Ein schöner und guter Roman eines vergessenen Autors zu einem bekannten Thema. Ludwig Winder, in der Zwischenkriegszeit ein berühmter Autor und Journalist, hat mit dem “Franz-Ferdinand-Roman” Der Thronfolger ein richtig gutes Buch geschrieben, das leider lange Zeit ziemlich vergessen war. Der Wiener Zsolnay-Verlag hat es jetzt (mit einem Nachwort des Spezialisten Ulrich Weinzierl) neu aufgelegt — und so konnte ich auch diesem Roman, der 1937 das erste mal erschienen ist, kennen lernen.
Winder erzählt das Leben des Erzherzogs Franz Ferdinand trotz der ausführlichen Darstellung in strenger Chronologie des Lebens. Und weil er stilistisch dabei erstaunlich locker bleibt, lässt sich das trotz der etwas langatmigen Anlage und Struktur sehr gut lesen. Denn im Kern ist es eben ein starkes, lebendiges Porträt des Erzherzoges — der war ja, wenn man Winder glauben mag (und es gibt keinen Grund, das nicht zu tun), alles andere als ein leibenswürdiger Charakter: Spröde, harsch, krankhaft ehrgeizig und misstrauisch — ein Misanthrop reinsten Geblüts sozusagen. Die radikale personale Perspektive macht das zu einem dichten Porträt einer historischen Figur, ohne sie vorzuführen oder zu verurteilen. Interessant wird das auch dadurch, dass im Hintergrund des Textes immer die Frage mitschwingt: hätte die Geschichte nicht auch ganz anders ausgehen können? Das “faktische” Ende ist ja bekannt — hier wird aber immer wieder mit der Möglichkeit gespielt, dass die Geschichte des 20. Jahrhunderts in der Figur Franz Ferdinands auch andere Potenzen und Potenziale gehabt hätte — die aber ungenutzt bleiben (und vielleicht auch einfach bleiben müssen).
Unterdessen wurden in den Konferenzsälen der Generalstäbe, Ministerien und Botschaften, in den Salons der Munitionsfabrikanten, in den Schlössern und auf den Vergnügungsyachten der Staatsoberhäupter, in den Klubzimmern der Abgeordneten, in den Spielzimmern der Offizierskasinos, in den armen Mansardenkammern jugendlicher Verschwörer die Pläne ausgeheckt, die zum Kriege führen sollten. Leichtfertige Diplomaten, ehrgeizige Generäle, verbrecherische Geschäftemacher und halbwüchsige Patrioten, deren nationalistischer Rausch sich unversehens in Blutrauseh wandelte, arbeiteten einander in die Hände, ohne es zu wissen. Sie jagten einander Angst ein, um die Vernunft zu töten. Sie wollten die Welt mit Angst erfüllen, um die Verbrechen, die sie planten, zu entschuldigen. Sie sagten den Völkern, der Feind gönne ihnen das Leben nicht und wolle ihnen den Lebensraum verkürzen. Sie forderten den Feind heraus, den ersten Schuss abzugeben, das Signal zum großen Massenmord. Sie hatten Angst vor dem ersten Schuss, den sie inbrünstig ersehnten. (454)
Gute Gedichte scheinen mir das zu sein, der “Güte” schwer zu fassen sind: Da sind starke, anziehende Bilder, die ganz wunderbar selbstverständlich wirken. Da ist die Bewegung der Sprache, die sich ungehindert und wie von selbst enfaltet. Und das Fortschreiten im Text und der Welt, auch in der Zeit: immer weiter, nicht rasten, nicht ruhen … Da ist die szenische Narration, die immer wieder auftaucht. Die Reihung von kurzen Sequenzen, die geschnitten (Cut!) Bilder, die Realität und Sprache miteinander kommunizieren lassen (oder auch nicht), zumindest in Beziehung setzen, sie aufeinander treffen lassen. Schade nur, dass der Band von Dombrowski so kurz ist …
Archivare
Schiffe zu falten den Eisbären
dort unten
wo ihnen die Schollen
wegbrechen
haben
wir jetzt nicht
das PapierSo filmen wir
weiter ihr
polares Treiben
vom Hubschrauber aus (30)
Eine kuriose Erzählung eines kuriosen Geschehens der an Kuriositäten nicht gerade armen deutschen Geschichte: Der Erzähler triff auf die Geschichte, die sich in Form eines Art Führers und Erzählers sowie der traumhaften Vergegenständlichung der historischen Bauten und Ansichten darstellt und zeigt. Es geht um einen etwas ausgeflippten deutschen Herzog des 17. Jahrhundert, den Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, der nicht nur (extrem ausufernde) Romane schrieb, sondern auch als Feste-Arrangeur und Mäzen sein kleines HZerzogtümchen zu einem europäischen Zentrum der Künste und der repräsentativen Darstellung machen wollte — und damit so grandios und krachend scheitert, dass es Pleschinski wunderbaren Stoff zum Erzählen gibt. Und auf den wenigen Seiten macht er das ausgesprochen lebendig und sympathisch, mit raffinierten erzählerischen Volten, die dem Gegenstand des Illusionstheaters wunderbar angemessen sind — und zugleich ein Beispiel, wie man kunstvoll Geschichte (nach-)erzählen kann. Also: eine schöne, unterhaltende und auch belehrende Lektüre für zwischendurch (zumal das Büchlein bei Beck auch nett gemacht und um einige Kupferstichen ergänzt wurde).
