Main: Fischer. 479 Seiten.
Ein ganz schöner Brocken, und ein ganz schön heftiger dazu. Nicht wegen der literarirschen Form, sondern wegen des Inhalts — der ist nicht immer leicht verdaulich. Es geht um Bulgarien unter sozialistischer/kommunistischer Herrschaft, genauer gesagt, um die “Arbeit” und die Verbrechen der Staatssicherheit. Das erzählt Trojanow auf der Grundlage von Archivakten, die zum Teil auch ihren Weg ins Buch gefunden haben (seltsamerweise werden sie — und nur sie — in kleinschreibung angekündigt …). Trojanow konstruiert eine Geschichte aus zwei Polen — Macht und Widerstand natürlich — die sich in zwei Männern niederschlagen und recht eigentlich, das wird ganz schnell klar, personifizieren. Die sind dadurch für meinen Geschmack manchmal etwas eindimensional geworden: Der eine ist eben die mehr oder weniger reine Verkörperung des Prinzipes Widerstand, der anderen der Macht (bzw. des prinzipienlosen Opportunismus). In abwechselnden Kapiteln wechselt auch immer die Perspektive entsprechend. Geschickt gelingt Trojanow dabei ein harmonischer Aufbau, der Informationen sehr harmonisch und allmählich weitergibt. Seinen hauptsächlichen Reiz zieht Macht und Widerstand vielleicht aber doch daraus, dass es sozusagen Literatur mit Wahrheitsanspruch ist, den Fiktionalitätspakt also aufkündigt (und daran im Text durch die eingestreuten Aktenübersetzungen, die sonst für den literarischen Text wenig tun, immer wieder erinnert). Das macht die Bewertung aber zugleich etwas schwierig: Als rein literarischer Text überzeugt es mich nicht, in seiner Doppelfunktion als Literatur und historisch-politische Aufklärung ist es dagegen großartig.
John Hirst: Die kürzeste Geschichte Europas. Hamburg: Atlantik 2015. 206 Seiten.
Eine interessante Lektüre bietet diese Geschichte Europas, sie ist durchaus erfrischend, die extreme Verknappung. Aber halt auch immer wieder problematisch — vieles fehlt, vieles ist ungenau bis fehlerhaft. Aber um Vollständigkeit (der behandelten Themen oder der Darstellung) kann es in einer “kürzesten Geschichte” natürlich überhaupt nicht gehen.
Hirst geht es im ersten Teil — „Die kürzeste Version der Geschichte“ überschrieben — vor allem um die Formierung Europas: Wie wurde Europa das, was es heute ist (oder vor wenigen Jahren war)? Er stützt sich dabei vor allem auf drei Phänomene und siedelt das maßgeblich im Übergang von Antike zu Mittelalter an: Europa ist die Verbindung von der „Kultur des antiken Griechenlands und Roms“, dem Christentum und der „Kultur der germanischen Krieger“. Immer wieder betont er, dass Europa als Idee und Gestalt eben maßgeblich eine Mischung sei. Und die versteht man nur, wenn man ihre Genese im Blick hat (das alles gilt übrigens für ihn bis in die Jetztzeit — ich bin mir nicht sicher, ob er dabei nicht doch die Macht & Notwendigkeit der Geschichte überschätzt …): Nur mit Kenntnis dieser Wurzeln versteht man also die Gegenwart. Er fasst seine Überlegungen zum Zusammenwirken seiner Grundfaktoren immer wieder in schönen Diagrammen zusammen, die dann zum Beispiel so aussehen:
(Seite 31)
(Seite 61)
