Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: alke stachler

Aus-Lese #48

Thomas Brus­sig: Wasser­far­ben. Berlin: Auf­bau Dig­i­tal 2016. 183 Seit­en. ISBN 978–3‑8412–1084‑5.

brussig, wasserfarben (cover)Wasser­far­ben ist der erste Roman von Brus­sig, 1991 unter einem Pseu­do­nym erschienen und jet­zt als E‑Book veröf­fentlicht, deshalb ist er sozusagen bei mir gelandet. Es wird erzählt von einem Abi­turi­ent in Ost-Berlin am Über­gangspunkt zwis­chen noch Schule und bald Leben. Es soll also ganz offen­sichtlich ein com­ing-of-age-Roman sein. Das ist es aber nicht so recht — weil der “Held” sich wenig bis gar nicht entwick­elt und erst am Ende von seinem älteren Brud­er erk­lärt bekommt, wie man erwach­sen wird … Der Text ist vielle­icht typ­isch Brus­sig: gewollt rotzig und trotzig. Und dieses bemühte Wollen merkt man dem Text lei­der immer wieder an — nicht an allen Stellen, aber doch häu­fig. Genau wie er bemüht “frech” sein will ist er auch etwas bemüht witzig. Vor allem aber fehlt mir die eigentliche Moti­va­tion des Erzäh­lers, warum er so ist, wie er ist. Das wird ein­fach nicht klar.

Wasser­far­ben ist dabei sowieso von einem eher lah­men Witz und hink­en­dem Esprit gekennze­ich­net. Das passt insofern, als auch die beschriebene DDR-Jugend in den 80ern so halb auf­säs­sig ist: nicht ganz angepasst, aber auch kein Hang zur Totalver­weigerung oder wenig­stens “ordentlich­er” Oppo­si­tion. Das, der Held und seine Fre­unde und Bekan­nte, denen er im Lauf der Erzäh­lung begeg­net, zeigen dafür sehr schön den Druck, den das Sys­tem auf­bauen und ausüben kon­nte, vor allem in der Schule, aber auch im Pri­vatleben, wo Arnold, der Pro­tag­o­nist und Erzäh­ler (der den Leser schön brav siezt und auch son­st so seine extrem angepassten Momente hat), dur­chaus aneckt — vor allem wohl aus einem unspez­i­fis­chen Frei­heits­drang, weniger aus grund­sät­zlich­er Oppo­si­tion. Das Buch hat dur­chaus einige nette Momente, die auch mal zum Schmun­zeln anre­gen kön­nen, erschien mir auf die Dauer aber etwas fad — so wie die Jugend und die DDR selb­st vielle­icht. Nicht umson­st beschreiben die sich als “wasser­far­ben” im Sinne von: diese Jugend hat die Farbe von Wass­er, ist also ziem­lich blass, durch­scheinend, aber auch vielfältig.

Alke Stach­ler: Dün­ner Ort. Mit fotografis­chen Illus­tra­tio­nen von Sarah Oswald. Salzburg: edi­tion mosaik 2016 (edi­tion mosaik 1.2). 64 Seit­en. ISBN 9783200044548.

Meinen Ein­druck dieses feinen Büch­leins, dass es mir nach anfänglich­er Dis­tanz doch ziem­lich ange­tan hat, habe ich an einem anderen Ort aufgeschrieben: klick.

John Corbett/span>: A Listener’s Guide to Free Impro­vi­sa­tion. Chica­go, Lon­don: The Uni­ver­si­ty of Chica­go Press 2016. 172 Seit­en. ISBN 978–0‑226–35380‑7.

Diese gelun­gene Ein­führung in die frei impro­visierte Musik für inter­essierte Hör­er und Hörerin­nen habe ich auch schon in einem Extra-Beitrag gelobt: klick.