Deutsches Barock ist den Deutschen am fremdesten, weil’s dort nicht mal um Gemütlichkeit ging (75)
Ein schönes und gelungenes erzählerisches Experiment, dieses Debüt von Maisano: Zwei Erzähler — auch noch beide Architekten — streiten sich um die Wahrheit des Erzählens, der Erinnerung und der Deutung der Gegenwart. Zugleich ist das auch ein Streit zweier Lebensentwürfe: Der geniale, faule und organisierte Architekt gegen den ordnungsfixierten, unternehmerischen, aber ideenlosen Bauingenieur und Planer.
Die Menschen bleiben allein, die Familien tauchen als Idee und Erzählung öfter und wirklicher auf als in der “wahren” Realität: Patricks trockenes Berichten und Toms unbeschwertes Fabulieren konkurrieren um den Leser — glaubhaft sind natürlich beide nicht, wie sich zusehends herausstellt. Dass beiden Protagonisten und Erzählern am Ende dann ganz symbolisch und reell der Boden und das Fundament unter den Füßen wegrutscht — das Chalet, in dem sie sich befinden, fällt einem Bergrutsch zum Opfer — ist dann fast schon zu offensichtlich. Aber bis dahin hat man beim Lesen an diesem rasanten Text eine Menge Vergnügen gehabt.
“daheim an den gedichten” ist Lutz Seiler: Auch wenn er jetzt für seinen Roman “Kruso” so sehr gelobt ist: Er ist vor alledem ein vortrefflicher und ausgesprochen kluger Lyriker. Schon pech & blende hat das gezeigt, im felderlatein gelingt es erneut: Hier ist eine eigene Stimme und ein eigener Denke. Seilers Gedichte machen immer wieder die Zeit selbst zum Thema:
[…] immerin der schwebe, die
schätze dieser zeit
- eine Zeit, die sich in der Erinnerung zeigt oder als Gegenwart der Vergangenheit im Augenblick der Empfindung und Wahrnehmung. Vor allem aber geht es ihm immer wieder um die Verbidungen und Verknüpfungen von Natur, Mensch und eben Zeit. Ein Gedicht wie “im felderlatein” macht das besonders deutlich. Schon der Titel verknüpft alle drei Bereiche: Den Menschen mit seiner Sprache — aber einer Sprache, die “ausgestorben” ist, die Sprache der Vergangenheit ist, aber in unserer Gegenwart immer noch lebt; und diese Sprache der Menschen eben schon im Kompositum verknüpft mit der Natur der “Felder” — die, sobald sie Felder sind, ja auch schon mit dem kultivierenden und abgrenzenden Menschen in Verbindung stehen. Dort, also “im felderlatein”, heißt es:
im nervenbündel dreier birken:
umrisse der existenz & alte formen
von geäst wie
schwarzer mann & stummer
stromabnehmer. alldie falschen scheitel, sauber
nachgezogen im archiv
der glatten überlieferung. gernsagst du, es ist die kälte, welche
dinge hart im auge hält, wenn
große flächen schlaf wie
winkelschleifer schleifen in
den zweigen. sosagt man auch: es ist ein baum
& wo ein baum so frei steht
muß er sprechen
Und das zeigt sich auch in Versgruppen, die deutlich machen, dass dem Menschen (noch) längst nicht Zugriff auf alles eigen ist:
du weißt noch immer
nicht, daß es dich gibt, doch
was geschieht
ist begriffen, ins brüchige dunkel
entleert sich das haus (48)
In seinem flanierenden Streifen durch Landschaften, Vergangenheiten und Typen (Rückkehr ist der entscheidende Begriff heir, nicht die Ankunft!) gelingen Seiler jedenfalls immer wieder großartige Gedichte, die als konzentrierte, starke Schöpfungen der Sprache und des Denkens so etwas wie Bestandsaufnahmen sind (nicht ohne Grund ist “inventur” eines der besten gedichte in diesem band):
[…] & unter der erdeliegen die toten
& halten die enden wurzeln im mund (49)