Die ersten Teile — wo es um die eigentliche Geschichte und Formierung Europas als Europa geht — sind dabei gar nicht so schlecht: Natürlich ist das alles sehr verkürzt, aber übrigens auch gut lesbar. Danach, wo es unter Überschriften wie „Einfälle und Eroberungen“, „Staatsformen“, „Kaiser und Päpste“ um Linien und Tendenzen der europäischen Geschichte in Mittelalter und Neuzeit geht, wird es für meinen Geschmack aber zu episodisch und auch historisch oft zu ungenau. In der Konzeption fehlt mir zu viel Kultur und Kulturgeschichte: Hirst geht weitestgehend von klassischer politischer Geschichte aus, ergänzt das noch um etwas Philosophie und ein bisschen Religion. Und: Hirst denkt für meinen Geschmack auch zu sehr in modernen Begriffen, was manchmal zu schiefen Bewertungen führt (übrigens auch anderen bei Historikern (immer noch) ein beliebter Fehler …)
Manche Wertung und Einschätzung stößt bei mir auf größeren Widerstand. Manchmal aber auch einfaches handwerkliches Pfuschen, wenn Hirst etwa Davids Zeichnung „Schwur im Ballhaus“ unhinterfragt als getreues Abbild einer wirklichen Handlung am Beginn der Französischen Revolution liest und interpretiert (dass er den Leser sonst mit Quellen nicht weiter behelligt, ist natürlich dem Format geschuldet). Seltsam fand ich auch sein Bild der mittelalterlichen Kirche vor Gregor VII und ihr Verhältnis zur Politik: „Örtliche Machthaber und die Monarchen Europas hatten sie [die Kirche] untergraben, schlechtgemacht und ausgeplündert.“ (149) — eindeutiger kann man kaum Position beziehen …
Damit ist Hirst insgesamt also sicher nicht die letzte Autorität zur Geschichte Europas, nichtsdestotrotz aber durchaus eine stimulierende Lektüre. So weit wie Gustav Seibt, der das in der SZ ein “Meisterwerk der Vereinfachung” nannte, würde ich allerdings nicht gehen.
Roland Barthes: Der Eiffelturm. Berlin: Suhrkamp 2015. 80 Seiten.
Zum 100. Geburtstag des großen Roland Barthes hat Suhrkamp seinen kleinen Text über den Pariser Eiffelturm in einem schön gemachten Büchlein mit ergänzenden Fotos veröffentlicht (das bei mir allerdings schon beim ersten Lesen zerfiel …). Barthes untersucht nicht nur, was der Eiffelturm eigentlich ist — nämlich ein (annähernd) leeres Zeichen -, sondern vor allem, was er bedeutet und was er mit Paris und dem Beobachter oder besser Betrachter macht. So konstatiert er unter anderem, dass der Eiffelturm einen neuen Blick (aus der Höhe eben) auf die Stadt als neue Natur, als menschlichen Raum ermöglicht und eröffnet. Und damit ist der Eiffelturm für Barthes die Materialisation dessen, was die Literatur im 19. Jahrhundert schon längst geleistet hatte, nämlich die Ermöglichung, die Struktur der Dinge (als “konkrete Abstraktion”) zu sehen und zu entziffern. Der besondere Kniff des Eiffelturms besteht und darin, dass er — im Unterschied zu anderen Türmen und Monumenten — kein Innen hat: „Den Eiffelturm besichtigen heißt sich zu seinem Parasiten, nicht aber zu seinem Erforscher machen.“ (37), man gleitet immer nur auf seiner Oberfläche.
Damit und durch die Etablierung eines neuen Materials — dem Eisen statt dem Stein — verkörpert der Eiffelturm einen neuen Wert — den der funktionellen Schönheit. Gerade durch seine Nutzlosigkeit (die ihn vor seiner Erbauung so suspekt machte) befähigt ihn besonders — weil keine tatsächliche Nutzung sich mit einmengt -, zum Symbol der Stadt Paris zu werden: “Der Eiffelturm ist durch Metonymie Paris geworden.” (51) — und mehr noch, er ist “die ungehemmte Metapher” überhaupt: “Blick, Objekt, Symbol, der Eiffelturm ist alles, was der Mensch in ihn hineinlegt.” (63). Genau das ist es natürlich, was ihn für den strukturalistischen Semiotiker Barthes so interessant und anziehend macht. Und diese Faszination des Autors merkt man dem Text immer wieder an.
Michael Fehr: Simeliberg. 3. Auflage. Luzern: Der gesunde Menschenversand 2015. 139 Seiten.
