Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur. Berlin: Rowohlt 2013. 447 Seiten.
Das Blog von Wolfgang Herrndorf, eben “Arbeit und Struktur”, habe ich erst recht spät wahrgenommen und dann auch immer etwas gefremdelt. Hier, in seiner Ganzheit, wirkt das sehr anders. Und jetzt ist Herrndorfs Weblog “Arbeit und Struktur” wirklich so großartig, wie es viele Rezensenten beschreiben. Aber nicht, weil es so besonders direkt und “authentisch” ist (das ist es nicht, es ist Literatur und sorgfältig bearbeitet), sondern weil es den Eindruck von Ehrlichkeit und skrutinöser Selbstbefragung vermitteln kann — gerade in den schwierigen Situationen, z.B. dem Empfang der Diagnose, den Berechnungen der verbleibenden Lebenszeit. Und weil es schonungslos die Schwierigkeiten recht unmittelbar darstellt. Etwa auch die Verzweiflung, dass es in Deutschland kaum möglich ist, als todkranker Mensch sein Lebensende wirklich selbst zu bestimmen. Schon früh tauchen die Überlegungen zu einer “Exitstrategie” (79) auf. Deutlich merkt man aber auch einen Wandel in den drei Jahren: vom lockeren (beinahe …) Anfang, als Herrndorf sich vor allem in die Arbeit (an Tschick und Sand) flüchtet, hin zum bitteren, harten Ende. Das manifestiert sich auch in der Sprache, die dichter und härter, ja kantiger wird. Natürlich geht es hier oft um die Krankheit, den Hirntumor (die “Raumforderung”), aber nicht nur — er beschreibt auch die kleinen Siege des Alltags und die Segnungen der Arbeit, die poetischen Gedanken: “Arbeit und Struktur” dient auch als Form der Therapie, die manchmal selbst etwas manisch wird, manchmal aber auch nur Pflicht ist; ist aber zugleich auch eine poetische Arbeit mit den entsprechenden Folgen.
Ich erfinde nichts, ist alles, was ich sagen kann. Ich sammle, ich ordne, ich lasse aus. Im Überschwang spontaner Selbstdramatisierung erkennbar falsch und ungenau Beschriebenes wird oft erst im Nachhinein neu beschrieben. (292)
Ein großer Spaß, dieses Sterben. Nur das Warten nervt. (401)
Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahnsinn I. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012 (1983). 153 Seiten.
Den Klassiker der Diskurstheorie habe ich jetzt endlich auch mal gelesen — nicht so sehr um des Themas, also der Untersuchung der Erzählung der Befreiung der Sexualität, willen, sondern der Methode willen. Foucault zeigt ja hier, wie Machtstrukturen in Diskursen und Dispositiven sich realisieren, hier am Beispiel der Sexualität und der Entwicklung des Sprechens über sie, also der Regulierung von Sexualität in der Neuzeit Europas. Insbesondere die Ubiquität von Macht(strukturen) ist entscheidene, die auch nicht irgendwie zentral gesteuert sind (und gegenteilige Ergebnisse haben können: “Ironie dieses Dispositivs: es macht uns glauben, daß es darin um unsere ‚Befreiung‘ geht.” (153)).
Entscheidend ist hier ja Foucaults neuer Begriff von Macht, der über den Diskurs & nichtdiskursive Formationen geprägt ist. Dazu noch die Idee der Dispositive als Sammlung von Umsetzungsstrategien, die über Diskurse hinaus gehen und z.B. hier auch pädagogische oder architektonische Programme umfasst — das ergibt die Beobachtung der Macht von “unten”, die im Geständnis der Sexualität Verhaltensweisen und Ordnungen der Gesellschaft aushandelt.
Mara Genschel: Referenzfläche #3.
Dieses kleine, nur bei der Autorin selbst in limitierter Auflage zu bekommende Heft ist ein einzigartiges, großes, umfassendes Spiel mit Worten und Texten und Bedeutungen und Literatur oder “Literatur”: Zwischen Cut-Up, Montage, experimentell-avantgardistischer Lyrik, Ready-Mades und wahrscheinlich noch einem Dutzend anderer Künste vagabundieren die sprachspielerischen Text‑, Sprach‑, und Wortfetzen, die sich gegenseitig ergänzen, permutieren und variieren. Einige davon sind wirklich im wahrsten Sinne des Wortes Fetzen: Ausrisse aus anderen Texte, aus journalistischen oder handschriftlich-privaten Erzeugnissen, die hier montiert und geklebt sind. Manches hinterlässt einfach Ratlosigkeit, manches ruft ein amüsantes Augenbrauenheben hervor — und manche Seite begeistert einfach. Ob das Scharlatanerie oder Genialität ist — keine Ahnung, ehrlich gesagt. Langweilig ist es aber auf jeden Fall nicht.
Peter Handke: Die schönen Tage von Aranjuez. Ein Sommerdialog. Berlin: Suhrkamp 2012. 70 Seiten.
Ich habe oft solch eine Lust, zu erzählen, vor allem diese Erfahrung — diese Geschichte. Aber sowie ich bedrängt werde mit ‚Erzähl!‘: Vorbei der Schwung. (9)
Ein karges Stück, das allein von seiner Sprache lebt: “Ein Mann” und “Eine Frau” sitzen sich gegenüber und führen einen Dialog. Nun ja, sie reden beide, aber nicht immer miteinander. Offenbar gibt es vorher vereinbarte Regeln und Fragen, deren Verstöße manchmal moniert werden. Es geht um viel — um die Geschichte und Geschichten, ums Erzählen und die Erinnerung. Aber auch um Licht und Schatten, Anziehung, Geborgenheit und Entfremdung oder Ernüchterung, um Begehren und Liebe. Dahinter steht ein spielerisch-erzählerisch-tastendes Ausloten der Beziehung(smöglichkeiten) zwischen Mann und Frau. Das Ganze — es sind ja nur wenige Seiten — ist poetisiert bis zum geht nicht mehr. Genau darin aber ist es schön!
Zum Glück ist das hier zwischen uns beiden kein Drama. Nichts als ein Sommerdialog. (43)
Laß uns hier schweigen von Liebe. Höchsten vielleicht ein bißchen Melancholie im November.(49)