Krieg
Alle Straßen sind mit Blut beglitzt.
Gierig lecken vieler Hunde Münder.
Bajonette lüstern hochgespitzt.
Witternd recken sich die Zwanzigpfünder.In den Nächten drohte der Komet.
Hermann Plagge (1914)
Über Städten platzen die Granaten.
Trommeln, Trommeln wird weitergeweht.
Braungeplättet liegen alle Saaten.
Schlagwort: krieg Seite 1 von 3
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- Interview: “Die Relevanz von Geschlecht nimmt ab” | Campus Mainz → die germanistische sprachwissenschaftlerin damaris nübling über sprache und geschlecht, gender und gerechtigkeit
Langfristig wäre es gut, die Kategorie Geschlecht aufzulösen, statt sie zu dramatisieren. Das funktioniert neben dem Streuen auch mit neutralisierenden Pronomen im Plural wie “alle”, “viele” oder “manche”. Außerdem kann man auch anstelle von Personenbezeichnungen abstraktere Begriffe verwenden, zum Beispiel: “Das Institut hat entschieden” anstelle von “Der Institutsleiter hat entschieden” und so weiter.
Allerdings kommt das immer auf den Kontext an. Feste Rezepte gibt es nicht, Kreativität ist gefragt. Dazu gehören auch die zunehmenden Präsenspartizipien im Plural wie “Studierende”. Singulare wie “der Studierende” taugen dagegen nicht, da Singulare immer mit Genus aufgeladen sind. Meine Erfahrung ist, dass es weniger eine Frage der Möglichkeiten als des Willens ist. - Kulturgut Buch — bröckelt der Mythos? | Deutschlandfunk Kultur → ein nachdenkliches interview mit jörg sundermeier vom famosen verbrecher-verlag zur lage des buchmarktes und der literatur im ganz allgemeinen
Ich glaube, momentan ist eher das Problem nicht so sehr, dass die Leute nicht lesen wollen oder nicht lesen können, sondern dass es ein bisschen demi mode ist, und ich habe aber den Eindruck, dass es sich ändert und dass das Lesen wieder zurückkommt,
- “Gewonnen hat die deutsche Nation” | Zeit → noch ein älteres interview, das schon lange in meiner leseliste schlummert: georg schmidt spricht über den dreißigjährigen krieg (die leserkommentare ignoriert man aber besser …)
- The Ultimate Productivity Blog → großartig, sehr treffend auf den punkt gebracht
- Abwesenheit als Krise | Sozialtheoristen → spannende überlegungen von stefan kühl zum problem der anwesenheitskontrollen an universitäten
Selbst in Überwachungspraktiken begabte Lehrende werden feststellen, dass sie trotz einzelner Siege über besonders auffällige Drückeberger am Ende diese Kontrollkämpfe verlieren werden. Die Kreativität von Studierenden beim Erfinden von Wegen, diese Kontrollen zu unterlaufen, wird immer größer sein als die Kreativität von Lehrenden im Erfinden neuer Wege der Kontrolle. Anwesenheitslisten sind deswegen ein stumpfes Schwert, um das Leistungsniveau von Studierenden anzuheben. […] Das Problem der Abwesenheit von Studierenden ist also nicht vorrangig ein Problem der Qualität der Lehrenden, sondern liegt vielmehr in der Gestaltung der Studiengänge selbst […]
Statt auf das Problem der Abwesenheit mit dem eher brachialen Mittel der Anwesenheitsliste zu reagieren, gäbe es eine Alternative. Man könnte chronische Abwesenheiten – oder Anwesenheiten, die nur über Anwesenheitslisten durchgesetzt werden können – als ein Zeichen dafür sehen, dass irgendetwas in dem Studiengang nicht stimmt. - Trump ist der Geburtshelfer von “Me Too” | SZ → eine gute — und wie mir scheint, sehr treffende — einordnung von hedwig richter der #MeToo-bewegung in den wandel von männer-/männlichkeitsbildern und die geschichte der gleichberechtigung
Die Empörung über die Gewaltigen, die sich der Leiber der anderen bedienen, ist mehr als ein Hashtag und etwas anderes als eine Hetzjagd. Sie ist das Ende der letzten Selbstverständlichkeit: Das Zweifel- und Bedenkenlose einer männlichen Herrschaft, das in die Körper eingeschrieben war, scheint endgültig außer Kraft gesetzt zu sein.
- The Horizon of Desire | Longreads → ein hervorragender essay von laurie penny über konsens, rape culture, männlich- und weiblichkeit und die damit einhergehenden (stereotypen) erwartungen an das verhalten beim sex
Rape culture is not about demonizing men. It is about controlling female sexuality. It is anti-sex and anti-pleasure. It teaches us to deny our own desire as an adaptive strategy for surviving a sexist world. […] But unless we talk about desire, about agency, about consent, then we’ll only ever be fighting this culture war in retreat. It’s a real war, one that impacts our bodily autonomy and our economic and political power. The battle for female desire and agency goes way beyond the bedroom, and it’s a battle that right now everyone is losing.
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- Was lesen Buchblogger: Eine neue Analyse mit Visualisierungen und Statistiken | lesestunden.de → tobi hat versucht zu analysieren (und visualisieren), was buchbloggerinnen (er hat ein fast ausschließlich weibliches sample) eigentlich lesen. die datengrundlage ist aber zumindest in teilen schwierig, die genre-einteilung zum beispiel nahe an der grenze zum absurden (wie er selbst auch anmerkt)
- Integrative Obstarbeit | Draußen nur Kännchen → wunderbare “integrations”-begegnung, aufgeschrieben von frau nessy
- The People Who Craft World-Class Steinway Pianos → schöne fotostrecke (anlässlich eines entsprechenden buchs …) über die arbeiter/innen in steinways fabriken
- Besuch bei Verleger Jochen Jung: “Du bist ein Schmarotzer! Nutznießer, eine Zecke” | Welt → ausnahmsweise mal eine empfehlung zur springer-presse: manfred rebhandl hat nämlich ein schönes stück über den verleger jochen jung geschrieben
- Zum Ethos der Tech-Szene in der digitalen Ökonomie: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit | netzpolitik.org → Maciej Cegłowski über programmierer und ihren zugriff auf die wirklichkeit und die daraus resultierenden fragen und probleme
Unsere Ziele sind einfach und klar. Zuerst werden wir messen, dann analysieren, dann optimieren. Und man wird uns dankbar sein.
Aber die reale Welt ist eigensinnig. Sie ist so komplex, dass sie Abstraktion und Modellierung widersteht. Sie erkennt unsere Versuche sie zu beeinflussen und reagiert darauf. Genauso wenig, wie wir aus unserer eigenen Haut können, können wir hoffen, die Welt von außen objektiv zu erfassen.