Grau nass trüb ein Schweizer Wetter ziemlich ab vom Schuss (5)
- so fängt das “Satzgewitter” von Michael FehrsSimeliberg an. Die Methode bleibt über die fast 140 Seiten gleich: Die Sätze der harten, schweizerisch gefärbten Prosa werden durch ihre Anordnung der Lyrik angenähert (das typographische Dispositiv ist sogar ganz unverfälscht das der Lyrik), statt Satzzeichen benutzt Fehr Zeilenumbrüche. Diese zeilenweise Isolierung von Satzteilen und Teilsätzen verleiht dem Text nicht nur eine eigenartige Gestalt, sondern auch ein ganz eigenes Leseerlebnis: Das ist im Kern “echte” Prosa, die durch ihre Anordnung aber leicht wird, den Boden unter den Füßen verliert, ihre Festigkeit und Sicherheit (auch im Bedeuten und Meinen) aufgegeben hat: Sicher im Sinne von unverrückt und wahr ist hier kaum etwas, die Form lässt alles offen. Dabei ist die erzählte Geschichte in ihrem Krimicharakter (der freilich keine “Auflösung” erfährt) beinahe harmlos: Ein abgelegener Hof, seltsame Todesfälle, eine gigantische Explosion, eine Untersuchung, die Konfrontation von Dorf und Stadt, von Einheimischen und Zugezogenen. Genau wie die Geschichte bleibt alles im Ungefähren, im Düsteren und Schlammigen — die Figuren sind Schattenrisse, ihre Motivation wie ihre Sprache bruchstückhaft. Und genau wie die Menschen (fast) alle seltsame Sonderlinge sind, ist auch der Text sonderbar — aber eben sonderbar faszinierend, vielleicht gerade durch seine Härte und die abgründige Dunkelheit, die er ausstrahlt. Und die Fehr weder mildern will noch kann durch eine “angenehmere”, das heißt den Lesererwartungen mehr entsprechende, Erzählweise.
Auch wieder ein nettes, sympathisches Büchlein: In über 60 kurzen Geschichten, Anekdoten, Skizzen hinterfragt Henrici (den man sich wohl als alter ego des Literaturwissenschaftlers Frey vorstellen darf) den Alltag der Gegenwart, unser Tun und unser Sprechen. Das ist einfach schön verspielt, verliebt ins Spielen, genauer gesagt, ins Wortspiel: Durch das spielerische Arbeiten mit gedankenlos geäußerten Worten und Sätzen, mit Gemeinplätzen, hinsichtlich ihres Klanges und ihrer Semantik bringt Frey immer wieder die Bedeutungen zum Tanzen. Das sind oft oder sogar überwiegend gar keine weltverändernden Beobachtungen, die diese Miniaturen erzählen. Aber sie haben die Kraft, das Alltägliche, das Normale, das man immer wieder als Gegeben unhinterfragt einfach so hinnimmt und weiterführt, für die Beobachtung und Inspektion zu öffnen: Denn im spielerischen Verdrehen der Worte zeigt Frey immer wieder, was die eigentlich leisten (können), wenn man sie nicht bloß unbedacht äußert, sondern auch in banalen Situationen auf ihre Möglichkeiten und Bedeutungen abklopft — da kommt Erstaunliches, oft ausgesprochen Komisches dabei heraus. Eine sehr sympathische (und leicht zugängliche) Art des (Sprach)Philosophierens …
Zu diesem ganz wunderbaren Büchlein mit dem zauberhaften Titel Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung von Titus Meyer, das voller faszinierend artistischer Sprachkunstwerke steckt, habe ich schon vor einiger Zeit ein paar Sätze verloren: klick.
Wolfgang Herrndorf: Bilder deiner großen Liebe. Ein unvollendeter Roman. Herausgegeben von Kathrin Passig und Marcus Gärtner. RM Buch und Medien 2015. 141 Seiten.
