O ihr abgeholzten Bürger, vernehmt meine Worte.
— Archilachos (52 D./109 W.)
Schlagwort: antike
Ins Netz gegangen am 22.12.:
- Unter falscher Flagge. Rechte “Identitäre” setzen auf Antiken-Pop. Die Geschichte ihrer Symbole dürfte ihnen kaum gefallen | Pop History → eine wunderbare kleine geschichte: bodo mrozek erzählt, was hinter dem lambda als signet der identitären bewegung steckt — wie so oft, ist das zeichen, seine entstehung und nutzung deutlich weniger eindeutig als seine nutzer es gerne hätten oder suggerieren …
- Der normierte Alltag | Neues Deutschland → ein kurzer rückblick auf 100 jahre normung in deutschland — von kegelstiften bis rettungstragen …
- Ist dieser Mann an allem schuld? Oder doch Sigmar Gabriel? | zeit → bernd ulrich sehr richtig über das irrlichternde denken und argumentieren von sigmar gabriel und (zumindest teile) der spd:
Ökologie … wird als etwas Zweitrangiges und im Prinzip schon Geregeltes abgetan, die fundamentale Krise wird oftmals geleugnet. … Und als dann das ZDF segensreicherweise eine einschlägige Umfrage in Auftrag gab, waren alle ganz überrascht von den Ergebnissen: Auf die Frage, ob zum Erreichen der Klimaziele auch dann Kohlekraftwerke abgeschaltet werden sollten, wenn das ökonomisch negative Folgen haben könnte, antworteten zwei Drittel mit Ja. 82 Prozent gaben an, gegen den Klimawandel werde international nicht genug getan, während immerhin 52 Prozent der Meinung waren, selbst Deutschland tue hier zu wenig. Offenbar bewegen sich viele Politiker und Journalisten ökologisch gesehen in einer Sonderwelt.
- Bücher verlegen und Holz hacken | Deutschlandfunk Kultur → peter engstler im gespräch mit ulrike timm beim deutschlandfunk kultur
- Wozu noch Bibliotheken? | Deutschlandfunk → interessanter (langer) essay von michael knoche über bibliotheken und das internet, wenn auch manchmal etwas seltsame argumentation (u.a.: suchmaschinen erfassen nicht das ganze internet, deswegen benötigt man bibliotheken, die wissen mit ausgewählten werken bereitstellen …)
Die Fokussierung auf die eigene Sammlung reicht heute nicht mehr aus. Die eigene Sammlung muss als Teil eines Netzwerks begriffen werden. Bibliotheken müssen heute viel arbeitsteiliger vorgehen und viel mehr miteinander kooperieren, als dies in der Welt der gedruckten Literatur notwendig war. Bibliotheken müssen Bestand halten, aber sie funktionieren nur noch als System.
Ins Netz gegangen am 19.7.:
- Eine Welt jenseits von Facebook: Auf der Suche nach Alternativen zum digitalen Kapitalismus | Berliner Gazette → geert lovink über soziale netzwerke, offene netze und alternativen …
- Das Lutherjahr sollte ein großer Erfolg werden, doch die Besucher bleiben aus | FAZ → der faz ist aufgefallen, dass zwischen planung und wirklichkeit der besucherströme ein unterschied besteht — luther alleine scheint nicht überall die massen zu locken (da er aber ja überall ist, sind es wohl doch recht viele …)
- “Es ist eine andere Welt geworden” | Zeit → interessantes interview — gerade in seiner relativen unspektakulärtheit — mit markus hinterhäuser, dem intendanten der salzburger festspiele
- Die falschen Verheißungen der E‑Mobilität | Blätter für deutsche und internationale Politik → über die notwendigkeit einer mobilitärs-revolution — die wende vom verbrennungs- zum e‑motor reicht da nämlich bei weitem nicht aus …
Es bedarf nicht primär einer technologischen Erneuerung des bestehenden autodominierten Individualverkehrs, sondern einer umfassenden Mobilitätswende. Deren Ziel muss sein, den öffentlichen und schienengebundenen Verkehr zu stärken, die Fahrradinfrastruktur auszubauen und das Verkehrsaufkommen radikal zu verringern – und zwar auf den Straßen und in der Luft. Die fossilen Antriebsaggregate müssen zum Auslaufmodell werden und nur der unbedingt nötige Bedarf an individuellen Automobilen sollte auf eine elektrische Basis gestellt werden. Nur auf diese Weise könnten die gegenwärtigen Ansätze einer Verkehrswende zu einer umfassenden Mobilitätswende weiterentwickelt werden. […] Letztlich brauchen wir eher eine Revolution als eine Wende: Wir müssen das Automobil als zentrales Symbol für Fortschritt und sozialen Status wie auch für individuelle Freiheit entthronen – auf der Straße, aber auch in unseren Köpfen.