Die vernetzte Welt, die wir erschaffen, mag Computersystemen ähneln, aber es bleibt dennoch die gleiche alte Welt wie vorher, nur mit ein paar Mikrofonen und Tastaturen und Flatscreens, die hier und dort herausragen. Und sie hat immer noch die gleichen alten Probleme.
- „Einfach nur privatistisch Intimitäten ausplaudern, kann nicht zielführend sein.“ | feministische studien → interessantes interview mit carolin emcke über subjektivität, intimität und spreche & sprache
Einfach nur „ich“ sagen, einfach nur privatistisch Intimitäten ausplaudern, kann nicht zielführend sein. Die subjektive Form, das Reflektieren auf eigene Erfahrungen oder Wahrnehmungen braucht, meiner Ansicht nach, immer einen Grund, warum sie in einem bestimmten argumentativen, diskursiven Kontext eingesetzt wird.
Als Publizistin fühle ich mich verpflichtet, mit sprachlichen Mitteln jene ideologisch aufgeladenen Bilder und Begriffe, jene Assoziationsketten und Vorstellungen aufzubrechen, die Ressentiments gegenüber Frauen oder Homosexuellen, Gehörlosen oder Jüdinnen, Linkshändern oder Schalke-Fans transportieren. Und dazu gehört dann, dass wir normative Begriffe in Erfahrungen übersetzen, dass wir das, was uns wütend oder verzweifelt zurück lässt, verstehbar machen für diejenigen, die diese Erfahrungen nicht teilen.
- Fetisch Effizienz | Marcel Hänggi → markus hänggi hat für “zeit wissen” die geschichte und theorie der energieeffizienz schön aufgeschrieben.
Die unter dem Gesichtspunkt der Energieeffizienz bemerkenswerteste Erfindung der Moderne war das Fahrrad
Es gibt keinen Grund, Energieträger, deren Nutzung die menschliche Zivilisation bedrohen, überhaupt auf den Markt zu lassen.
- Interview: „Ich bin kein Fotoroboter“ | der Freitag → interessantes interview mit dem fotografen christoph bangert (der mit “war porn” ein hervorragendes fotobuch über den krieg veröffentlichte) über krieg, gewalt, absurdität, verstehen und verarbeiten
- Autofahren in Deutschland: Die Strafen für Raser und Verkehrssünder sind lächerlich — Politik — Tagesspiegel Mobil → heinrich schmitz hat wortgewaltig und faktengesättig genug von der verharmlosung der raser und der mitleidslosen inkaufnahme der tödlichen verkehrsunfälle
Bei „bereiften Mördern“ – so werden hier in der Region scherzhaft Autofahrer mit einem BM-Kennzeichen aus Bergheim genannt – packt die Politik die Samthandschuhe aus. Autofahrer sind halt Wähler und nicht mal wenige. Da werden selbst die in der sonst für ihre Politik so heiß geliebten Schweiz geltenden Regeln nicht eingeführt.
- Zu Besuch Friederike Mayröcker: Eine Gleichung von mathematischer Eleganz | FAZ → der bald-büchner-preisträger marcel beyer über einen besuch bei büchner-preisträgerin friederike mayröcker
Leben = Schreiben: Mir fiele niemand ein, für den diese Gleichung so wenig antastbar, so produktiv, schlicht unumstößlich wahr wäre wie für Friederike Mayröcker. Eine Gleichung von mathematischer Eleganz.
- Martin Vogel: Anmerkung zu einem richtigen Urteil | perlentaucher.de → martin vogel legt noch einmal seine/die sicht der urheberinnen zur vg wort, ihren ausschüttungen und ihrer krachenden niederlage vor dem bgh dar. sehr lesenswert
- Diedrich Diederichsen im Gespräch über politische Korrektheit in öffentlichen Debatten | jungle-world.com → spannendes, langes interview mit diedrich diederichsen über politische korrektheit, kulturkampf, (neue) rechte und die entwicklungen in der (deutschen) diskursgesellschaft der letzten jahre/jahrzehnte
Mit der sogenannten PC kam der Ärger auf einer ungewohnten Ebene zurück, als Debatte um Sprache. Letztlich war der dann folgende Aufschrei in der konservativen bis reaktionären Mitte vor allem ein Symptom der Enttäuschung. Man hatte gehofft, ganz demarkiert Politik und Geschäfte machen zu können, und wollte mit inhaltlichen Auseinandersetzungen, die dann auch noch auf politischen oder ethischen Grundüberzeugungen – Bezeichnungen wie Rassismus waren ja wichtig, wir wollten Rassismus Rassismus nennen, die anderen Fremdenfeindlichkeit – nichts mehr zu tun haben.
Das ist eine schlimme Entwicklung, die die strategisch berechtigte Idee, Orte zu schaffen, in denen man zum Beispiel vor trans- und homophober Verfolgung sicher ist, in eine völlig bescheuerte Richtung verschoben haben. Safe Spaces sind jetzt Seminare, die als so eine Art erweitertes Kinderzimmer mit Kuschelkultur nur über Dinge sprechen, die die behüteten Mittelschichtskinder nicht erschrecken. »Trigger Warnings« sollen helfen, dass man das Böse gar nicht erst zur Kenntnis nimmt. Von Vergewaltigung und Rassismus darf man dann gar nicht mehr sprechen.
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- Fahrradboom und Fahrradindustrie — Vom Drahtesel zum “Bike” — ein sehr schöner, langer, vielfältiger, breiter und intensiver text von günter breyer zur situation des fahrrads als produkt in deutschland: herstellung, vertrieb, verkauf in deutschland, europa und asien — mit allem, was (ökonomisch) dazu gehört …
- Gesetzgebung: Unsinn im Strafgesetzbuch | ZEIT ONLINE — thomas fischer legt in seiner zeit-kolumne unter dem titel “Unsinn im Strafgesetzbuch” sehr ausführlich dar, warum es im deutschen recht einfach schlechte, d.h. handwerklich verpfuschte, paragraphen gibt und fordert, in dieser hinsicht auch mal aufzuräumen
Ein Beispiel für missglückte Gesetzgebung und institutionalisierte Verantwortungslosigkeit – und ein Aufruf zur Reparatur
- Antisemitismus: Was heißt “N.soz”? | ZEIT ONLINE — adam soboczynski über den verdacht (der sich bislang nicht erhärten oder widerlegen lässt), dass die heidegger-ausgabe möglicherweise philologisch nicht sauber erstellt wurde (was insofern problematisch ist, als der zugang zum nachlass nur eingeschränkt möglich ist und die heidegger-ausgabe eh’ schon keine kritische ist — was bei einem philosophen dieses ranges & einflusses eigentlich notwendig wäre)
Hätte der massive Antisemitismus des Philosophen Martin Heidegger früher belegt werden können? Das fragt sich mittlerweile auch der Verlag der umstrittenen Gesamtausgabe und verlangt jetzt den Herausgebern Rechenschaft ab.