Nora Gom­ringer: ach du je. Luzern: Der gesunde Men­schen­ver­sand 2015 (edi­tion spo­ken script/Sprechtexte 16).153 Seit­en. ISBN 9783038530138.

gomringer, ach du je (cover)Dieser Band ver­sam­melt Sprech­texte Gom­ringers. Die zie­len auf die Stimme und ihre kör­per­liche Mate­ri­al­ität, sie set­zen sie voraus, sie machen sie zu einem Teil des Textes selb­st — oder, wie es im Nach­wort heißt: “Die Nieder­schrift ist für sie ein Behelf, um das lyrische schlechthin zur Erfül­lung zu brin­gen.” (144). Das ist gewis­ser­maßen Vorteil und Prob­lem zugle­ich. Dass man den Tex­ten ihre Stimme sozusagen immer anmerkt, ist kon­se­quent. Und sie passen damit natür­lich sehr gut in die “edi­tion spo­ken script”. Ich — und das ist eben eine rein sub­jek­tive Posi­tion — mag das allerd­ings oft nicht so gerne, zu sprechende/gesprochene Texte lesen — da fehlt ein­fach wesentliche Dimen­sion beim “bloßen” Lesen. Und was übrig bleibt, funk­tion­iert nicht immer, nicht unbe­d­ingt so richtig gut. Das soll aber auch gar keine Rüge sein und keinen Man­gel anzeigen: Sprech­texte, die als solche konzip­iert und geschrieben wur­den, sind eben mit bzw. in der Stimme gedacht. Ist ja logisch. Wenn die nun im gedruck­ten Text wegfällt, fehlt eine Dimen­sion des Textes, die sich imag­i­na­tiv für mich nicht immer rei­bungs-/naht­los erset­zen lässt. Ich denke dur­chaus, dass min­deste ein Teil der Texte gut sind. Gefall­en hat mir zum Beispiel das wieder­holte Aus­pro­bieren und Bedenken, was Sprache ver­mag und in welch­er Form: was sich also (wie) sagen lässt. Anderes dage­gen schien mir doch recht banal. Und manch­mal auch etwas laut und etwas „in your face“, eine Spur zu auf­dringlich und über-direkt. Ins­ge­samt hin­ter­lässt der Band damit bei mir einen sehr diver­gen­ten, unein­heitlichen Ein­druck.

Mod­ern

Einen Baum pflanzen
Auf ihm ein Haus bauen
Da rein ein Kind set­zen
Das Kind zweis­prachig
Anschreien (116)

Urs Leimgruber/Jacques Demierre/Barre Phillips: Lis­ten­ing. Car­net de Route — LDP 2015. Nantes: Lenka Lente 2016. 269 Seit­en. ISBN 9791094601051.

Lis­ten­ing ist das Tourtage­buch des Impro­vi­sa­tion­strios LDP, also des Sax­o­phon­is­ten Urs Leim­gru­ber, des Pianis­ten Jacques Demierre und des Bassis­ten Barre Phillips. Ursprünglich haben die drei das als Blog geschrieben und auch veröf­fentlicht. Drei Musik­er also, die in drei Sprachen schreiben — was dazu führt, dass ich es nicht ganz gele­sen habe, mein Franzö­sisch ist doch etwas arg eingerostet. Das geht mal ein paar Sätze, so manch­es habe ich dann aber doch über­sprun­gen. Und die ganz unter­schiedliche Sichtweisen und Stile beim Erzählen des Tourens haben. Da geht es natür­lich auch um den Tourall­t­ag, das Reisen spielt eine große Rolle. Wichtiger aber noch sind die Ver­anstal­ter, die Organ­i­sa­tion und vor allem die Orte und Räume, in den sich die Musik des Trios entwick­eln kann. Und immer wieder wird die Mühe des Ganzen deut­lich: Stun­den- bis tage­lang fahren, unter­wegs sein für ein bis zwei Stun­den Musik. Und doch ist es das wert, sowohl den Pro­duzen­ten als auch den Rezip­i­en­ten der freien Musik.