- In guter Ordnung, aber schlechter Verfassung | FAZ → michael knoche weist in darauf hin, dass deutschland sein kulturelles erbe der (gedruckten) bücher seit langem arg vernachlässigt … (auch in der faz darf man also für die digitalisierung sein ;-) …)
Wissenschaft und Gesellschaft brauchen beides, das Original und das Digitalisat. Aber weder mit der Bewahrung der Originale noch mit der Digitalisierung der historischen Buchbestände geht es in Deutschland recht voran. Dabei müsste die Sicherung der schriftlichen Überlieferung auf der kulturpolitischen Agenda ganz oben stehen. Ziel müsste sein, das Gros der alten Bestände in Bibliotheken und Archiven zugleich zu erhalten und digital verfügbar zu machen, natürlich in klug abgestimmter Weise.
Beide Aspekte ließen sich fabelhaft miteinander kombinieren, wenn entsprechende Fördermittel zur Verfügung stünden: Was digitalisiert wird, sollte zugleich konservatorisch gesichert werden. Was gesichert ist, wird auch digitalisiert. Das Prinzip lautet: Konversion nicht ohne Konservierung.
- Mystery of Greek Amphitheater’s Amazing Sound Finally Solved | Live Science → wieder ein rätsel gelöst: die phänomenale akustik des theaters von epidauros liegt an den materialien …
Ins Netz gegangen am 18.6.:
- Stefan Niggemeier | Der Ehrgeiz des Stefan Raab — stefan niggemeier schreibt einen nachruf auf stefan raab (zumindest liest es sich über weite strecken so …)
- Profil, verschachert für 25 Cent — constanze kurz in ihrer faz-kolumne über die seltsame digitalpolitik der kanzlerin
Warum sollte sich aber daran in Zukunft nicht mehr nur ein kleiner Kreis von Konzernen eine goldene Nase verdienen, sondern plötzlich – falls endlich die störenden Skeptiker aus dem Weg gehen – Big Data zum Segen für die deutsche Wirtschaft werden? Glaubt die Bundeskanzlerin, die Big-Data-Könige werden ihre Server-Hallen, Cloud-Standorte und Rechenzentren nebst den Forschungszentren und den klügsten Data-Mining-Köpfen, die sie international eingekauft haben, den deutschen Unternehmern abtreten, wenn diese nur ihre skeptische Haltung ablegen?
- Rachel Dolezal: Die Farbenfrage | ZEIT ONLINE — ein sehr kluger, ausführlicher und abwägender text von nils markwardt über rachel dolezal, schwarz und weiß und die (aus deutscher/meiner sicht reichlich merkwürdig anmutende) diskussion um “rasse” als identitätsmarker
Doch was folgt nun aus dem Ganzen? Sofern race eine soziale Konstruktion ist, stellt sich die hypothetische Frage, ob das Passing von Rachel Dolezal nicht zumindest dann legitim gewesen wäre, wenn sie mit offenen Karten gespielt hätte, wenn sie also von vornherein publik gemacht hätte, dass sie als Weiße geboren wurde, sich aber als Schwarze fühlt.