- Musik — Der vollkommene Musiker — Süddeutsche.de — reinhard brembeck würdigt zum 90. geburtstag pierre boulez und seine eigentlich irren leistungen:
Boulez, der an diesem Donnerstag seinen 90.Geburtstag feiert, ist der vollkommene Musiker. Er ist Komponist, Dirigent, Forscher, Intellektueller, Provokateur, Pädagoge, Ensemble- und Institutsgründer in Personalunion. Und das alles nicht nur im Neben‑, sondern im Hauptberuf. Damit steht er heute zwar allein da, er knüpft aber an ein bis in die Romantik durchaus gängiges Berufsbild an, das Musiker nur gelten lässt, wenn sie möglichst all diese Tätigkeiten gleicherweise ausüben.
Boulez ist von Anfang an ein Praktiker gewesen. Aber einer, der sich nie seine Träume durch die Einschränkungen und faulen Kompromisse der Praxis korrumpieren ließ. - Pierre Boulez: “Sprengt die Opernhäuser!” | ZEIT ONLINE — eine geburtstagswürdigung für pierre boulez von felix schmidt, die sich stellenweise schon fast wie ein nachruf liest …
Boulez hat dem Musikbetrieb einen gewaltigen Stoß versetzt und ihm viel von seiner Gedankenleere ausgetrieben. Die Langzeitfolgen sind unüberhörbar.
- Illegale Downloads machen dem E‑Book-Markt Sorgen — ein etwas seltsamer artikel von clemens voigt zur piraterie bei ebooks: eigentlich will er gerne etwas panik verbreiten (und piraterie mit dem diebstahl physicher gegenstände gleichsetzen) und lässt deshalb ausführlich die abmahnanwälte waldorf-frommer zu wort kommen und anbieter von piraterie-bekämpfungs-software. andererseits wollen die verleger diese panikmache wohl nicht so ganz mitmachen … — deswegen bleibt das etwas einseitig …
- Selbstbild einer Universität « erlebt — françois bry über das problematische verständnis von wissenschaft & universität, dass “kinderunis” vermitteln können:
Die Familienvorlesung war unterhaltsam. Lehrreich war sie insofern, dass sie ein paar Vorstellungen auf den Punkt brachte:
Ein Professor ist ein Star.
Eine Vorlesung ist eine eindrucksvolle Schau.
Verstehen, worum es bei einer Vorlesung geht, tut man wenn überhaupt außerhalb des Hörsaals. - Fehlende Netzneutralität für Telekom-Kunden spürbar | daniel-weber.eu — daniel weber erklärt, wie die telekom den fehlenden zwang zur netzneutralität ausnutzt und warum das auch für ganz “normale” kunden schlecht ist
- Autoren nach der Buchmesse — Sibylle-Berg-Kolumne — SPIEGEL ONLINE — sibylle berg ist gemein — zu ihre kollegen schrifstellern und den vertretern des literarjournalismus:
Auf allen Kanälen wurden Schriftsteller wieder über ihr Schriftstellertum befragt, und sie gaben mit schiefgelegtem Kopf Auskunft. Warum Leute, die schreiben, auch noch reden müssen, ist unklar. Aber sie tun es. Es wird erwartet. Da muss irgendein Anspruch befriedigt werden, von wem auch immer. Da muss es wabern, tief und kapriziös sein. Das muss sein, denn das Schreiben ist so ein ungemein tiefer Beruf, dass jeder gerne ein wenig von der leidenden tiefen Tiefe spüren mag.
(das beste kann ich nicht zitieren, das muss man selbst lesen …)
- Russland: Was Putin treibt | ZEIT ONLINE — gerd koenen als (zeit-)historiker über ukraine, russland und was putin so umtreibt … (und die kommentare explodieren …)
- Wohnungsbau: Es ist zum Klotzen | ZEIT ONLINE — hanno rauterberg rantet über den einfallslosen wohnungsbau in hamburg — gilt aber so ähnlich auch für andere städte …
Häuser werden streng rasiert geliefert, oben alles ab. Das alte Spiel mit Trapez- und Treppengiebeln, mit Walm‑, Sattel- oder Mansarddächern, ein Spiel, das Häusern etwas Gemütvolles verleiht, auch etwas Behütendes, scheint die meisten Architekten kaum zu interessieren. Es regiert die kalte Logik des Funktionalismus, sie macht aus dem Wohnen eine Ware. Und da kann ma…
- Ukraine: Freiheit gibt es nicht umsonst | ZEIT ONLINE — geigerin Lisa Batiashvili zur situation in der ukraine und europa sowie seine werte
- Sonnenfinsternis: Ein Mainstream der Angstmache — Feuilleton — FAZ — Mainstream der Angstmache
- Amerikanischer Drohnenkrieg — Was die Regierung unter Aufklärung versteht — Süddeutsche.de — die süddeutsche über die unfähigkeit der bundesregierung, sich ans völkerrecht zu halten (wollen), hier beim drohnenkrieg der usa:
Jenen “Fragebogen”, auf dessen Beantwortung die Bundesregierung angeblich so gedrungen hat, erachteten die Amerikaner jedenfalls “als beantwortet”, teilte das Auswärtige Amt jüngst auf Fragen der Linkspartei-Abgeordneten Andrej Hunko und Niema Movassat mit. Man sehe die Angelegenheit damit als “geklärt” an, schrieb eine Staatssekretärin. Die Fragen bleiben also weitgehend unbeantwortet. Und die Bundesregierung nimmt das einfach so hin. “Das Auswärtige Amt will keine Aufklärung, inwiefern US-Standorte in Deutschland am tödlichen Drohnenkrieg der US-Armee in Afrika und Asien beteiligt sind”, kritisieren die Parlamentarier Hunko und Movassat. “Das ist nicht nur undemokratisch, sondern es erfüllt den Tatbestand der Strafvereitelung.”
- Deutschland: Am Arsch der Welt | ZEIT ONLINE — david hugendick haut den deutschen das abendland um die ohren
Das Abendland ist ein deutscher Sonderweg von Kultur, Geist, Stolz, Volk und Weinerlichkeit. Warum dieses Geisterreich der Gefühle nicht totzukriegen ist. Eine Polemik
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- 30. Neohistofloxikon oder Neue Floskeln braucht das Land | Geschichte wird gemacht — achim landwehr wird grundsätzlich:
Es ist eigentlich immer an der Zeit, das eigene Denken über Vergangenheit und Geschichte mal etwas durchzuschütteln und auf den grundsätzlichen Prüfstand zu stellen.
- Who is afraid of jazz? | JazzZeitung — “Wer hätte gedacht, dass ich sogar Bruckner einmal spannender und frenetischer finden würde als neuen Jazz!”
