Ein großartiges Set, das die vier jungen Herren von Amok Amor da für die kleine Schar interessierter Lauscher auf der Hinterbühne des Rüsselsheimer Theaters spielten. Dabei bescheiden sie sich mit gut 75 Minuten am Stück. Darein packen sie drei „Stücke“ und eine Zugabe. Von den Titel habe ich fast nichts verstanden, zusammengereimt habe ich mir: „Als Sozialist geboren, als Sozialist sterben“ und „Sons of Engels Marx“ (oder so ähnlich, die Richtung ist aber klar …) — das macht aber nichts, die Titel (und Ensemblenamen) von (Free) Jazz sind ja eh’ so eine Sache … Gleiches gilt übrigens für Selbstbeschreibungen: Auf Christian Lillingers Homepage steht zu Amok Amor unter anderem:
This is urgent music. Amok Amor surveys the threats and prospects of music in our world today.
The music is aggressive yet gentle. Bla bla bla bla bla. The world is changing, but this music will survive.
Amok Amor is essential listening for anyone who is concerned about the primary challenges still facing the human race and is wondering where to find a ray of hope.
— stimmt alles und sagt natürlich gar nichts …
Aber die Musik halt. Die ist bei Amok Amor genial. Aufmerksam geworden bin ich auf das Quartett, weil das eine der vielen, vielen Formationen ist, in denen der Schlagwerker Christian Lillinger gerade seine Kunst in die Waagschale wirft. Und so ziemlich alles, was ich bisher von & mit ihm gehört habe, ist zumindest interessant bis großartig — etwa die Vierergruppe Gschlößl, Christian Lillingers Grund oder Grünen.
Auch in Rüsselsheim hat er seine hypernervösen Handgelenke im Dauereinsatz. Ein bescheidenes Schlagzeug reicht ihm, zumal er es auch noch während des Spielens umbaut (und auch den Bühnenboden zum Quietschen-Kreischen mitbenutzt …). Das rumpelt dröhnend (die Tom Toms dumpf, die Snare tief), helle Cymbals und Rim-Tänzereien komplettieren das zu einem zwischen wilden Chaos und straighten Punk schwankendem Dauerfeuer, das er von ersten Moment an mit dem Bassisten Petter Eldh zusammen entfacht.
Ansonsten gilt: vielschichtige Vielfalt und Komplexität sind Pflicht und Kür zugleich. Immer, wenn man meint, etwas kapiert zu haben, ändert sich alles. Offenbar genau komponierte Cues, die erstaunlich präzise angesteuert werden. Immer, wenn man die Struktur verstanden zu haben meint, kippt das Klangbild, stolpert der Beat, verrrutscht die Melodie, krachen die Harmonien in- und aufeinander und das ewige Spiel geht weiter und von vorne los, anarchistisch und präzise abgestimmt zugleich. Überhaupt: Das instrumentaltechnische Niveau ist irre, stupende Virtuosität zeigen alle vier: Peter Evans an der Trompete und Wanja Slavin am Altsaxophon sind ein faszinierendes Duo im Quartett. Bassist Petter Eldh blieb etwas blass, was aber auch am grummeling-verwaschenen Sound des verstärkten Kontrabasses gelegen haben kann.
Viel klarer dagegen die beiden Bläser. Peter Evans gibt sich am Beginn lässig und straight, später lässt sich dann auch die Dörner-Schule deutlich vernehmen: Hauchend, flüsternd, knallend, vor allem aber — dank Zirkularatmung auch unablässig dabei — hyperaktiv und reaktiv. Auch Wanja Slavins Saxophon zeichnet ein wunderbar weicher und klarer Sound mit hoher Durchsetzungskraft aus, zumal Slavin damit sehr tolle Farben und Klangmuster gestalten kann.
Die entfalten sich immer wieder im scheinbar magischen Zusammenspiel: Eng geführte, auch tolle Unisono-Passagen scheinen auf, dann ein abrupter Wechsel oder allmähliches Abgleiten in feinste, ideensprühende freie Improvisationen. Die eine Art Gerüst und zumindest groben Verlauf vorgebende Kompositionen bauen gerne auf minimal(istisch)en Motiven auf, setzen auf Wiederholung und Variation. Überhaupt bietet Amok Amor eine Musik, die nur nach der Postmoderne denkbar ist: Voller Selbstreflexion und voller Anspielungen und Bezüge auf die gesamte Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts (na gut, nicht alles — aber sehr vieles …), aber kein „akademisches“ Produkt, sondern eine lebendige Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart.
Vor allem aber hat Amok Amor als Quartett einen unverschämten Drive, die Musik bleibt im kontinuierlichen, fesselnden Flow. Da ist kein Leerlauf zu spüren, nirgends und niemals: Amok Amor saugt die Energie von Raum und Publikum auf und spuckt sie, wie ein umgekehrtes Schwarzes Loch, in Klangformen wieder und wieder aus, bis die Hörgänge verknotet sind und das Hirn raucht …
Ach, es war einfach großartig, enorm vitalisierend und enthusiasmierend — wie Jazz eben sein soll/kann …
Amok Amor (Christian Lillinger, Peter Evans, Wanja Slavin, Petter Eldh). Theater Rüsselsheim, Studiobühne – 10. Mai 2017.