Doch selbst dann hätte dieser Fall ein entscheidendes Problem, das sich aus einer historischen Unterdrückungsgeschichte ableitet. Wenn man solch ein transracial-Konzept radikal zu Ende denkt, hieße dies ja, dass letztlich jede Form ethnischer Selbstbeschreibung individuell verhandelbar würde. Und dies würde dann, zumindest bis zu einem gewissen Grade, ebenfalls bedeuten, dass letztlich auch jene affirmativen schwarzen Identitätskonzepte, etwa blackness oder négritude, die nicht zuletzt auch als Reaktion auf jahrhundertelange Repression durch Weiße entstanden sind, obsolet würden oder sich zumindest soweit öffnen müssten, dass auch Weiße “I’m proud to be black” sagen könnten.
Sprich: Man hätte, wenn auch ungewollt und mit den Mitteln weißer dekonstruktivistischer Essentialismuskritik, abermals eine Situation, in der Schwarzen gesagt wird, wie sie ihre Kultur zu definieren haben. - Wie ich Feminist wurde | Logbuch Suhrkamp — ein sehr persönlicher, aufschlussreicher und interessanter text von thomas meinecke (fast eine art bekenntnis), im dem es um den weg zum selbst und zum schreiben (und auch: dem verstehen von welt und mensch) geht
In diesem ästhetisch-politischen Spalt lassen sich diskursive Romane verfassen, die von anderen Dingen erzählen als jene, die von den großen männlichen, vermeintlich geschlossenen, auf jeden Fall sich als autonom inszenierenden Autor-Subjekten (oft als Genies bezeichnet) verfasst wurden (und weiterhin munter verfasst werden). Die große Binarität, wie sie dem an der Kategorie der Klasse orientierten politischen Denken und Schreiben anhaftete, wurde nun durch einen genauen Blick auf die kleinen Unterschiede, auf subtile Verschiebungen und Modulationen abgelöst
- Treasure In Heaven | Lapham’s Quarterly — peter brown über die “kampagne” des frühen christentums und besonders hieronymus’, euergetismus in christliches almosengeben zu verwandeln
Altogether, to accept Christian preaching was to make a major shift in one’s image of society. In terms of the social imagination, it involved nothing less than moving from a closed universe to an open one. We begin, in the classical world, with a honeycomb of little cities, in each of which the rich thought of nurturing only their fellow citizens, with little regard to whether any of them were poor. We end, in Christian times, with an open universe, where society as a whole—in town and countryside alike—was seen to be ruled, as if by a universal law of gravity, by a single, bleak division between rich and poor. The duty of the Christian preacher was to urge the rich no longer to spend their money on their beloved, well-known city, but to lose it, almost heedlessly, in the faceless mass of the poor. Only that utterly counterfactual gesture—a gesture that owed nothing to the claims of one’s hometown or of one’s fellow citizens—would earn the rich “treasure in heaven.”