- Essay: Schläfrig geworden — DIE WELT — er osteuropa-historiker karl schlögel widerspricht in der “welt” den verfassern & unterzeichnern des aufrufes “wieder krieg in europa?” — meines erachtens mit wichtigen argumenten:
Denn in dem Aufruf ist neben vielen Allgemeinplätzen, die die Eigenschaft haben, wahr zu sein, von erstaunlichen Dingen die Rede. So lautet der erste Satz: “Niemand will Krieg” – so als gäbe es noch gar keinen Krieg. Den gibt es aber. Russische Truppen haben die Krim besetzt
[…]
Abermals ist vom “Nachbarn Russland” die Rede: Wie muss die Karte Europas im Kopf derer aussehen, die so etwas von sich geben oder mit ihrer Unterschrift in Kauf nehmen! Peinlich – und wahrscheinlich in der Eile von den viel beschäftigten, ernsthaften Unterzeichnern nicht zur Kenntnis genommen – die Behauptung, Russland sei seit dem Wiener Kongress Mitgestalter der europäischen Staatenwelt. Das geht viel weiter zurück, wie auch Laien wissen, die schon von Peter dem Großen gehört haben. Und ausgerechnet die Heilige Allianz zu zitieren, mit der die Teilung Polens zementiert, die polnischen Aufstände niedergeworfen und die 1848er-Revolution bekämpft worden ist – das passt nicht gut zur Ernsthaftigkeit eines um den Dialog bemühten Unternehmens. Vom Molotow-Ribbentrop-Pakt – eine zentrale Erfahrung aller Völker “dazwischen” und im 75. Jahr der Wiederkehr des Vertrages, der den Zweiten Weltkrieg möglich gemacht hat – ist im Text gar nicht die Rede, einfach zur Seite geschoben, “verdrängt”. - Was bewegt Yvan Sagnet?: Hoffnung der Sklaven | ZEIT ONLINE -
Arbeiter aus dem Sudan, aus Burkina Faso, aus Mali, aus fast jedem Land Afrikas. In dreckigen Mänteln suchen sie vor den Müllhaufen nach Verwertbarem. Es ist, als würde man durch einen düsteren, apokalyptischen Roman von Cormac McCarthy fahren. An den Feldwegen, die von den Landstraßen abgehen, stehen Prostituierte. Rumäninnen und Bulgarinnen. So sieht es aus, das Herz der italienischen Tomatenproduktion.
— fritz schaap in der zeit über den versuch des gewerkschafters yvan sagnet, die miserablen bedingungen der arbeiter in italien, v.a. der erntehelfer, zu verbessern. der sagt u.a.
“Der Käufer muss wissen: Wenn er in den Supermarkt geht und ein Kilogramm italienische Tomaten für achtzig Cent kauft, dann wurden diese Tomaten von miserabel entlohnten Arbeitern geerntet, die man ohne Weiteres als moderne Sklaven bezeichnen kann.”
- Eine wichtige Information der Vereinigten Geheimdienste — YouTube — Better no Letter: Eine wichtige Information der Vereinigten Geheimdienste (siehe auch: The U.S.S.A. says: BETTER NO LETTER!)
- Union kritisiert Ramelow-Wahl in Thüringen: Verlogene Heulsusen | tagesschau.de — wow, bei der ARD & der Tagesschau ist jemand genauso angewidert vom Verhalten der CDU in Thüringen wie ich
- Forschung: So will doch keiner arbeiten! | ZEIT ONLINE — Forschung: So will doch keiner an Unis arbeiten! — Dieses Mal mit einer Historikerin
- Zerschlagen, aber im Sammlungskontext erschließbar: In der Bayerischen Staatsbibliothek wurde über den Ankauf des Schott-Archivs informiert | nmz — neue musikzeitung — Zerschlagen, aber im Sammlungskontext erschließbar: Die Bestände des Archivs des Schott-Verlages teilen sich künftig auf die Staatsbibliotheken München und Berlin sowie sechs Forschungseinrichtungen auf. Über den Kaufpreis wurde Stillschweigen vereinbart.
- So entstand der Mythos der “Trümmerfrauen” — Politik — Süddeutsche.de — die sz lässt sich von der historikerin leonie treber noch einmal erklären, woher die “trümmerfrauen” kommen:
Es wurde ein äußerst positives Bild dieser Frauen vermittelt: Dass sie sich freiwillig und mit Freude in die harte Arbeit stürzen und den Schutt wegräumen, um den Wiederaufbau voranzutreiben. Die PR war auch enorm wichtig, weil die Trümmerräumer — wie zuvor erwähnt — stigmatisiert waren und solche schweren Jobs bis dahin eigentlich nicht von Frauen erledigt werden sollten. Deshalb wurde das Bild der “Trümmerfrau” positiv aufgeladen mit den Stereotypen, die wir noch heute mit dem Begriff verbinden.
- Mainzer Schott-Musikverlag: Historisches Archiv wird öffentlich zugänglich — Rheinland-Pfalz | SWR.de — “optimale Erschließung” = Zerstörung des Zusammenhangs. Schott-Musikverlag: Archiv wird öffentlich zugänglich
- Hat die Jugend keinen Ehrgeiz mehr? | Blog Magazin — philipp tingler über die gegenwart, die kultur und den ehrgeiz zum glück:
Gegenwärtig leben wir in einer Gesellschaft, die Selbstperfektionierung, die Arbeit am Ich, als Selbstgenuss postuliert; einer der letzten Leitwerte in der irreduziblen Vielfalt der uns allenthalten umgebenen Kontingenzkultur ist: Authentizität. Dafür steht auch Diane von Fürstenberg. Die Biografie als Projekt. Wenn jetzt also plötzlich alle aus ihrem Leben ein Kunstwerk machen wollen, dann ist das nicht nur ein ethischer, sondern auch ein sehr ehrgeiziger Imperativ: Lebenswelten und ‑formen werden ambitioniert durchästhetisiert, und das Pathos der Selbsterschaffung richtet sich auf die beiden grossen Ziele der Postwachstumsgesellschaft: Spass und Glück.
[…]
Wir sehen also, dass Ehrgeiz durchaus nicht verschwunden ist, sondern sich nur verirrt hat.seine therapie ist übrigens ziemlich einfach (und wahrscheinlich gar nicht so verkehrt): selbstironie als die “schönste Form der Eigenliebe”
- Duden | Konrad-Duden-Preis 2014 geht an Damaris Nübling | — Der Konrad-Duden-Preis 2014 geht an @DFDmainz-Projektleiterin Damaris Nübling
- E‑Books: Wir sind die Fährtenleser der neuen Literatur — Bücher — FAZ — elke heinemann über die vielfalt der neuen (kleine) e‑book-verlage:
Dichtung ist längst auch digital: Auf der Suche nach E‑Books abseits des Mainstreams führt der Weg in Deutschland vor allem nach Berlin. Doch die engagierten Spezialverlage haben auch spezielle Probleme.
