Die Jubiläums-Dreifach-CD der King’s Singers mit dem schönen und passenden Titel Gold habe ich schon besprochen: klick. Es ist wirklich eine schöne und umfassende Dokumentation der Kernfähigkeiten der englischen Boy Group, auch nach der jüngsten Besetzungsänderung immer noch mit den alten klanglichen (Gold-)Qualitäten. Es ist ziemlich egal, ob sie Renaissance-Motetten oder raffinierte Arrangements von Pop-Songs singen. Alles, was sie sich vornehmen, machen sie sich unabdingbar zu eigen. Und so klingen dann fünf Jahrhunderte Musik doch ziemlich gleich – wie fünf Jahrzehnte King’s Singers eben.
The King’s Singers: Gold. Signum Records 2017. 67:37 + 61:15 + 65:37 Minuten.
Liebe für den und im Gesang
Ein Nachbar-Projekt sind die “King’s Men”, die am King’s College studieren (im Gegensatz zu den King’s Singers …). Ihr Album ist tatsächlich ganz liebreizend — es trägt ja auch den Titel Love from King’s. Zu den Liebeslied-Klassikern habe ich auch schon etwas (für die Chorzeit) geschrieben: klick. Hier bringen die „King’s Men“ die Musik und den Stimmenklang immer wieder wirklich zum Funkeln und auch fast zum ekstatischen Tanzen – so wie man sich auch die Liebe wünscht. Wie die „King’s Men“ hier mit eher bescheidenen musikalischen Mitteln einen enormen akustischen und emotionalen Raum und eine geradezu überwältigende klangliche Fülle zaubern, das ist einfach wunderbar.
The King’s Men: Love from King’s. The Recordings of King’s College Cambridge 2018. 47:22 Minuten.
Wiederentdeckte Monster
Die Musical Monsters sind eigentlich gar keine neue Musik. Aufgenommen wurde das nämlich schon 1980 bein Jazzfestival Willisau. Dessen Chef Niklaus Troxler hat die Bänder gut aufgehoben. Und Intakt konnte sie jetzt, nach umständlicher Rechteabklärung, endlich veröffentlichen. Zu hören ist ein Quintett mit großen Namen: Don Cherry, Irène Schweizer, Pierre Favre, John Tchicai und Léon Francioli, das es so sonst nicht zu hören gibt. Und tatsächlich merkt man das doch recht deutlich, dass hier große Meister*innen am Werk sind, auch wenn sie sonst nicht zusammen spielten. Aber Musical Monsters ist eine ausgelassene, fröhliche, intensive Musik. Selbst wenn das technisch nicht immer perfekt sein mag: Es ist lebendig. Und das ist dann doch irgendwie die Hauptsache.
Don Cherry, John Tchicai, Irène Schweizer, Léon Francioli, Pierre Favre: Musical Monsters. Intakt Records CD 269, 2016. 59:28 Minuten.
Eine kleine Intakt-Auslese aus dem zweiten Halbjahr — dank des vortrefflichen Abonnements bekomme ich ja immer alle Veröffentlichungen postwendend geliefert:
Musikalische Monster
Die Musical Monsters sind eigentlich gar keine neue Musik. Aufgenommen wurde das nämlich schon 1980 bein Jazzfestival Willisau. Dessen Chef Niklaus Troxler hat die Bänder gut aufgehoben. Und Intakt konnte sie jetzt, nach umständlicher Rechteabklärung, endlich veröffentlichen. Zu hören ist ein Quintett mit großen Namen: Don Cherry, Irène Schweizer, Pierre Favre, John Tchicai und Léon Francioli, das es so sonst nicht zu hören gibt. Am erstaunlichsten fand ich, wie wenig man die 36 Jahre, die die Aufnahme alt ist, der Musik anhört. Die vier großformatigen, größtenteils freien Improvisationen — es gibt ein paar melodisch fixierte Ankerpunkte, die als festgelegte Scharniere zwischen Solo- und Kollektivimprosiationen dienen — klingen erstaunlich frisch, ja fast zeitlos: Die intuitive Spontaneität und Intensität ist ziemlich fesselnd. Vor allem, weil sie von allem etwas bietet — verspielte Faxen, intime Momente, packende Energien … Und weil die fünf ziemlich gleichwertige, gleichermaßen faszinierende Musikerinnen sind, die sich immer wieder zu großen Momenten innerer Stärke aufschwingen, die in erstaunlicher Dichte aufeinander folgen und zuweilen sogar echtes Pathos erzeugen. Besonders faszinierend fand ich das in der zweiten Improvisation, mit über zwanzig Minuten auch die längste, in der sich großartige Soli (vor allem Tchicai sticht hier hervor) und spannende, in ihrer fragenden Offenheit ungemein fesselnde Gruppenimprovisationen ballen.