- Der Pianist Maurizio Pollini im Interview — ein sehr, sehr gutes, interessantes und intelligentes gespräch zwischen zwei beethoven-liebhabern, jan brachmann und maurizio pollini, anlässlich der vollendung seiner aufnahme aller beethoven-sonate
Es gibt in Beethovens Musik Momente, die in die Nähe religiöser Erfahrung führen können. Momente von gesteigertem Enthusiasmus. Ich will das gar nicht leugnen. Ich persönlich finde, dass man nicht notwendigerweise an Religion denken muss, um diese Musik zu würdigen. Es ist nur deren Größe, welche die ästhetische Begeisterung schnell ins Religiöse umschlagen lassen kann.[…]
Das Problem liegt darin, dass Beethovens Werke so vielgestaltig sind. Er wechselt Stil und Stimmung von Stück zu Stück. Es wiederholt sich nichts. Deshalb sind diese Sonaten so schwer zu spielen. Die Kenntnis der einen Sonate hilft Ihnen überhaupt nicht weiter bei der nächsten. - Doppelte Unfallgefahr: Helmträger in Münster öfter im Krankenhaus | Radhelmfakten — eine etwas beunruhigende sammlung von daten der unfallstatistiken: es scheint so, dass die verletzungsrate bei helmträgern in unfällen deutlich größer ist als bei nicht-helmträgern. das widerspricht schön jeder alltagslogik — und es ist überhaupt nicht klar, warum das so ist …
- DER NERD: EINE MINI-PHÄNOMENOLOGIE | Das Schönste an Deutschland ist die Autobahn — sehr coole überlegungen von georg seeßlen zum nerdtum, der pop-)kultur und insbesondere dem deutschen nerd:
Jede Kultur hat die Nerds, die sie verdient. Den Geist einer Comic-Serie, eines TV-Events, eines Star-Imagos oder einer Buchreihe, einer Sportart, einer Kommunikationstechnik, einer Produktlinie erkennt man an ihren Nerds.[…]
Der deutsche Nerd liebt nicht, was er sich erwählt hat, sondern er hasst, was dem entgegen oder auch nur außerhalb steht. Der deutsche Nerd denkt immer hierarchisch. Er will unbedingt Ober-Nerd werden. Er will das Nerd-Tum organisieren. Statt Exegesen produziert er Vorschriften, statt Gottesdiensten seines Kultes hält er Gerichte.
Ins Netz gegangen am 15.5.:
- The Robot Car of Tomorrow May Just Be Programmed to Hit You | Autopia | WIRED — Patrick Lin spielt ein paar ehtische Probleme bei der Programmierung von autonom fahrenden Autos durch — vor allem, wie man entscheidet, wen man im Zweifelsfall tötet bei einem Unfall — spannende Sache!
- Begegnung mit Christoph Waltz: Ein Glücksfall, kein Verdienst — Kino — FAZ — Ein schönes Porträt von Verena Lueken, die sich lange mit Waltz unterhalten hat:
Wir haben inzwischen einige Ermüdungsphasen hinter uns, Pausen, wie sie zu jedem Gespräch gehören, Abschweifungen, aber Waltz strahlt immer noch. Nur für wenige Sekunden hatte er mal statt seines fröhlichen ein dunkel sardonisches Lächeln gezeigt, und selbst als ich in einem unaufmerksamen Augenblick ihm eine Rolle zuschrieb, die ein anderer gespielt hatte, schien er nicht verärgert zu sein. Offenbar hat er tatsächlich alle Frustration hinter sich gelassen.
- Why did the First Crusade succeed while later Crusades failed — <blockqute>Through this one can see how the successes of the first Crusade are what led to the failures of all those which followed afterwards.</blockqute>
- Römischer Lagerfund: Thüringer Legionäre — FAZ -
Römische Legionen marschierten auch über Thüringischen Boden. Was schon lange vermutet wurde, macht der Fund eines römischen Marschlagers im Kyffhäuserkreis zur Gewissheit./
- Neue Tübinger Stadtschreiberin: Ohne das Schreiben wäre ja alles sinnlos — Zeitungsverlag Waiblingen — Ein Interview mit Monika Rinck:
Wie sehen Sie die Zukunft der Lyrik?
Hier gönne ich mir den Luxus, ahnungslos zu sein.
Ins Netz gegangen am 4.12.:
- Mord: Der Paragraf | ZEIT ONLINE — Niedrige Beweggründe sollten kein Maßstab mehr sein
Der Mord-Paragraf des Strafgesetzbuches muss dringend überarbeitet werden. Beileibe nicht nur, weil er von Nazi-Juristen formuliert wurde. - Geliefert | zynæsthesie — wunderbare Lieferung. RT @zynaesthesie: Geliefert
- Archaeology in Greece Online — An indispensible tool for researchers in all disciplines who wish to learn about the latest archaeological discoveries in Greece and Cyprus, Archaeology in Greece Online/Chronique des fouilles en ligne is a richly illustrated topographical database with a mapping feature to locate field projects within sites and regions.