- Gender-Debatte: Anschwellender Ekelfaktor | ZEIT ONLINE — wunderbar: robin detje rechnet gnadenlos mit den kolumnenhetzern #ulfharaldjanmatthias aber (schade nur, dass das bei der @Zeit wieder niemand lesen wird und harald deshalb weiter die leserschaft vergiften darf):
Heute tobt die Schlussstrichdebatte Feminismus. Ende: nicht abzusehen. Alternde Männer an vorderster Front. Hoher Unterhaltungswert, aber auch anschwellender Ekelfaktor. Die Argumentation wieder faszinierend: Feminismus gibt es inzwischen doch schon so lange, das nervt, Frauen nerven ja immer, und die Frauen wollen offenbar tatsächlich, dass wir Männer unser Verhalten ändern, weshalb jetzt wir die eigentlichen Opfer sind.
[…]
Und deshalb husch, husch, ihr allmännermächtigen Diskursbeherrscher, zurück in eure Eckkneipe. Die jetzt leider von einem Gender-Studies-Lesben‑, Transen- und X‑trupp übernommen wird, und ihr schiebt für eine Weile in der Küche Abwaschdienst.Entschuldigung, aber das wird man sich als aufgeklärter, älterer deutscher Mann doch noch wünschen dürfen.
- “Feminismus kann niemals Lifestyle sein” • Denkwerkstatt — gabriele michalitsch im interview mit einigen sehr richtigen beobachtungen:
Feminismus kann niemals Lifestyle sein, Feminismus ist immer politisch. Wenn die Medien eine solche Diskussion befeuern, ist das eine Form von Antifeminismus und der Versuch, den Begriff Feminismus zu vereinnahmen, ihm seine politische Relevanz abzusprechen. Feminismus war zudem nie männerfeindlich, er wurde immer auch von Männern mitgetragen. Wenn, dann wendet er sich gegen bestimmte Konzeptionen von Männlichkeit – wie auch Weiblichkeit. Wäre dieser angeblich neue Feminismus nicht Gegenstand öffentlicher Debatten, müssten wir uns erst gar nicht damit auseinandersetzen – in meinen Augen ist das eine antifeministische Strategie.
und später auf den punkt gebracht:
Wenn Feminismus auf Karriere mit Kindern reduziert wird, ist das das Ende des Feminismus.
Ins Netz gegangen am 3.8.:
- Darmstadt Style (New Music Gangsta Rap) — YouTube — moritz eggert:
New Music, Modern Music, how do you do
I never wash my hair and Birkenstock is my shoe
I’m always wearing black and I smell kind of strange
but I do know the contrabass clarinet range - Untitled (http://factmag-images.s3.amazonaws.com/wp-content/uploads/2014/07/crumb-liner-notes.jpg) — ehrlich ist das MT @kg_ubu: R. Crumb letter to Mats Gustafsson “I totally fail to find anything enjoyable about this”
- Die Deutsche Bahn beschäftigt eigene Förster — die faz stellt ein anderes arbeitsfeld für förster — entschuldigung: „Fachbeauftragter für Vegetation“ — vor:
Ein Förster, der auf dem Weg zur Arbeit den Zug nimmt? Für Gerhard Hetzel gehört das zum Alltag.
- Deutschland und der Erste Weltkrieg: Der Mythos von der Kriegsbegeisterung — Der Erste Weltkrieg — FAZ — eine anonyme autorin fasst in der faz den aktuellen forschungsstand zusammen. große überraschung: nicht alle deutschen war einer meinung und eines gefühls …, die allumfassende kriegsbegeisterung ist ein mythos (auch wenn mir das zeitlich nicht genau genug differenziert ist …)
„Längst schon hat die historische Forschung die vermeintliche Kriegsbegeisterung infrage gestellt“, schreibt der Historiker Tillmann Bendikowski. Ein alle Bevölkerungsschichten umfassendes „August-Erlebnis“, das die Nation bei Kriegsausbruch 1914 einte, habe es so nicht gegeben. „In der historischen Wirklichkeit waren die Reaktionen auf die Kriegsgefahr und den Beginn des Krieges sehr viel komplexer und widersprüchlicher.“
- Harun Farocki: Der ungeschminkte Blick auf die Realität | ZEIT ONLINE — RT @zeitonline: Sein Werk umfasst mehr als 90 Arbeiten: Der Künstler und Filmemacher Harun Farocki ist tot.
- Computersicherheit: Jedes USB-Gerät kann zur Waffe werden | ZEIT ONLINE — oh. “Jedes USB-Gerät kann zur Waffe werden: Sicherheitsforscher haben einen neuartigen Angriff auf PCs entwickelt.”
- Hansel And Geekel — Geek&Poke — Geek&Poke ist heute richtig cool: Hansel And Geekel
Es wird mal wieder höchste Zeit für die nächste Aus-Lese …
Das Alphabet, ganz frisch vom Verlag, ist dennoch schon einige Jahre alt: Denn Stein legt hier ein Überarbeitung seines Erstlings vor. Das ist eine sehr aufwändig konstruierte, vertrackte Geschichte, die ich jetzt gar nicht rekonstruieren (oder gar nacherzählen) möchte — und wohl auch kaum noch könnte. Was mich wieder einmal überzeugt und beeindruckt hat, ist das Erzählen des Erzählens als Thema selbst, mit dem fast schon obligatorischen Verwischen von Erzähltem und Realität, bei dem die Grenzen zwischen erzählendem und erzählten Ich schnell überwunden (bzw. unkenntnlich gemacht) werden. Wo das Wirkliche unwirklich wird (zu werden scheint) — und die Phantasie auf einmal real: Da ist man in einem Text von Bejamin Stein. Seraphin mit Seelen aus Feuer tauchen hier auf, Selbstentzündungen der untreuen Liebhaber — überhaupt brennt hier ziemlich viel -: Engel, Golem und Rabbis, Worte und Namen und ähnliches bevölkeren dieses amüsante Verwirspiel auf vielen Ebenen der Erzählung und der Wirklichkeit (aber ist eine Wirklichkeit, in der es Engel gibt, Menschen, die selbst entzünden, Wiedergeburt/-erscheinen nach mehreren hundert Jahren als identische Person, ist so eine Wirklichkeit überhaupt „wirklich“?), angereichert mit religiösen Themen (und einigen Kuriosa, zumindest für mich, der ich mich in der jüdischen Religion so gar nicht auskenne). Und wie in Agententhrillern/-filmen/-serien wird sozusagen im nachhinein immer noch eine Ebene der Täuschung/Illusion/Erzählung/Fiktion eingebaut, die jeweils erst sichtbar wird, in dem sie zerstört wird, aufgelöst wird — und entsprechend rückwirkend den ganzen Text auflöst, entkernt, … Das ist ein alter Erzählertrick, gewiss, den Stein hier aber durchaus nett umsetzt. Manche Passagen sind für meinen Geschmack etwas krimihaft, manchmal auch etwas argl plauderend erzählt, zu sehr darauf angelegt, gemeinsame sache mit dem Leser machen. Mit Rationalität allein wird man diesem Buch über Engel, das zugleich ein vertrackter Mehrgenerationen-Familiengeschichte(n) im 20. Jahrhundert ist, in der alle mit allen zusammenhängen, kaum gerecht. Und sehr schön ist es übrigens auch, mal wieder ein in Leinen gebundenes Buch in der Hand zu haben — das liegt da gleich ganz anders …
Was weißt du schon? erwiderte die Stimme. Und das war der Satz, den er von nun an immer wieder hören sollte: Was weißt du schon? Sei nicht dumm. Es gibt ein Bild hinter dem Spiegel und eine Stadt tief unter dir. Es gibt Engel, die werden als Menschen geboren, und Menschen, die gehen in Flammen auf, weil die Buchstaben keck ihre Plätze tauschen und die Welt auf den Kopf stellen, nicht mehr als ein Spiel. (201f.)