Don Cherry, John Tchicai, Irène Schweizer, Léon Francioli, Pierre Favre: Musical Monsters. Intakt Records CD 269, 2016. 59:28 Minuten.
Tiefe Gedächtnismusik
Für Deep Memory hat sich Barry Guy, der die CD im Trio mit Marilyn Crispell und Paul Lytton aufnahm, von den Bildern Hughie O’ Donoghues zu Kompositionen anregen lassen. Die sieben Stücke tragen die Titel der Bilder: Sleeper, Dark Days, Fallen Angeld oder Silenced Music heißen sie etwa. Das sind aber keine musikalischen Ekphrasen, sondern eher Kompositionen, die sich von dem Bild — seinen Farben, seiner Gestalt und vor allem vielleicht: seiner Stimmung — zu akustischen Eindrücken inspirieren lassen. Vieles davon lässt sich in weiten Bögen, oft verträumt-versponnen und/oder nachdenklich, tragen und speist sich nicht unwesentlich aus dem intimen Zusammenspiel des Trios, das ja schon seit gefühlten Ewigkeiten immer wieder miteinander musiziert und der Effekthascherei ausgesprochen abhold ist. Und das auch auf Deep Memory vor allem durch seine kammermusikalische Dichte und Intensität der farbenprächtigen, tendenziell melancholischen Klangmalerei gefällt. Die befinden sich, so hört es sich an, eigentlich immer auf der gleichen Wellenlänge, um dieses strapazierte, hier aber sehr passende Bild zu benutzen.
Barry Guy, Marilyn Crispell, Paul Lytton: Deep Memory. Intakt Records CD 273, 2016. 52:07 Minuten.
Am großen Rad drehen
Big Wheel Live ist die zweite CD von Christopher Irniger Pilgrim, wie der spannende Saxofonist, Komponist & Bandleader Irniger sein Quintett mit Stefan Aeby, Davie Gisler, Raffaele Bossard und Michi Stulz nennt. Auch wenn das “Live” wirklich auf Live-Aufnahmen (in Berlin, Ratzeburg und Altenburg) zurückgeht, klingt die CD richtig gut. Und das ist in sofern besonders schön, weil gerade Aeby ein sehr klangsinniger Pianist ist. Die ganze Musik auf Big Wheel Live zeichnet sich meines Erachtens nicht nur durch ihren kraftvollen Sound aus, sondern vor allem durch ihre Räumlichkeit und Tiefe. Oft ist das nur lose verbunden, nur locker gewebt, gibt so den Fünfen aber viel Chancen zum ausgreifenden Erforschen. Und der Freiraum zum Erkunden, die Öffnung in alle Himmelsrichtungen wird weidlich genutzt: Man hört eigentlich immer eine permanente Suchbewegung, die stets fortschreitet, die beim schönen Augenblick verweilt, sondern immer weiter will — wie es gute improvisierte Musik eben (fast) immer tut. Neben Aeby, der sich immer mehr zu einem sehr interessanten Pianist entwickeln zu scheint, hat mir hier vor allem die oft sehr spannende, überraschende Spielweise des Schlagzeugers Michi Stulz gefallen. Gitarrist Dave Gisler und Irnigers Saxophon umspielen sich oft sehr eng. Entscheidend aber in allen sechs Titeln: Das bleibt immer im Fluss, die Ideen versanden eigentlich nie, sondern finden immer neue Pfade und Wege.
Christoph Irniger Pilgrim: Big Wheel Live. Intakt Records CD 271, 2016. 62:44 Minuten.