- Lyrikerin Elke Erb : “Es ist Leben, konkret, nicht Spielerei” — DIE WELT — Elke Erb spricht über das Schreiben und Leben:
Es ist eine aktive Welt und es kommt darauf an, wie man spricht. Es ist doch ganz egal, wovon man spricht, Hauptsache, es wird anständig erzählt.
Die Sprache ist ein lebendiges Ding und nicht etwas, was schon festgelegt ist. Was man übrigens auch sehen kann, wenn die Kleinlebendigen kommen, die kleinen Kinder, wenn sie die Sprache nachbilden wollen und Vor- und Nachsilben ausprobieren.
Und natürlich, ganz zentral:
Die Sprache lebt, wie gesagt. Es ist Leben, konkret, nicht Spielerei.
(Die Fragen von Dorothea von Törne kommen mir allerdings durchaus seltsam vor, wie hingeschmissene Brocken, die warten, ob Erb irgendwie darauf reagieren mag …
- Ein letztes Gespräch mit Peter Kurzeck: „Wie sollst du dir jetzt den ersetzen?“ — Feuilleton — FAZ — Ein Gespräch mit Peter Kurzeck im September 2013 über Walter Kempowski, Chronisten und Schriftsteller und das Tagebuchschreiben, das noch einmal Kurzecks Position (zum Schreiben und zur Welt) sehr schön zusammenfasst:
Ja, man denkt, man sei für die Bewahrung der Welt zuständig.
Schön auch diese beiläufige Bemerkung:
Man muss schon aufpassen, was man liest.
Das Heft bietet vor allem eines: Viele schöne Bilder luftiger oder gar nicht bekleideter Menschen … Die Texte haben mich nämlich dieses Mal etwas enttäuscht: Joachim Radkau haut im einleitenden Überblicksartikel erst mal kräftig auf alle anderen Historiker aller Provenienzen ein, die die (Lebens-)Reformbewegungen der Jahrhundertwende sowieso alle falsch verstanden haben (im Gegensatz zu ihm selbst). Interessant ist dann noch der Text über den “Monte Verità”, Andreas Molitors Text über die Darmstädter Mathildenhöhe hingegen bleibt flach — wie viele andere Beiträge auch. Insgesamt sicher eines der schlechteren Hefte — mit der Geschichte einer Idee kommt die Redaktion mit ihren gewohnten Mitteln offenbar nicht zurande: Das ist nur eine lange Reihung von Einzelphänomenen, die kaum ein großes oder nur ein größeres Bild ergeben.
Vier Essays über Geschichte an sich, als Problem und Lösung, über die Verantwortung von Historikern gegenüber der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft — all diese Grundsatzfragen beim Nachdenken über und Arbeit mit und an der Geschichte eben. Das ist alles sehr reflektiert, aber auch sehr trocken und strikt theoretisch: typisch Rüsen eben … Typisch für ihn ist auch, immer von einer (existenzialistischen) “Anthropologie des Historischen” auszugehen und daraus seine Überlegungen zu Wert und Gestalt der Geschichte zu entwickeln.
Zu dem Pergamon Poems auf Papier und Silber-/Mattscheibe habe ich diese Woche schon ein bisschen etwas geschrieben: klick.
Ein schön gemachtes Buch, mit ausführlichem Begleitmaterial, einer neuen, gut lesbaren Übersetzung mit reichlicher Kommentierung (auch wenn mich die Fußnoten fast ein bisschen zu sehr ablenken beim Lesen des Haupttextes). Vor allem aber ein wirklich großartiger Roman, ein Hochfest des unzuverlässigen Erzählens — denn das einzige, das sicher ist, ist, dass nichts sicher ist, was hier erzählt wird … — da hilft auch die Beteuerung des Erzählers nicht viel:
Ich berichte diese Umstände ganz detailgetreu, und ich berichte sie, wohlverstanden, exakt so, wie sie uns erschienen. (199)
Davon darf man sich den Spaß aber nicht verderben lassen. Im Gegenteil, der schlitzohrige Erzähler ist ein nicht unerheblicher Grund, warum diese Abenteuergeschichte einer Seereise mit blindem Passagier, Meuterei, Schiffsbruch, Südsee-Handel, Südpol-Expedition und Kämpfen mit Eingeborenen … so unterhaltsam daherkommt und so ein raffinierter Text ist.