Ein schöner, kurzer und knackiger Überblick aus der Rathjen-Werkstatt: Zugleich eine ganz kurze Einführung in die Biographie Schmidts und ein Überblick über sein Schaffen. Das geschieht vor allem im Modus der Kurzcharakteristik aller Werke, die Rathjen chronologisch abhandelt und so zugleich auch ein bisschen Rezeptionsgeschichte — vor allem für die nachgelassenen Publikationen und Edition — bietet. Dazu gehört, den jeweiligen Werken zugeordnet, ein doch recht ausführliches Verzeichnis der (wichtigen?) Sekundärliteratur — leider ohne Kommentar und deshalb also ein doch nicht ganz so potenter „Wegweiser“. Als Hilfsmittel und Anregung für den (noch) nicht vollständigen Schmidtianer ist Arno Schmdit lesen! aber trotzdem nützlich, auch wenn für meinen Geschmack die Textlein zu den Werken manchmal doch arg kurz geraten sind. Doch weil Rathjen ein guter Kenner des Schmidtschen-Kosmos ist, hat das Büchlein durchaus seinen Wert, der naturgemäß für Schmidt-Kenner geringer ist als für Novizen.
In Kürze: Ganz tolle Erzählungen sind hier zu finden, unbedingt empfehlenswert — wenn man kleine Geschichten zwischen Reportage und Momentaufnahme aus der Fremde Europas mit einem Hang zu leichter Melancholie und Traurigkeit mag. Meist geben sie kurze Einblicke in Leben und Charakter einer Person (die den Titel der jeweiligen Geschichte bildet), oft durch eine nahestende Erzählerin, einen Freund etwa. Das hat oft etwas von einer Pseudo-Reportage, wie es etwa eingearbeitete Zitate der Protagonisten einer Erzählung zur Darstellung ihres Hintergrunds, ihrer Geschichte nutzt, als stammten sie aus einem Gespräch. Dazu passt auch die Schlichtheit der Sätze — zumindest syntaktisch, lexikalisch ist das durchaus kunstvoll: Daher kommt auch der lyrische, oft leicht schwebende Ton der Erzählerinnen aus der Feder Rakusas.
Immer wieder werden beschädigte Leben erzählen: Heimatverlust oder überhaupt Heimatlosigkeit, das (ewige) Weiterziehen, die Suche nach einem Platz/Ort (nicht nur, aber auch geographisch) im Leben bestimmen den Weg der Protagonisten, die ganz überwiegend suchend sind, sich auf dem Weg beinden, immer unterwegs — nach Leben, Sinn etc., auch nach Erleuchtung (mehrmals suchen sie die ganz plakativ in Indien): entwurzelte Menschen der Moderne zeigt Rakusa uns. Momentan oder zeitweise, vorübergehend kann die Einsamkeit aufgehoben oder suspendiert werden — in Freundschaft(en) und Liebe etwa, wobei die Enthebung aus der Einsamkeit immer als solche, als nicht dauernde Erleichterung, auch wahrgenommen und erkannt wird: Das Bewusstsein der Endlichkeit der „Geselligkeit“ ist immer vorhanden, ihre Fragilität gewusst. So spielen sich in den Figuren Drama und Trauma der Gegenwart ab: Kapitalismus, Krieg und Krankheiten als Verursacher der „Störung“. Und: Europa außerhalb Deutschlands/Mitteleuropa wird gezeigt, mit Krieg und Kriegsfolgen, Armut, Leere, Verzweiflung, Leid, Trauer und Traurigkeit — ohne deshalb total schwarz zu sein, grundiert diese dunkle Erfahrung doch nicht nur das Leben der Protagonistinnen, sondern auch den Ton der meisten Erzählungen: dunkel, aber nicht depressiv; hart, aber nicht verzweifelt. Auch die Orte sind keineswegs alles Idyllen: Koljansk etwa wird als reiner Höllenort erzählt: Trostlos, aussichtslos, rettungslos: „Ein Punkt, der bald verschwunden sein wird. Dort.“ (158) — das sind zugleich die letzten Worte des Buches — die dem Ganzen noch einemal einen etwas überraschend düsternen, trostlos-grauen Dreh geben
Wie geht das: im Leben eine Seite umwenden? Aussteigen, weggehen, auf nichts hoffen als auf die Richtigkeit der Entscheidung. (73)
Wir waren kurz sehr lange weg gewesen. (79)
Demokratien sind labile Gebilde, Dauerhaftigkeit gibt es nicht, die Demokratie muss immer neu hergestellt werden. Deswegen benötigen sie Entscheidungen, Reagieren — und Entwicklung, sie verzeihen aber auch Fehler. Ganz besonders gilt das für Momente der Krise. Müller zeigt das anhand “der” Krise der modernen Demokratien nach dem Ersten Weltkrieg am Ende der 1920er Jahre, im Umfeld der Wirtschaftskrise. Dabei zeigt Müller auch, wie eng soziale Demokratie (mit ihrer Umverteilung (die aus dem Gleichheitspostulat resultiert), also der „Wohlfahrtsstaat“ und demokratische Organisation sowie Gesinnung (der Bevölkerung) im 20. Jahrhundert in Europa (und den USA) zusammenhängen.