Wie schon bei Helle Verwirrung und Hasenhass belässt es Rinck auch hier nicht bei der Schrift, beim Text allein, sondern arbeitet mit Zeichnungen zuammen. Genauer gesagt: Sie arbeitete mti der Zeichnerin Nele Brönner zusammen. Die legte täglich eine von 24 Zeichnungen vor, zu der Rinck textete, was wiederum Brönner zur nächsten Zeichnung veranlasste etc: Die gegenseitigen Rückkopplungen entwickeln sich hier Seite für Seite zu einer Fabel — einer fabelhaften, phantastisch-spielerischen Geschichte. “Irritierte Verheißung” heißt es einmal im Text — und das passt recht gut: Gegenseitige Irritation beflügelt die Phantasie, die immer neues, anderes, ungeplantes verheißt. Und das dann nicht unbedingt einlöst: Dieses Buch (ich scheue mich, nur vom Text zu sprechen, die Zeichnungen sind schließliche elementarer Teil des Werkes) ist nie langweilig, weil die Entwicklung zwar zu beobachten ist, aber nie vorhersehbar wird. Und weil dazu noch die Sprache Monika Rincks zwischen Prosa und Lyrik schwankt, wenn man das so sagen darf, ihre poetische Qualtiät des Klangs und der Nicht-Alltäglichkeit besonders betont, ist das ein Werk ganz nach meinem Vergnügen: Ein Buch, das mit dem Untertitel Geschichten vom inneren Biest gar nicht so schlecht umschrieben ist.
In gewisser Weise ist das wieder ein typischer Sibylle-Berg-Roman — und das ist ja schon einmal ein guter Start. Der Klappentext des übrigens sehr schön gemachten und in feinem Leinen gebundenen Buch verheißt:
Chloe und Rasmus sind seit fast zwanzig Jahren verheiratet, und ja, alles bestens, man hat sich entwickelt, man ist sich vertraut. Aber dass dieses Leben nun einfach so weitergehen soll, ist auch nicht auszuhalten. […] Sibylle Berg stellt die Frage, die alle Paare irgendwann einmal beschäftigt: Ist Sex lebensnotwendig? Oder doch eher die Liebe?
Und das passt schon ganz gut: Berg erzählt (wieder einmal) aus der Hölle der Selbstfindung eines ziemlich frustrierten Paares. Es geht in wechselnder Perspektive aus der Sicht der beiden Protagonisten Rasmus und Chloe um das Abnutzen der Gefühle, um das Leiden am Leben, um die unendliche ernüchternde und nüchterne Ausweglosigkeit des Alltags. In kurzen Kapitel und klarer, knapper und präziser Prosa beschreibt Berg die aufdämmernde Katastrophe der Paarbeziehung, das Umschlagen, die völlige Zerstörung und Neuschaffung. Das ist Literatur, die kurzfristig unterhält und nachhaltig verstören kann, wie Richard Kämmerlings ganz richtig beobachtet hat. Und genau diese Kombination aus Unterhaltung und Verstörungspotenzial, aus Humor und tiefem, dunklem Ernst ist es, was mir an Bergs Büchern immer wieder zusagt.
Die Aufregung. Hat sich abgenutzt, wie alle Gefühle, ich hatte jedes schon einmal. Es wird kein neues dazukommen. Das ist das Grauen der mittleren Jahre. Die Langeweile und die noch allzu nahe Erinnerung an Zeiten, in denen alles zum ersten Mal passierte. (50)
außerdem gelesen:
- Helene Hegemann: Axolotl Roadkill. Berlin: Ullstein 2010. 204 Seiten.
- Ursula Krechel: Shanghai fern von wo. 2. Auflage. München: btb 2010. 508 Seiten.
- Ursula Krechel: Landgericht. 5. Auflage. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2012. 495 Seiten.
- Rüdiger Bittner & Susanne Kaul: Moralische Erzählungen. Göttingen: Wallstein 2014 (Kleine Schriften zur literarischen Ästhetik und Hermeneutik, Band 5). 74 Seiten.
- Frank R. Ankersmit: Die historische Erfahrung. Berlin: Matthes & Seitz 2012. 112 Seiten.
- Mark Rowlands: Der Läufer und der Wolf (siehe nebenan im Laufblog)