Mit diesem Blick beginnt Europa! (29)
Gerhard Falkner spricht, befragt von dem, nunja, Literaturfernsehredner Denis Scheck, im Fernsehen über seine Lyrik im allgemeinen und seinen neuen Lyrikband Pergamon Poems — natürlich im Pergamon-Altar. So bin ich auf dieses schmale Bändchen mit den neuen Gedichten von Gerhard Falkner (der spätestens seit “Gegensprechstadt — ground zero” auf meiner Liste geschätzer Lyriker steht) gestoßen. Ganz nett anzuschauen und vor allem anzuhören sind die fünf Filme — eigentlich ja eher Trailer — die die ersten Gedichte des Bandes inszenieren und die dem Bändchen als DVD beigelegt sind: Gerade in ihrer Zurückhaltung fand ich das ganz gut gemacht, die Konzentration auf den Text und die Rezitation der Schauspielerinnen zusammen mit den beschriebenen Bildern des Pergamon-Altars: Minimalistisch, aber nicht nüchtern — im Gegenteil, sogar voller wohldosiertem Pathos. Aber bei Göttergedichten und solch mythisch und erinnerungstechnisch aufgeladenem Gegenstadt geht das nicht anders …: “Das Beispiel, das die Griechen gaben / man wird es nicht mehr los” (37)
Die Gedichte selbst nehmen die Betrachtung der Figuren und Geschichten des Pergamon-Altars nicht nur zum Thema, sondern zum Ausgangspunkt — für Fragen vor allem: Das hat gerne einen etwas kultur- und/oder zivilsationskritischen Einschlag. Vor allem aber geht es um Faszination: Die Faszination des Betrachters durch die Schönheit der Steine, die Lebendigkeit ihrer Gestalten und — auch — der Gewalt ihrer Taten, der Größe und Unmittelbarkeit. Das ist der Punkt, wo immer wieder die fragende Gegenwartskritik ansetzt: Haben wir heute noch solche Größe? Wie sähe oder sieht sie aus? “Wie viel Gigabyte hat dieser Fries?”, fragt Falkner dann auch entsprechend. Und genau aus dieser Spannung zwischen modern-technisiert-medialisierter Gegenwart und mythisch-kämpferisch-heldenhafter Vergangenheit ziehen die kurzen, oft locker gefügt erscheinenden Gedichte ihre Spannung:
Oh, Mann!
Hier fliegen Räume auseinander. Hier treten Zeiten
aus den Schranken, Götter wanken. Alles ist entfesselt.
Ist mit sich im Übermaß und dennoch reduziert und klar
… (Otos, 27)
Was Falkner außerdem immer wieder neu fasziniert: Die stille Handlung, die eingefrorene Bewegung, der ewige Augenblick — “ein Tanz der Tat”:
wenn Aphrodite tanzt, raschelt der Marmor (43)
An anderer Stelle heißt das “Actionkino / festgehalten als Still”. Und ähnlich funktionieren auch seine kurzen Gedichte: Sie sind voller Bewegung und Drang, voller Aufbruch und Tatkraft — und bleiben doch bei einem Augenblick, erstrecken sich nie über längere Zeiten oder entfaltete Vorgänge. Schade nur, dass es so wenig geworden ist: Ohne die englische Übersetzung und viel Paratext hätte das nicht einmal für den sowieso schon geringen Umfang eines Lyrikbandes gereicht.
Gerhard Falkner: Pergamon Poems. Gedichte+Clips (dt-en). Übertagen von Mark Anderson. Berlin: kookbooks 20012. 64 Seiten + DVD.
Das Gespräch mit Denis Scheck:
Und hier sind auch die fünf angesprochenen kurzen Filme, die zu dem Auftrag für die “Pergamon Poems” führten, zu finden: