Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: experiment

spinnennetz in blühpflanzen

Ins Netz gegangen (17.6.)

Ins Netz gegan­gen am 17.6.:

  • Reisezeitun­ter­schiede unter­schiedlich­er Verkehrsarten von Tür zu Tür im Stadtverkehr – Real­ität und sub­jek­tive Wahrnehmungsverz­er­rung | Zukun­ft Mobil­ität → mar­tin ran­del­hoff hat eine schöne über­sicht über (durch­schnit­tliche) reisezeit­en im stadtverkehr zusam­mengestellt

    Eine Ursache für diese Verteilung mit ein­er starken Pkw-Nutzung auch bei gerin­gen Ent­fer­nun­gen liegt in ein­er häu­fig anzutr­e­f­fend­en sub­jek­tiv­en Fehlwahrnehmung bei der Bew­er­tung der Schnel­ligkeit bzw. der Reisezeit.

  • “Der eigent­liche Skan­dal liegt ganz woan­ders” | LTO → er anwalt son­nen­berg find­et deut­liche worte:

    LTO: Was hat die Aus­sage von CSU-Lan­des­grup­penchef Alexan­der Dobrindt zur “aggres­siv­en Anti-Abschiebe-Indus­trie” seit­ens der Anwälte bei Ihnen aus­gelöst?

    Son­nen­berg: Das ist eine saudumme sowie kack­freche Aus­sage von einem, der keine Ahnung hat. Das ist ein Dumm­schwätzer der Mann, das kön­nen Sie gerne so zitieren.

  • The Lifes­pan of a Lie | Medi­um → das stan­ford prison exper­i­ment ist wohl kaum noch als ern­sthaftes exper­i­ment zu hal­ten

    The appeal of the Stan­ford prison exper­i­ment seems to go deep­er than its sci­en­tif­ic valid­i­ty, per­haps because it tells us a sto­ry about our­selves that we des­per­ate­ly want to believe: that we, as indi­vid­u­als, can­not real­ly be held account­able for the some­times rep­re­hen­si­ble things we do. As trou­bling as it might seem to accept Zimbardo’s fall­en vision of human nature, it is also pro­found­ly lib­er­at­ing. It means we’re off the hook. Our actions are deter­mined by cir­cum­stance. Our fal­li­bil­i­ty is sit­u­a­tion­al. Just as the Gospel promised to absolve us of our sins if we would only believe, the SPE offered a form of redemp­tion tai­lor-made for a sci­en­tif­ic era, and we embraced it.

  • Two Hun­dred Fifty Things An Archi­tect Should Know | Read­ing Design → wun­der­bare liste von din­gen, die architek­ten — und eigentlich nicht nur die — wis­sen soll­ten, hat michael sorkin hier zusam­mengestellt
  • Hat das E‑Book eine Zukun­ft? | Medi­um → andré spiegel über das ebook und die zukun­ft

    Ich habe mir irgend­wann gesagt: Okay, es wird also in Zukun­ft alles in bei­den For­mat­en geben, auf Papi­er und dig­i­tal. Aber mit der Zeit musste ich ein­se­hen, dass die alten Bestände, alles was bis zum Ende des zwanzig­sten Jahrhun­derts erschienen ist, nur sehr begren­zt in die dig­i­tale Welt rüberge­lan­gen wer­den. Das ganze Suhrkamp-Uni­ver­sum allein: alles weg, und das wird sich auch nicht mehr ändern. Dann habe ich mir gesagt: Okay, also wird wenig­stens alles, was ab dem ein­undzwanzig­sten Jahrhun­dert erscheint, in bei­den Wel­ten vorhan­den sein. Aber jet­zt lerne ich, dass auch das nicht stimmt.

  • Debat­te oder Protest: Wie weit­er gegen rechts? | Blät­ter für deutsche und inter­na­tionale Poli­tik → warum die idee, man müsse nur mit den recht­en “reden”, unsinn ist und am prob­lem vor­bei geht:

    Sich selb­st in diese Tra­di­tion stel­lend, beschwört Kubitschek seit Jahren eben nicht die Debat­te, son­dern die finale Krise, um endlich zur erlösenden Tat schre­it­en zu kön­nen

Aus-Lese #26

Wolf­gang Her­rn­dorf: Arbeit und Struk­tur. Berlin: Rowohlt 2013. 447 Seit­en.

Das Blog von Wolf­gang Her­rn­dorf, eben “Arbeit und Struk­tur”, habe ich erst recht spät wahrgenom­men und dann auch immer etwas gefremdelt. Hier, in sein­er Ganzheit, wirkt das sehr anders. Und jet­zt ist Her­rn­dorfs Weblog “Arbeit und Struk­tur” wirk­lich so großar­tig, wie es viele Rezensen­ten beschreiben. Aber nicht, weil es so beson­ders direkt und “authen­tisch” ist (das ist es nicht, es ist Lit­er­atur und sorgfältig bear­beit­et), son­dern weil es den Ein­druck von Ehrlichkeit und skruti­nös­er Selb­st­be­fra­gung ver­mit­teln kann — ger­ade in den schwieri­gen Sit­u­a­tio­nen, z.B. dem Emp­fang der Diag­nose, den Berech­nun­gen der verbleiben­den Leben­szeit. Und weil es scho­nungs­los die Schwierigkeit­en recht unmit­tel­bar darstellt. Etwa auch die Verzwei­flung, dass es in Deutsch­land kaum möglich ist, als tod­kranker Men­sch sein Lebensende wirk­lich selb­st zu bes­tim­men. Schon früh tauchen die Über­legun­gen zu ein­er “Exit­strate­gie” (79) auf. Deut­lich merkt man aber auch einen Wan­del in den drei Jahren: vom lock­eren (beina­he …) Anfang, als Her­rn­dorf sich vor allem in die Arbeit (an Tschick und Sand) flüchtet, hin zum bit­teren, harten Ende. Das man­i­festiert sich auch in der Sprache, die dichter und härter, ja kantiger wird. Natür­lich geht es hier oft um die Krankheit, den Hirn­tu­mor (die “Raum­forderung”), aber nicht nur — er beschreibt auch die kleinen Siege des All­t­ags und die Seg­nun­gen der Arbeit, die poet­is­chen Gedanken: “Arbeit und Struk­tur” dient auch als Form der Ther­a­pie, die manch­mal selb­st etwas man­isch wird, manch­mal aber auch nur Pflicht ist; ist aber zugle­ich auch eine poet­is­che Arbeit mit den entsprechen­den Fol­gen.

Ich erfinde nichts, ist alles, was ich sagen kann. Ich samm­le, ich ordne, ich lasse aus. Im Über­schwang spon­tan­er Selb­st­drama­tisierung erkennbar falsch und unge­nau Beschriebenes wird oft erst im Nach­hinein neu beschrieben. (292)

Ein großer Spaß, dieses Ster­ben. Nur das Warten nervt. (401)

Michel Fou­cault: Der Wille zum Wis­sen. Sex­u­al­ität und Wahnsinn I. Frank­furt am Main: Suhrkamp 2012 (1983). 153 Seit­en.

Den Klas­sik­er der Diskurs­the­o­rie habe ich jet­zt endlich auch mal gele­sen — nicht so sehr um des The­mas, also der Unter­suchung der Erzäh­lung der Befreiung der Sex­u­al­ität, willen, son­dern der Meth­ode willen. Fou­cault zeigt ja hier, wie Macht­struk­turen in Diskursen und Dis­pos­i­tiv­en sich real­isieren, hier am Beispiel der Sex­u­al­ität und der Entwick­lung des Sprechens über sie, also der Reg­ulierung von Sex­u­al­ität in der Neuzeit Europas. Ins­beson­dere die Ubiq­ui­tät von Macht(strukturen) ist entschei­dene, die auch nicht irgend­wie zen­tral ges­teuert sind (und gegen­teilige Ergeb­nisse haben kön­nen: “Ironie dieses Dis­pos­i­tivs: es macht uns glauben, daß es darin um unsere ‚Befreiung‘ geht.” (153)).

Entschei­dend ist hier ja Fou­caults neuer Begriff von Macht, der über den Diskurs & nicht­diskur­sive For­ma­tio­nen geprägt ist. Dazu noch die Idee der Dis­pos­i­tive als Samm­lung von Umset­zungsstrate­gien, die über Diskurse hin­aus gehen und z.B. hier auch päd­a­gogis­che oder architek­tonis­che Pro­gramme umfasst — das ergibt die Beobach­tung der Macht von “unten”, die im Geständ­nis der Sex­u­al­ität Ver­hal­tensweisen und Ord­nun­gen der Gesellschaft aushan­delt.

Mara Gen­schel: Ref­eren­zfläche #3.

Dieses kleine, nur bei der Autorin selb­st in lim­i­tiert­er Auflage zu bek­om­mende Heft ist ein einzi­gar­tiges, großes, umfassendes Spiel mit Worten und Tex­ten und Bedeu­tun­gen und Lit­er­atur oder “Lit­er­atur”: Zwis­chen Cut-Up, Mon­tage, exper­i­mentell-avant­gardis­tis­ch­er Lyrik, Ready-Mades und wahrschein­lich noch einem Dutzend ander­er Kün­ste vagabundieren die sprach­spielerischen Text‑, Sprach‑, und Wort­fet­zen, die sich gegen­seit­ig ergänzen, per­mu­tieren und vari­ieren. Einige davon sind wirk­lich im wahrsten Sinne des Wortes Fet­zen: Aus­risse aus anderen Texte, aus jour­nal­is­tis­chen oder hand­schriftlich-pri­vat­en Erzeug­nis­sen, die hier mon­tiert und gek­lebt sind. Manch­es hin­ter­lässt ein­fach Rat­losigkeit, manch­es ruft ein amüsantes Augen­brauen­heben her­vor — und manche Seite begeis­tert ein­fach. Ob das Schar­la­taner­ie oder Genial­ität ist — keine Ahnung, ehrlich gesagt. Lang­weilig ist es aber auf jeden Fall nicht.

Peter Hand­ke: Die schö­nen Tage von Aran­juez. Ein Som­mer­dia­log. Berlin: Suhrkamp 2012. 70 Seit­en.

Ich habe oft solch eine Lust, zu erzählen, vor allem diese Erfahrung — diese Geschichte. Aber sowie ich bedrängt werde mit ‚Erzähl!‘: Vor­bei der Schwung. (9)

Ein karges Stück, das allein von sein­er Sprache lebt: “Ein Mann” und “Eine Frau” sitzen sich gegenüber und führen einen Dia­log. Nun ja, sie reden bei­de, aber nicht immer miteinan­der. Offen­bar gibt es vorher vere­in­barte Regeln und Fra­gen, deren Ver­stöße manch­mal moniert wer­den. Es geht um viel — um die Geschichte und Geschicht­en, ums Erzählen und die Erin­nerung. Aber auch um Licht und Schat­ten, Anziehung, Gebor­gen­heit und Ent­frem­dung oder Ernüchterung, um Begehren und Liebe. Dahin­ter ste­ht ein spielerisch-erzäh­lerisch-tas­ten­des Aus­loten der Beziehung(smöglichkeiten) zwis­chen Mann und Frau. Das Ganze — es sind ja nur wenige Seit­en — ist poet­isiert bis zum geht nicht mehr. Genau darin aber ist es schön!

Zum Glück ist das hier zwis­chen uns bei­den kein Dra­ma. Nichts als ein Som­mer­dia­log. (43)

Laß uns hier schweigen von Liebe. Höch­sten vielle­icht ein bißchen Melan­cholie im November.(49)

Tristano No. 6665

“Mul­ti­pler Roman in Einze­laus­gaben” ist der offzielle Unter­ti­tel dieses Büch­leins von Nan­ni Balestri­ni. Meines hat die Nr. 6665 (knapp daneben …) und ist ein­er von 109027350432000 Tristano No. 6665Roma­nen. Nun hat Balestri­ni natür­lich nicht eine solch irrsin­nige Zahl an Büch­ern geschrieben: Der Witz am “Tris­tano” ist, dass per Zufall­sal­go­rith­mus (im Com­put­er) die 20 Abschnitte für jedes der 10 Kapi­tel neu ange­ord­net weden. 1966, als Balestri­ni die Idee dazu hat­te, war das druck­tech­nisch noch nicht wirk­lich umzuset­zen — dank Dig­i­tal­druck ist das heute auch für Suhrkamp kein Prob­lem mehr. Die Entste­hung der Textblöcke ist dabei übri­gens auch schon ein Ergeb­nis kom­bi­na­torisch­er Prozesse: Balestri­ni hat aus ver­schiede­nen Quellen Sätze ent­nom­men, sie ihrer inneren Satzze­ichen beraubt und mehr oder min­der zufäl­lig gerei­ht. So viel also ganz kurz zu der Entste­hung des Romans.

Das ist — aus­nahm­sweise — nicht belan­g­los, weil es sich natür­lich mas­siv im Text nieder­schlägt: Eine “nor­male” Geschichte, eine herkömm­liche Hand­lung, ein linerar­er Plot — das alles gibt es hier nicht. Wohl gibt es wiederkehrende Motive — die aber in sich und in ihrer Verknüp­fung sehr unklar bleiben. Denn alle (!) Eigen­na­men wer­den durch ein uni­verselles “C” erset­zt. Trotz­dem lassen sich eine männliche und eine weib­liche Fig­ur unter­schei­den, die miteinan­der in Beziehung treten und diese auch wieder ver­lassen (Tris­tan!). Viel ließe sich sicher­lich kon­stru­ieren. Aber das funk­tion­iert natür­lich nur bed­ingt: Zum einen ist ja jedes Buch anders, hat eine eigene “Geschichte” durch die zufäl­lige Rei­hen­folge (wie hoch wäre eigentlch die Wahrschein­lichkeit, dass da zwei Mal das gle­ich Ergeb­nis her­auskommt?), zum anderen ist der Spaß an diesem Exper­i­ment eher, zu schauen, was mit Wörtern, Sätzen, Abschnit­ten passiert — wie sich manch­mal “Sinn” ergibt, wie er sozusagen aus Verse­hen “passiert”, wie die Sig­nifikan­ten sich — im Lese­prozess des wahrnehmenden Sub­jek­ts — eben doch wieder zu einem/mehreren Sig­nifikat­en gezwun­gen sehen, wie Leser und Text danach streben, sinnhaltig zu sein. Das allerd­ings ist zwar zunächst faszinierend zu beobacht­en, wird aber auch ermü­dend. Dabei umfasst der Tris­tano ger­ade mal 120 Seit­en. Doch das reicht mehr als genü­gend aus, das Prinzip und seine Fol­gen zu ver­ste­hen, begreifen und erfahren. Und auch zu erlei­den. Denn so span­nend das nar­ra­tol­o­gisch, semi­ol­o­gisch — kurz: intellek­tuell — ist bzw. erscheint, so trock­en kann die Lek­türe wer­den: Man hängt oft sehr in der Luft, sucht beim Lesen nach sinnhalti­gen Fun­da­menten oder Hor­i­zon­ten — das ist schon inter­es­sant, das an sich selb­st zu beobacht­en. Da aber der Text/die Texte durch die Mon­tage der Sätze aus fremder Urhe­ber­schaft und unbekan­nten Kon­tex­ten (manch­mal kann man etwas erah­nen, z.B. die wieder­holten Frag­ment zu Text und Erzählthe­o­rie1) auch sprach­lich nur sehr bed­ingt faszinieren (zumin­d­est in der deutschen Über­set­zung von Peter O. Chot­je­witz) ist das let­ztlich ein eingeschränk­tes Vergnü­gen: “Als ich diese Texte las fand ich sie nicht nur bedeu­tungs­los son­dern auch ohne irgen­dein Ele­ment das sich auf das vorgegebene The­ma bezieht. Ich bin so unglück­lich daß ich am lieb­sten ster­ben möchte.”

Dafür wird man neben den 120 Seit­en “Roman” (die den für Suhrkamp aus­ge­sprochen hohen Preis von 15 Euro haben) auch noch reich­lich mit Para­tex­ten ver­sorgt: Eine Vorbe­merkung des Ver­lags, eine Notiz des Autors eine Vor­wort von Umber­to Eco (zum Ver­fahren der Kom­bi­na­torik in der Geschichte der Wis­senschaften und Kün­ste, weniger zum “Tris­tano” selb­st), einem nachgestell­ten ana­lytis­chen Vor­wort zur franzö­sis­chen Aus­gabe 1972 von Jacque­line Rist und schließlich noch eine lit­er­aturgeschichtliche Einord­nung des “Tris­tano” in die exper­i­mentelle (Prosa-)Literatur des 20. Jahrhun­derts und das Lebenswerk Balestri­nis durch Peter O. Chot­je­witz — fast mehr Para- als ‑Text also …

Nan­ni Balestri­ni: Tris­tano No. 6665 von 109027350432000 Roma­nen. Ein mul­ti­pler Roman in Einze­laus­gaben. Frank­furt am Main: Suhrkamp 2009. 120+XXXII Seit­en. ISBN 978–3‑518–12579‑3.

 

Show 1 foot­note

  1. “Es wird drin­gend emp­fohlen das Buch bis zum Ende zu lesen. Je weit­er man kommt desto pack­ender wird es.”, heißt es z.B. ein­mal. Oder: “Es ist nicht nur ver­boten den nor­malen Gebrauch­swert der Sätze und ihre Eig­nung zur Kom­mu­nika­tion zu hin­ter­fra­gen sie erfahren zur gle­ichen Zeit auch eine zen­tripetale und zen­trifu­gale Beschle­u­ni­gung.”

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