Demokratie will Müller verstanden wissen als Prozess, ständige Diskussion, Vergewisserung und Anpassung sind notwendig und wesenhaft. Das geschieht nicht in allen Ländern und Gesellschaften gleichzeitig und auf gleiche Weise. Für Deutschland stellt er etwa fest:
Demokratie als Kultur und Lebensweise musste in Deutschland mit besonderem Nachdruck verankert werden, weil Kriegsverlauf und Niederlage eine schwierige Ausgangslage geschaffen hatten: Die Kriegsniederlage führte zur Demokratie, was die Demokratie belastete. (81)
Und später heißt es:
Es bedurfte einer gewaltigen Erschütterung, um dieses Gefüge ins Wanken zu bringen. Die Weltwirtschaftskrise ließ die Entwicklung, die den Zeitgenossen seit dem Ersten Weltkrieg unaufhaltsam erschienen war, stillstehen. Das war nicht der Untergang. Aber die Routinen und Konventionen der Demokratien, die auch unter großem Druck so lange so gut funktioniert hatten, gerieten ins Stottern. Jetzt kam es auf kluges Regieren an, jetzt konnte jeder falsche Schritt in den Abgrund führen, jetzt waren antidemokratische Kräfte und Traditionen imstande, zur Bedrohung zu werden. Die liberale und soziale Demokratie war nicht am Ende. Sie ging sogar gestärkt aus der großen Krise hervor. Nur nicht in Deutschland. (112f.)
Das ist genau der Punkt, um den dieser Essay kreist: Die Entwicklung der Geschichte war — auch in Deutschland — keine zwangsläufige, der Weg aus der Krise hätte auch anders aussehen können. Versagen sieht Müller hier vor allem bei Brüning, dem er bescheinigt:
Vom Blickwinkel der Geschichte der Demokratie aus war es nicht diese oder jene Maßnahme der Brüning-Regierung, die den Untergang der Demokratie einleitete, nicht das Sparen selbst, sondern ein fundamentales intellektuelles Versagen, die Unfähigkeit, Politik in einer der Demokratie angemessenen Komplexität zu denken. (120)
Die Modi, Lösungen oder Strategien zur Bewältigung der Krise der Demokratie, darauf weist Müller ausdrücklich hin, hätten aber gerade das zur Bedingung gehabt: Die Beherrschung des „Theaters der Demokratie“ (127) — das scheint für Müller nicht nur der/ein wesentlicher Unterscheid zwischen Brüning und Roosevelt zu sein, sondern ein wesentliches Element erfolgreicher Krisenbewältigung. Zumindest kann man sein Lob von Roosevelts „demokratische[m] Experimentieren“ (129), das Müller wohl als angemessenstes Verfahren, die Krise zu be-/überwältigen, ansieht, so sehen.
Im Grunde ist das auch schon ein wesentlicher Teil des Hauptarguments: „Wirtschaftswachstum, Wohlfahrtsstaat und Demokratie waren unauflöslich miteinander verwoben.“ (138f.). Und da sind, gerade in Krisenzeiten, für Müller handelnde Personen gefragt, Individuen (hier eben Politiker (& Keynes ;-))), die diese Komplexität erkennen und zugleich im demokratischen Diskurs (dem “Theater”) angemessen argumentieren können. In allen seinen Beispielen macht Müller Aktive aus, die die Demokratie „retten“ (oder im falle Brünings, eben nicht). Angelegt ist das dabei durchaus in Strukturen, aber die Notwendigkeit der/einer Entscheidung und — das ist im demokratischen Handeln eben immer genauso wichtig — des Überzeugens bleibt (als vornehmlich individuelle Leistung!).
Als konkrete Überlebensstrategien von Demokratien identifiziert Müller dann vor allem drei Momente: Erstens die „soziale Stabilisierung durch Sozialpolitik“ (das heißt auch, in wirtschaftlichen Krisenzeiten die staatlichen Investitionen auszuweiten statt blind zu sparen), zweitens die „politische Integration durch demokratisches Pathos, durch Partizipation und Mobilisierung der Bürger“ und drittens eine Wirtschaftspolitik mit intensivem eingreifen in ökonomische Strukturen, „ohne Rücksicht auf ökonomische Effizienz“, d.h. hier v.a. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (152). Das kann man übrigens, so deutet Müller sehr vorsichtig an, durchaus auch für die gegenwärtige Krise als Lösungsfaktoren annehmen … Über alle Krisen hinaus aber gilt:
Demokratien mussten sich ihrer ständigen Gefährdung auch in guten Zeiten bewusst bleiben. Unter allen Umständen galt es, ihr zivilisatorischen Minimum zu bewahren. (152)
Seltsam: das fesselt oder berührt mich so gar nicht — ohne dass ich sagen könnte, warum. Irgendwie zünden die Bilder nicht, die Sprache (Stil und Form) setzt sich nicht fest, die Inhalte interessieren mich nicht. Die Formlosigkeit (gerne in langen Zweizeiler) ist zwar irgendwie gefühlt kookbooks-typisch, aber ich erkenne nichts, was die Texte für mich interessant machte. Vielleicht braucht’s nochmal eine Re-Lektüre in ein paar Wochen — wer weiß, möglicherweise sieht der Leseeindruck dann schon ganz anders aus …
Nette Momente hat das nämlich schon — zum Beispiel im ersten Zyklus, „zerbeultes gelände“: Der Wald, der wie auf Drogen scheint. Überhaupt spielen Zeichen (in) der Natur eine Rolle: das heißt nicht zufällig „zerbeultes gelände“, geht es doch immer wieder um die Einwirkung und die Eingriffe der Menschen in die Natur bzw. den Wald. Aber dann lese ich eben auch vieles, was mir nur seltsam und gewollt erscheint: wie gesagt, die Resonanz fehlt bei mir (was durchaus an diesem spezifischen Leser liegen kann): das sind nur lose gereihte gewollte Bilder für mich, nach den ersten Seiten ist aber auch dieser Reiz weg.
wir lehnen an der grenze zum gewitter,
schütteln die köpfe.unter unseren füßen
dehnt sich der steg. (11, zerbeultes gelände)
Ein hartes, sehr hartes und grausames Buch. War Porn sammelt Kriegsfotografie aus Irak und Afghanistan vor allem, die in Zeitungen und Zeitschriften nicht gedruckt wird. Sie zeigt nämlich vor allem die Opfer, die Reste, die von Menschen manchmal nur noch übrig bleiben, nach dem der Krieg über sie hinweg gegangen ist. Aber das ist eben auch eminent wichtig, so etwas zu sehen, sich selbst zuzumuten — Krieg, Gewalt passiert ja nicht einfach, sondern wird gemacht. Von Menschen. Überall und immer wieder. Daran muss man erinnern: wie das aussieht — abseits der schicken Kampfjets oder der harmlos verniedlichten “Drohnen”. Klug ist das insofern, als Bangert sehr wohl um die „Normalität“ seiner Bilder weiß: Die sind — und das gilt eben leider auch für das dargestellte — keineswegs außergewöhnlich. Ungewöhnlich ist nur, dass sie gezeigt werden. Das — als Buch — zu loben, hat einen bitteren Beigeschmack: Denn das ist zwar durchaus ein schönes Buch, schöner wäre es aber, wenn es War Porn gar nicht gäbe.