Bilder deiner großen Liebe ist ein unveröffentlichtes und auch unfertiges Manuskript aus dem Nachlass Wolfgang Herrndorfs, das Kathrin Passig und Marcus Gärtner (die mit Herrndorf eng bekannt/befreundet waren) zur Veröffentlichung “arrangiert” haben. Denn das vorhandene Textmaterial setzt an verschiedenen Stellen des geplanten Romans an und ist auch unterschiedlich stark ausgearbeitet. Das merkt man auch beim Lesen — einiges passt (etwa chronologisch und topographisch) nicht zusammen, an einigen Stellen brechen Episoden mit Stichworten oder Halbsätzen ab. Trotzdem liest man eben Herrndorf: Wieder eine Art Road-Novel, diesmal von der “verrückten” Isa auf ihrem Weg durch das Land berichtend, wobei sie einige spannende Begegnungen erlebt. Ein sehr bunter, etwas chaotischer und deutlich unfertiger Text — ich bin mir nicht sicher, ob Herrndorf damit ein Gefallen getan wurde, das noch zu veröffentlichen. Sicher, das ist nett zu lesen. Aber in dieser Form ist es eben überhaupt nicht auf der Ebene, auf der Herrndorfs andere Texte angesiedelt sind. Für Herrndorf-Fans sicher ein Muss, die anderen können das ohne großen Verlust auslassen.
Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert. (7)
außerdem noch gelesen:
Iris Hanika: Wie der Müll geordnet wird. Graz, Wien: Droschl 2015. 298 Seiten.
Ulrike Almut Sandig: Grimm. Gedichte. Nach den Kinder- und Hausmärchen von Jacob und Wilhelm Grimm, hg. von Brigitte Labs-Ehlert. Detmold: Wege durch das Land 2015 (Wege durch das Land 23). 32 Seiten.
Urs Faes: Und Ruth. Frankfurt am Main, Wien, Zürich: Büchergilde Gutenberg 2001 [Suhrkamp 2001]. 181 Seiten.
Monique Schwitter: Eins im Andern. 5. Auflage. Graz: Droschl 2015. 232 Seiten.
Thomas Melle: Raumforderung. Erzählungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007. 200 Seiten.
Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard. Eine Biografie. Wien: Residenz Verlag 2015. 452 Seiten.
Peter Stamm: Nacht ist der Tag. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2014. 253 Seiten.
The experience was like having your forebrain slowly and laboriously beaten to death by a wilting erection wrapped in a copy of the Patriot Act: savage and silly and just a little bit pathetic.
sie bleibt aber nicht bei der persönlichen abscheu, sondern zeigt meines erachtens (aber ich bin ja auch kein bond-kenner) sehr gut, warum die bond-figur (heute) problematisch ist:
The problem with Bond is that he is supposed to be the good guy. He is a borderline rapist who is employed by the government to murder people – and yet he is not an anti-hero. He is just a hero. … Bond is a hero for no other reason than that he is on our side, which is how most western nations and particularly the British come to terms with their particular legacy of horror – with a quiet embarrassment that nonetheless knows how to defend itself by force. […] James Bond, more than anything, is a tragic figure and his tragedy is the tragedy of white, imperialist masculinity in the 21st century. It is a tragedy of irrelevance that becomes all the more poignant and painful in the retelling.
Es gibt das Bedürfnis der Literaturkritik und der Öffentlichkeit nach Welterklärung beziehungsweise nach Auffächerung von Erfahrungen, die man sonst nur aus den Medien kennt. An die Literatur wird eine Aufgabe delegiert, die möglicherweise nicht unbedingt eine genuin literarische Funktion ist. […] Das Moment von Utopie ist mit einem philosophischen Begriff von Geschichte verbunden, und der ist uns verloren gegangen. Wir sehen uns nur noch mit der Empirie der Probleme konfrontiert und versuchen, sie praktisch zu lösen, aber wir haben keinen Entwurf von Zukunft mehr, der die Erfahrungen der Vergangenheit aufnehmen und verwandeln würde, um zu einem anderen Begriff der Zukunft zu kommen als dem, dass die Häuser gedämmt werden.