The per­form­ing musician’s hand­i­cap is that each con­cert is the last one ever. It’s nev­er going to get any bet­ter than it is today. The con­cert is ‚do or die‘ time. This moment is your truth and the groups truth. (65)

Die Räume, Pub­li­ka und auch die bespiel­ten Instru­mente wer­den immer wieder beschrieben und bew­erten. Demierre führt zum Beispiel genau Buch, welche Klaviere und Flügel er bespielt, bis hin zur Seri­en­num­mer der Instru­mente. Und da ist vom Stein­way-Konz­ert­flügel der D‑Reihe bis zum abgewrack­ten “upright” alles dabei … Leim­gru­ber inter­essiert sich mehr für die Städte und Organ­i­sa­tion­szusam­men­hänge, in denen die Konz­erte stat­tfind­en. Und natür­lich immer wieder die Musik: Wie sie entste­ht und was dabei her­auskommt, wenn man in ver­trauter Beset­zung Tag für Tag woan­ders neu und immer wieder frei impro­visiert. Und wie die Reak­tio­nen sind. Da find­en sich, im Text des Tourtage­buch verteilt, immer wieder inter­es­sante Reflex­io­nen des Impro­visierens und Selb­st­po­si­tion­ierun­gen, die ja bei solch­er, in gewiss­er Weise mar­ginaler, Musik immer auch Selb­stvergewis­serun­gen sind. Nur geübt wird eigentlich über­haupt nicht (außer Barre Phillips, der sich nach monate­langer Absti­nenz aus Krankheits­grün­den wieder neu mit seinem Bass ver­traut machen muss). Und im Trio gibt’s immer­hin kurze Sound­checks, die aber wohl vor allem der Erprobung und Anpas­sung an die jew­eilige Rau­makustik dienen. Und nicht zulet­zt bietet der Band noch viele schöne Fotos von Jacques Demierre.

Konzen­tri­ertes Hören, Ver­ant­wor­tung, materielle Voraus­set­zun­gen und spon­tane Eingaben bilden die Basis der Musik. Wir agieren, inten­sivieren, dekon­stru­ieren, eli­m­inieren, addieren und mul­ti­plizieren… Wir prak­tizieren Musik in Echtzeit, sie entste­ht, indem sie entste­ht. Gesten und Spiel­weisen ver­mis­chen sich und lösen sich ab. Wir hal­ten nichts fest. Das Aus­ge­lassene zählt genau­so wie das Einge­fügte. Jedes Konz­ert ist auf seine Art ein Orig­i­nal. Jede Sit­u­a­tion ist anders. Der akustis­che Raum, das Pub­likum, die gesamte Stim­mung im Hier und Jet­zt. (134f.)

Hubert Fichte: Ich beiße Dich zum Abschied ganz zart. Briefe an Leonore Mau. Hrsg. von Peter Braun. Frank­furt am Main: S. Fis­ch­er 2016. 256 Seit­en. ISBN 978–3‑10–002515‑9.

fichte, briefe (umschlag)Zusam­men­gerech­net sind es knapp 60 Seit­en Briefe, für die man 26 Euro bezahlt. Und viele der Briefe Hubert Ficht­es an seine Lebens­ge­fährtin Leonore Mau sind (sehr) knappe, kurze Mit­teilun­gen, die oft in erster Lin­ie die Banal­itäten des (Zusammen-)Lebens zum Inhalt haben.

Ich will: kein­er­lei famil­iäre Bindun­gen. Ich will frei leben — als Sohn Pans — wenn Du willst und ich will schreiben. (28)

Die Briefe zeich­nen nicht unbe­d­ingt ein neues Fichte-Bild — aber als Fan muss man das natür­lich lesen. Auch wenn ich mit schlechtem Gewis­sen lese, weil es dem Autor­willen aus­drück­lich wider­spricht, denn der wollte diese Doku­mente ver­nichtet haben (was Leonore Mau in Bezug auf seinen son­sti­gen schriftlichen Nach­lass auch weit­ge­hend befol­gte, bei den Briefen (zumin­d­est diesen) aber unter­ließ, so dass sie nach ihrem Tod jet­zt sozusagen gegen bei­der willen doch öffentlich wer­den kön­nen und das Pri­vate der bei­den Kün­stler­per­so­n­en also der Öffentlichkeit ein­ver­leibt wer­den kann …) Vor allem bin ich mir nicht sich­er, ob sich — wie Her­aus­ge­ber Peter Braun im Nach­wort bre­it aus­führt — daraus wirk­lich ein “Relief” im Zusam­men­spiel mit den Werken bildet. Und wie immer bin ich mir ziem­lich unsich­er, ob das den Werken (es geht ja vor allem um die unfer­tige “Geschichte der Empfind­lichkeit”) wirk­lich gut tut (bzw. der Lek­türe), wenn man sie mit den Briefen — und damit mit ihrem Autor — so eng ver­schränkt. Und ob es in irgend ein­er Weise notwendig ist, scheint mir auch zweifel­haft. Ja, man erken­nt die auto­bi­ographis­che Grundierung manch­er Jäc­ki-Züge und auch der Irma-Fig­ur nach der Lek­türe der Briefe noch ein­mal. Aber ver­leit­et das Briefe-Lesen dann nicht doch dazu, aus Jäc­ki Hubert und aus Irm Leonore zu machen und damit wieder am Text der Werke vor­bei zu lesen? Ander­er­seits: ein wirk­lich neues Bild, eine unent­deck­te Lesart der Glossen oder der Alten Welt scheint sich dann selb­st für Braun doch nicht zu ergeben.