Das unsterbliche Trio
Vielleicht ist es das europäische Jazztrio schlechthin, sicherlich wohl das am längsten amtierende: Alexander von Schlippenbach, Evan Parker und Paul Lovens sind das Schlippenbach-Trio. Und zwar schon ewig. Und jedes Jahr sind wie wieder unterwegs (die schöne Film-Dokumentation Aber das Wort Hund bellt ja nicht hat die jährliche “Winterreise” des Trios ja sehr anschaulich gemacht), immer wieder in der gleichen Besetzung mit immer anderer Musik — nicht ohne Selbstironie nennt Schlippenbach das im Begleitheft deshalb “das unsterbliche Trio”. Erstaunlich daran ist vor allem, dass es nicht langweilig wird, dass diese große Vertrautheit miteinander nicht in Belanglosigkeiten mündet. Auch das Warsaw Concert ist wieder eine aufnahmetechnisch und musikalisch gut gelungene Live-Aufnahme vom Oktober 2015. Und beim Schlippenbach-Trio heißt das: Eine einzige lange Improvisation ohne Pausen oder Unterbrechungen, ohne Verabredungen und ohne Komposition — knapp 52 Minuten sind das (dazu kommt noch eine kurze, fast humoristische Zugabe). Der erste Eindruck: Nette Musik — das funktioniert einfach, das passt. Und das ist wirklich Musik der Freiheit: Weil sie sich (und dem Publikum) nichts (mehr) beweisen müssen. Und: Weil sie viel können, enorm viel, sowohl alleine mit ihren Instrumenten als auch zusammen als Trio. Deshalb schöpften sie mit lockerer Hand auch in Warschau eine Vielfalt der Stimmungen. Vieles klingt vielleicht etwas altersmilde in der Klarheit und dem lyrischen Ausdruck (wenn man das so deuten möchte), stellenweise aber durchaus auch bohrend und insistierend. Das ist einfach ausgezeichneter, gelungener, “klassischer” Free Jazz, den man gerne wiederholt anhört und versucht nachzuvollziehen.
Schlippenbach Trio: Warsaw Concert. Intakt Records CD 275, 2016. 56:36 Minuten.
Zur Erleuchtung
Stefan Aeby war ja auch schon im Christoph Irniger Pilgrim vertreten, hier ist nun noch einmal als “Chef” mit seinem eigenen Trio zu hören, das aber mit Michi Stulz am Schlagzeug noch eine weitere Person mit dem Pilgrim-Ensemble teilt. To the Light ist eine Musik des Klanges: Ich höre hier nicht so sehr rhythmisch und/oder harmonische Strukturen, sondern vor allem Klänge. Klänge, die sich immer wieder zu kleinen Szenen und imaginären Bildern formen. Das Trio passt da in dieser Hinsicht ausgezeichnet zusammen: Nicht nur Stefan Aeby am Klavier ist ein bisschen ein Klangmagier, auch der Bass von André Pousaz hat erstaunliche Qualitäten (besonders schön im Titelstück wahrzunehmen, das sowieso eine ziemlich großartige Sache ist). Und Michi Stulz, mit halligen Becken und eng klingenden Toms zaubert für einen Schlagzeuger erstaunlich flächige Klänge. Das ist ein poetischer Sound, eine weiche und wandelbare Klanggestalt, die mir ausgezeichnet gefällt. Vieles ist (mindestens tendenziell) leicht verträumt und klingt mit romantisch-impressionistischem Einschlag, ist dabei aber keineswegs schwindsüchtig, sondern durchaus mit gesunder Kraft und Potenz musiziert, die aber nie auftrumpfend ausgespielt wird: So klingen Musiker, die sich nichts beweisen müssen, möchte ich vermuten. Die Musiker muss man sich wohl immer als lauschende Instrumentalisten vorstellen: Vielleicht ist es ja sowieso gerade das (Zu-)Hören, das gute Improvisatorinnen (oder Jazzer) ausmacht. Oder, wie es Florian Keller im Begleittext sehr treffend formuliert: “Eine Musik, die die Figur des Lauschers entstehen lässt. Und diesem viel Raum für seine Fantasie gewährt.”
Stefan Aeby Trio: To the Light. Intakt Records CD 274, 2016. xx:28 Minuten.