sehr schön deutlich werden auch die verschiedenen arten, “politisch” zu denken als literatin — bei peltzer z.b. immer ins philosophisch-historische gehend oder bei erpenbeck vom persönlich-individuellen erlebnis aus
Es war ein Bankraub von innen. sehr schöne reportage von marc brost & andreas veiel über macht und verantwortung, ethik, gier und konkurrenz auf den höchsten ebenen der wirtschaft — hier am beispiel der deutschen bank (sehr schön auch, dass sie zeigen, dass das alles selbst auf betriebswirtschaftlicher ebene (von der volkswirtschaftlichen ganz zu schweigen) unsinnig war/ist)
Gestern wettern, heute bejubeln ‒ einer immerhin, Michael Angele vom „Freitag“, hat den pünktlichen Kurswechsel vermerkt, auf Facebook. Soll man es damit bewenden lassen? Ungern. Das Problem ist, wie Weidermann die Kurve kriegen will. Gebetsmühlenartig von Intensität und Kraft schwärmen, aber den Aggressionspegel von „Johann Holtrop“ ein bisschen bekritteln, als sei er ein Ausreißer ‒ das ist wie Willy Brandt hervorragend finden, bis auf Emigration und Ostpolitik. Absurd, weil Intensität und Polemik bei Goetz natürlich stets zusammengehören.
Der Reihungskünstler — konkret — joseph wälzholz zeigt die rhetorischen kniffe volker weidermanns (bei ein paar begriffen musste ich wirklich überlegen …)
Ein genialer Rhetoriker: Niemand setzt hochkomplizierte Stilmittel so virtuos ein wie der Feuilletonist Volker Weidermann. Eine Collage in 19 Motiven und 79 Fußnoten.
Vom Fehlen des Widerständigen. Weitere Gedanken über Ferneyhough. — moritz eggert über ferneyhoughs musik und den unterschiede zwischen partitur (aufregend, komplex) und klang (nicht immer überwältigend …) — zu den partituren hat er kürzlich schon etwas gebloggt: http://blogs.nmz.de/badblog/2015/10/19/die-quadratur-der-linie-ein-neuer-blick-auf-das-werk-von-brian-ferneyhough/
Neonazis: Heidi und die Brandstifter | ZEIT ONLINE — interessante, gute, packende reportage von daniel müller & christian fuchs über eine im neonazi-familien-milieu sozialisierte junge frau, die sich von dieser ideologie inzwischen abgewandt hat
Sie stammt aus einer Familie von treuen Nazis, als Kind wurde sie in geheimen Lagern gedrillt. Ihre früheren Kameraden zündeln heute bei NPD und Pegida. Heidi Benneckenstein hat sich anders entschieden.
Stadt Wien veröffentlicht positive Sharrow-Studie | It started with a fight… — die stadt wien hat an drei wichtigen, verkehrsstarken straßen untersucht, wie aufgemalte fahrradpiktogramme (mit pfeil), die sogenannten “sharrows”, sich auch ohne weitere veränderungen des verkehrsraums ausgesprochen günstig für radfahrerinnen auswirken:
Diese Studie „Wirkung von Fahrrad-Piktogrammen im Straßenverkehr“ […] zeigt sehr positive Ergebnisse: Gesteigerte Sicherheit des Rad- und Autoverkehrs durch verbesserte Interaktion, Abnahme der Überholvorgänge und größeren Sicherheitsabstand der Autos beim Überholen.
1001 Dinge | Schmalenstroer.net — eine liste von listen, die man lebendig abarbeiten “muss”, von einem listenhasser …
Erstens: Die Gründe, warum solche Personen kurzzeitig oder für immer von der Bühne verschwinden, sind meist triviales NS-Wording. Zweitens: Es trifft in aller Regel die Richtigen. Drittens: Indem man es sich aber so einfach macht, gibt man ihnen und ihren Unterstützern die Rolle, die sie so gerne einnehmen, nämlich die des unterdrückten Querdenkers. Was sie, viertens, niemals sind.