Ich will Frei­heit, Frei­heit — und dazu bedarfs Witzes und Lachens. (42)

Selb­st Willi Win­kler, dur­chaus enthu­si­astis­ch­er Fichtean­er, befind­et in der Süd­deutschen Zeitung: “Diese Briefe, ein­mal muss es doch her­aus, sind näm­lich von sen­sa­tioneller Belan­glosigkeit” und schießt dann noch recht böse gegen die tat­säch­lich manch­mal auf­fal­l­en­den Banal­itäten des Kom­men­tars (mein Lieblingskom­men­tar: „Dar­mgeräusche: Dar­mgeräusche sind ein Aus­druck der Peri­staltik von Magen und Darm und insofern Anze­ichen für deren nor­male oder gestörte Tätigkeit.“ (167)) und das etwas hochtra­bende Nach­wort von Her­aus­ge­ber Braun. Über­haupt macht das Drumherum, das ja eine ganze Menge Raum ein­nimmt, eher wenig Spaß. Das liegt auch an der eher unschö­nen, lieblose Gestal­tung. Und den — wie man es bei Fichte und Fis­ch­er ja lei­der gewöh­nt ist — vagen, unge­nauen Edi­tion­srichtlin­ien. Der Titel müsste eigentlich auch anders heißen, das Zitat geht näm­lich noch ein Wort weit­er und heißt dann: “Ich beiße dich zum Abschied ganz zart / wohin.” So ste­ht es zumin­d­est im entsprechen­den Brief, war dem Ver­lag aber wohl zu heikel. Und das ist dann doch schade …

Aber für uns ist ja nur das Unvor­sichtige das richtige. (141)

außer­dem gele­sen:

  • T. E. Lawrence: Wüsten-Gueril­la. Über­set­zt von Flo­ri­an Trem­ba. Her­aus­gegeben von Rein­er Niehoff. Berlin: blauw­erke 2015 (= split­ter 05/06). 98 Seit­en. ISBN 9783945002056.
  • Björn Kuh­ligk: Ich habe den Tag zer­schnit­ten. Riga: hochroth 2013. 26 Seit­en. ISBN 97839934838309.
  • Chris­t­ian Meier­hofer: Georg Philipp Hars­dörf­fer. Han­nover: Wehrhahn 2014 (Mete­o­re 15). 134 Seit­en. ISBN 978–3‑86525–418‑4.
  • Edit #66
  • Mütze #12 & #13 (mit inter­es­san­ten Gedicht­en von Kurt Aebli und Rain­er René Mueller)
stachler, dünner ort, front und rücken

Dünner Ort, kleine Texte

stachler, dünner ort (cover)Der Dünne Ort von Alke Stach­ler ist ein schönes kleines Büch­lein. Die Buchgestal­tung (von Sarah Oswald) hat dabei einen sehr inter­es­san­ten Effekt, der eng mit den Inhal­ten zusam­men­hängt. Da ist zum einen die Offen­heit des Buch­es, das ohne Rück­en sein Inneres — die Faden­hef­tung und Kle­bung — sozusagen den Blick­en preis­gibt. Und es schwebt zwis­chen Heftchen und Buch: Ein­er­seits das kleine Taschen­for­mat, der offene Rück­en, ander­er­seits der feste, dop­pelte Natronkar­ton des Umschlags und das ordentliche, grifffeste Papi­er der Seit­en.