What you see in this book is my personal experience. And in a way it’s yours, too, because these things happened in your lifetime. You as a viewer are complicit. (3)
außerdem:
- Peter Weiss, Ästhetik des Widerstands — großartig und erschlagend, fesselnd und langweilend ohne Ende (je nach dem, wo man gerade ist — im 2. Buch hatte ich ganz schöne Durchhänger …)
- Johann Beer (das “Tagebuch”, Jucundi Jucundissimi wunderliche Lebens-Beschreibung u.a.)
- Christian Reuter, Schmelmuffskys wahrhafftige curiöse und sehr gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und Lande
- Joseph Roth, Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeisters
- Max Frisch, Tagebuch 1966–1971
Ins Netz gegangen am 30.6.:
- Leistungsschutzrecht: Eine Farce nähert sich ihrem Höhepunkt | ZEIT ONLINE — Till Kreuzter auf “Zeit Online” zu den neuesten Machenschaften rund um das “Leistungsschutzrecht”:
Politisch betrachtet wird das Ganze immer absurder. Schon die Einführung des LSR entbehrte jeglicher Begründung und Rechtfertigung. Der Versuch, zu dessen Durchsetzung auch noch das Kartellrecht ad absurdum zu führen, ist infam. Umso erstaunlicher und bedenklicher sind erste Anzeichen, dass sich die Politik erneut hinters Licht führen lässt.
- Das Platzspitz-Trauma | Das Platzspitz-Trauma — Große, gut aufbereitete Geschichte im “Tagesanzeiger” über die Züricher Drogenszene in den Neunzigern — und die entsprechenden Probleme bis zur “Lösung”:
Die riesige offene Drogenszene in den Achtziger- und Neunzigerjahren zählt zu den grössten sozialen Katastrophen Zürichs und der Schweiz überhaupt.
- Wikipedia’s bureaucracy problem and how to fix it. — Darius Jemielniak, selbst “Bürokrat” der Wikipedia, über das Bürokratie- (d.h. Regel-)Problem der Wikipedia:
Currently, the English Wikipedia has more than 50 official policies with a word count close to 150,000 (enough for a thick book). But that’s just the tip of the administrative iceberg. In addition to the policies, there are guidelines and essays—more than 450 devoted solely to proper conduct. You will also find more than 1,200 essays containing comments on the policies and guidelines, advisory notes, and analyses of the community. The total word count for all guidelines and essays can easily be in the magnitude of millions. It is safe to assume that no one in the world knows them all, and that Wikipedians really wallow in creating norms and regulations. I should know—I am one. But this is madness!
Sein Lösungsvorschlag:
A bureaucracy-busting squad of Wikipedians, who actively use and educate about the “ignore all rules” rule, should be recognized and commended within the community.
- Manipulierte Facebook-Nutzer und unethische Forschung | Tagebücher der Wissenschaft — Lars Fischer über die massiven ethischen Probleme der “Forschung”, die Facebook-Streams von Nutzern ohne deren Wissen und Einverständnis manipuliert
- “Alle hatten das Gefühl, angegriffen zu werden” — Gedenkjahr 1914 — derStandard.at › Wissenschaft —
Ins Netz gegangen am 15.6.:
- WM versus Theater: Sibylle Berg über deutsche Kultur — SPIEGEL ONLINE — wie eigentlich immer ist sibylle bergs kolumne diese woche sehr gut:
Wenn Deutschlands Mannschaft nicht gewinnen sollte, was für eine wunderbare Vorstellung! Tausende weinender Fußballfans liegen sich heulend in den Armen. Und trösten einander schulterklopfend mit den Worten: Ach komm, Schwamm drüber. Denk nur an unsere identitätsstiftende Kultur. Ja, du hast recht, Rudi, lass uns gleich mal wieder in ein gutes Berg-Stück gehen.
- Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe — “Es ist unbegreiflich, wie eine Unklugheit auf die andere folgt und wie incorrigibel er in seinen Schiefheiten ist.”
- Forschungsplatz Orgelbank: Gerd Zacher (1929–2014) | nmz — neue musikzeitung — Ein schöner Nachruf von Georg Beck:
Dass er sich seine Orgelbank mit Vorliebe als Forschungsplatz eingerichtet hat, war Wirkung fester Überzeugung: „Kompositions-Anwalt“ wollte er sein. Auf allen Feldern, dem des historischen Erbes wie dem der Zeitgenossenschaft, musste sich für ihn die Interpretation vor der Komposition verantworten. Egotripps verachtete er. Andererseits: Die „Königin“ unter den Instrumenten, dies war ihm wichtig, sollte Staat machen, sollte neue Kleider haben und sie auch stolz ausführen. Dafür hat sich Gerd Zacher ebenso eingesetzt wie für neue Formen kirchenmusikalischer Praxis, was für ihn mit der Fort- und Weiterbildung seiner Hörer notwendig zusammenfiel.
- Last Week Tonight with John Oliver (HBO): FIFA and the World Cup — YouTube — Die FIFA als die Kirche des Fußballs: Ein wunderbarer Überblick von John Oliver (Last Week Tonight with John Oliver)
- Wie das Internet die Wahrnehmung von Menschen verändert | schneeschmelze | texte — Der (bisher) beste — und vielleicht ehrlichste — Nachruf auf Frank Schirrmacher:
Das einzige, das sein Tod markiert, ist das Ende des Feuilletons. Ein letztes Aufbäumen der Pressekonzerne, um „Debatten“ zu inszenieren, crossmedial. Das konnte er.
- “heute-show” im ZDF — Da lacht der Ochsenfrosch — Medien — Süddeutsche.de — Detlef Esslinger bringt mein Unbehange an/mit der “heute-show” gut auf den Punkt:
Die “heute-show” gilt als Retter der deutschen Fernsehsatire. Dabei scheuen die Pointen der ZDF-Sendung niemals ein Klischee. Eine Haltung erkennt man bei den Machern nicht.
- Emser Depesche: Der Überlieferungszusammenhang | Aktenkunde — Holger Berwinkel setzt seinen detaillierten Bericht der aktenkundlichen Untersuchung der berühmten “Emser Depesche” fort. Da findet sich auch die schöne Anmerkung:
Aus der Literatur kennen wir die moderne Archivsignatur, R 11674, und auch Blattzahlen: 209–214. Also könnten wir uns sofort auf Abekens Bericht aus Ems stürzen. Viele Forscher tun das auch und verzichten darauf, “ihre” Funde im Aktenzusammenhang zu kontextualisieren. Sie tun das auf eigene Gefahr.