Kolumne Besser: Wie der Herr, so’s Gescherr — taz.de — das gibt’s auch nicht jeden tag: dass ich deniz yücel zustimme und seinen text auch noch gut finde. dank “pegida”-blödsinn ist’s möglich (und nötig!) — also lesen!:
Pegida findet die „Lügenpresse“ doof, die „Lügenpresse“ findet Pegida doof. Aber es gibt Ausnahmen: Stephan, Weimer, Matussek, Broder, di Lorenzo.
Was lernen wir aus diesem ansonsten gänzlich zu vernachlässigenden Beitrag?
Missbrauche nicht die Vergangenheit in vereinfachender und verfälschender Form für billige politische Anliegen der Gegenwart. Wenn du schon von dieser Vergangenheit erzählst, dann tue es in möglicher komplexer, möglichst zahlreiche Aspekte berücksichtigender Form. Wenn du schon einen Artikel schreibst, in dem billige Ressentiments gegen Andere bedient werden, dann schreibe wenigstens einen guten Artikel. Üble Beiträge mit üblen Inhalten sind eine doppelte Beleidigung. Wenn du etwas aus Lepanto lernen willst, dann lerne dies: Es ist wirklich für alle Beteiligten besser, auf gegenseitige Anerkennung und Zusammenarbeit zu setzen als auf gegenseitiges Abschlachten.
Muss man so etwas wirklich noch hinschreiben?
Kraut von Rüben sortiert – Krautreporter durchgezählt | Verwickeltes — marc mit einigen interessanten beobachtungen und bemerkungen zu den “krautreportern”. einiges deckt sich mit meiner eigenen erfahrung — etwa das genervtsein von den tilo-jung-plauderstündchen. jedenfalls haben es die “krautreportern”, denen ich ja gerne geld bezahlt habe (und so arg viel war es ja auch gar nicht) noch nicht geschafft, zu einem wichtigen teil meines medienkonsums zu werden — ich vergesse immer mal wieder, das zu checken …
Das Auge liest mit — Nur wenige Literaten nutzen die Oberfläche ihrer Texte als eigenständige Ausdrucksform oder machen sich die Mühe, die materielle Grundlage ihrer Texte — die Schrift – zu reflektieren. — feature von jochen meißner, ca. 54 minuten
French economist Thomas Piketty has spurned the Legion of Honour, the country’s highest distinction, on the grounds that the government should not decide who is honourable.
Mehr Sozialismus, mehr Mitbestimmung, kleinere Firmen und die Schwächung des Finanzkapitals zugunsten produktiver Arbeit. Wir benötigen alternative Managementmodelle, die auf eine kontinuierliche (Weiter-)Entwicklung der Menschen setzen. Das Problem, mit dem wir es im modernen Kapitalismus zu tun haben, ist die Manipulation der Zeit.
und am schluss empfiehlt er das grundeinkommen als lösung:
Meiner Auffassung nach wäre die Einführung eines existenzsichernden Grundeinkommens eine Erfolg versprechende Herangehensweise. Man versucht, die vorhandene Arbeit zu bestimmen, um sie dann unter zwei oder drei Leuten zu verteilen. Diese werden als Teilzeitkräfte bezahlt. Der Staat gibt ihnen dann zusätzlich ein Grundeinkommen, um den Unterschied auszugleichen.
Radfahrer machen eine Stadt erst richtig lebendig. Man sieht Gesichter auf der Straße, und nicht nur hinter Windschutzscheiben. Die Stadt wird als menschenfreundlich wahrgenommen und dadurch attraktiv.
Mit dieser Ausstellung hat die Rezeption der Widerstandsgeschichte einen vorläufigen Schlusspunkt gefunden, oder anders gesagt: Die Wahrheit hat nach Jahrzehnten der Geschichtsklitterung, der offenen und verdeckten Einflussnahme von Politikern, Kirchenvertretern, ehemaligen Offizieren und, ja das auch, von Widerstandskämpfern und deren Angehörigen gesiegt. Es ist ein verdammt später Sieg, der wohl nur möglich wurde, weil die Tätergeneration nicht mehr unter den Lebenden weilt. Aber es ist doch ein historischer Sieg.