Auch die Texte kön­nte man Textlein nen­nen, klänge das nicht so verniedlichend — beson­ders niedlich sind sie näm­lich nicht. “Texte” schreibe ich mit Bedacht — denn was ist das eigentlich? Sie “schweben” zwis­chen dem, was man üblicher­weise Gedicht nen­nt bzw. als Gedicht erwartet und Prosa. Auf der einen Seite: die kon­trol­lierte und gestal­tete Ober­fläche, das strenge Gefüge des Block­satzes, der durch gezielte Löch­er aufgebohrt/aufgelockert wird. Daneben aber wiederum die Sprache, die (meist) wie “nor­male” Prosa daherkommt. Also darf man sie wohl als Prosagedichte einord­nen (auch wenn ich von solchen oxy­moron­is­chen Klas­si­fizierun­gen wenig halte …). Vielle­icht sind das aber auch ein­fach kurze Ttexte zwis­chen Miniatur und Gedicht.

Das sind sozusagen die Charak­ter­is­ti­ka von Dün­ner Ort, die sich sofort offen­baren. Und sie sind weg­weisend. Denn auch in den Tex­ten von Stach­ler geht es immer wieder um ein Zwis­chen, um ein wed­er-noch, um etwas ahn­bares, aber kaum begreif­bares, um Wis­sen, das sich nur schw­er oder kaum ver­sprach­lichen (im Sinne von: auf den Begriff brin­gen) lässt. So über­rascht es auch nicht, dass (nach dem etwas über­flüs­sigem Vorge­plänkel des Her­aus­ge­ber-Vor­wortes) die Seele schon gle­ich am Anfang ste­ht, mit einem starken ersten Satz:

die men­schliche seele wiegt 21 gramm: kannst du sie greifen, mit einem spat­en im kör­p­er tas­ten, wo sie klimpert, schaukelt und gegen die haut flat­tert wie ein panis­ch­er fal­ter, als wäre deinen haut von innen licht.

oder eigentlich/besser so, allerd­ings im Block­satz:

die men­schliche seele wiegt 21 gramm:
kannst du sie greifen, mit einem spat­en im
kör­p­er tas­ten, wo sie klimpert, schaukelt und
gegen die haut flat­tert wie ein panis­ch­er fal-
ter, als wäre deinen haut von innen licht.

Oder noch bess­er, weil der reine Text das, was den Dün­nen Ort als Werk aus­macht, kaum wiedergeben kann:

stachler, dünner ort, 9 (doppelseite)

Wesentliche, wiederkehrende The­men­felder sind Wald, Ein­samkeit, Tod bzw. Ster­ben und das Suchen, die Bewe­gung des suchen­den Ichs. Und natür­lich der Schat­ten (und auch noch so manch andere Uneigentlichkeit).

nachts fällt ein schwarzes knack­en aus dem / schrank, das uns an etwas erin­nert. an wald viel- / leicht, holz, farn, harz. an gerüche, geti­er, an wün- / sche: im wald möcht­en wir uns ver­lieren, im wun­den schat­ten liegen, selb­st wund sein, selb­st harz. / […] (21)

Dün­ner Ort lässt sich allerd­ings nur sehr unzure­ichend in dieser Art zusam­men­fassend beschreiben und auch kaum, ich habe es ja schon erwäh­nt, ein­fach so zitieren, weil “Inhalt” und “Form” (und das heißt auch: Zusam­men­hang im Buch, zumin­d­est auf der Dop­pel­seite) der Texte so eng miteinan­der ver­woben sind, so sehr ineinan­der überge­hen, dass man ihn sehr stark beraubt, wenn man einen Tex­tauss­chnitt auf die reine Wort­folge reduziert. Das Konzept des “dün­nen Ortes” ist ja auch ger­ade eines, das der Benen­nung ver­wehrt bleibt. Man kön­nte das, was Stach­ler in Dün­ner Ort macht, vielle­icht eine “dichte Beschrei­bung” der eige­nen Art nen­nen. Die „all­ge­meinen“ (auch als all­ge­me­ingültig behaupteten, vgl. den Anfang­s­text zur Seele) Beobach­tun­gen wer­den dabei fast immer wieder ins Ich gespiegelt, ins Indi­vidu­elle geführt und über­führt, sie sind in ein­er Über­gangs­be­we­gung. Denn der “dünne Ort” ist zu ver­ste­hen als eine Über­gangszone, eine Gren­ze oder Schwelle, der Bere­ich zwis­chen Leben und Tod vor allem.

der nebel bildet fehlende stellen im wald, ein opa- / kes lochmuster. beim ver­such, die löch­er anzuse- / hen, ver­schwindet man, franst aus wie eine dün- / ne tablette im wass­er. […] (15, Anfang)

Dazu noch die Textlück­en, ‑löch­er, die wie zufäl­lig im Block­satz unüberse­hbar auf­tauchen, den Fluss der Sprache unter­brechen und vielle­icht auch den dün­nen Ort, der so schw­er zu fassen ist, den Über­gang, die Schwelle ein­fach markieren oder zumin­d­est evozieren. Und sie weisen qua­si expliz­it auf die Offen­heit der Texte hin. Das ist ein biss­chen para­dox, neigt der Block­satz (der hier in wech­sel­nden Zeilen­län­gen genutzt wird) doch eigentlich zu ein­er gewis­sen Abgeschlossen­heit. Doch die ist, das wird in Dün­ner Ort schnell deut­lich, nur ober­fläch­lich. Denn so wie die Lück­en Löch­er in den Text reißen, ihm also Freiräume schaf­fen, so sind die Texte in der Regel auch seman­tisch nicht abgeschlossen oder gar ver­schlossen, son­dern offen. Das meint nicht nur ihre Unbes­timmtheit, son­dern auch Phänomene wie Abbrüche am Seit­e­nende mit­ten im Satz oder, als Gegen­pol, ein Beginn mit einem Kom­ma (also mit­ten in einem imag­inären größeren Zusam­men­hang).

im wald gibt es einen kern, der nie trock­net / um ihn herum ord­nen sich schicht­en im kreis / schicht­en von hal­men, scharnieren, stück­en von / licht. licht, das far­ben trägt, die es nicht gibt, das / man schnei­den kön­nte, hätte man. […] (13, Anfang)

Zum Buch gehören dann auch noch einige von der Autorin gele­sene Auf­nah­men einiger Texte, die dann das Pen­del noch mehr zur Prosa hin auss­chla­gen lassen, wenn man den zügi­gen Vor­trag von Stach­ler im Ohr hat. Und nicht zulet­zt gehören auch die “fotografis­chen Illus­tra­tio­nen” von Sarah Oswald unbe­d­ingt zu dem Buch. Mit bedacht wur­den die so genan­nt (nehme ich zumin­d­est an), denn sie geben sich als zwis­chen Foto und “freier” Kun­st chang­ierend: stark ver­fremdete, oft ver­wis­chte, über­lagerte, verun­k­larte Abbilder der “Welt”. Sie begleit­en den Text nicht ein­fach illus­tra­tiv oder kom­men­tierend, son­dern wer­fen im anderen Medi­um noch einen weit­eren Blick auf den “dün­nen Ort”. Ihre ver­schwommene Präg­nanz, ihre gemachte Unschärfe und Schat­ten­haftigkeit unter­stützt und ergänzt die suchende Präzi­sion der Texte aus­geze­ich­net. So wird Dün­ner Ort dann (fast) zu einem Gesamtkunst­werk — jeden­falls zu einem mul­ti­me­di­alen Gemein­schaftswerk …

die luft fällt ins schloss, verfugt sich hin­ter / dir als wärst du nie dagewe­sen, und viel- / leicht stimmt das auch. […] (44, Anfang)

Alke Stach­ler: Dün­ner Ort. Mit fotografis­chen Illus­tra­tio­nen von Sarah Oswald. Salzburg: edi­tion mosaik 2016 (edi­tion mosaik 1.2). 64 Seit­en. ISBN 9783200044548.

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