“Es ist die Sprache, die am Sprechen hindert, nicht ihr Verlust.”
— Marcus Steinweg, Subjekt und Wahrheit, 2018, 30
Schlagwort: wissen
Ins Netz gegangen am 17.6.:
- Reisezeitunterschiede unterschiedlicher Verkehrsarten von Tür zu Tür im Stadtverkehr – Realität und subjektive Wahrnehmungsverzerrung | Zukunft Mobilität → martin randelhoff hat eine schöne übersicht über (durchschnittliche) reisezeiten im stadtverkehr zusammengestellt
Eine Ursache für diese Verteilung mit einer starken Pkw-Nutzung auch bei geringen Entfernungen liegt in einer häufig anzutreffenden subjektiven Fehlwahrnehmung bei der Bewertung der Schnelligkeit bzw. der Reisezeit.
- “Der eigentliche Skandal liegt ganz woanders” | LTO → er anwalt sonnenberg findet deutliche worte:
LTO: Was hat die Aussage von CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt zur “aggressiven Anti-Abschiebe-Industrie” seitens der Anwälte bei Ihnen ausgelöst?
Sonnenberg: Das ist eine saudumme sowie kackfreche Aussage von einem, der keine Ahnung hat. Das ist ein Dummschwätzer der Mann, das können Sie gerne so zitieren.
- The Lifespan of a Lie | Medium → das stanford prison experiment ist wohl kaum noch als ernsthaftes experiment zu halten
The appeal of the Stanford prison experiment seems to go deeper than its scientific validity, perhaps because it tells us a story about ourselves that we desperately want to believe: that we, as individuals, cannot really be held accountable for the sometimes reprehensible things we do. As troubling as it might seem to accept Zimbardo’s fallen vision of human nature, it is also profoundly liberating. It means we’re off the hook. Our actions are determined by circumstance. Our fallibility is situational. Just as the Gospel promised to absolve us of our sins if we would only believe, the SPE offered a form of redemption tailor-made for a scientific era, and we embraced it.
- Two Hundred Fifty Things An Architect Should Know | Reading Design → wunderbare liste von dingen, die architekten — und eigentlich nicht nur die — wissen sollten, hat michael sorkin hier zusammengestellt
- Hat das E‑Book eine Zukunft? | Medium → andré spiegel über das ebook und die zukunft
Ich habe mir irgendwann gesagt: Okay, es wird also in Zukunft alles in beiden Formaten geben, auf Papier und digital. Aber mit der Zeit musste ich einsehen, dass die alten Bestände, alles was bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts erschienen ist, nur sehr begrenzt in die digitale Welt rübergelangen werden. Das ganze Suhrkamp-Universum allein: alles weg, und das wird sich auch nicht mehr ändern. Dann habe ich mir gesagt: Okay, also wird wenigstens alles, was ab dem einundzwanzigsten Jahrhundert erscheint, in beiden Welten vorhanden sein. Aber jetzt lerne ich, dass auch das nicht stimmt.
- Debatte oder Protest: Wie weiter gegen rechts? | Blätter für deutsche und internationale Politik → warum die idee, man müsse nur mit den rechten “reden”, unsinn ist und am problem vorbei geht:
Sich selbst in diese Tradition stellend, beschwört Kubitschek seit Jahren eben nicht die Debatte, sondern die finale Krise, um endlich zur erlösenden Tat schreiten zu können
Ins Netz gegangen am 9.11.:
- Auf den Spuren der RevolutionärInnen | Skug → ein schöner fotoessay von anton tantner.
Langsam bemächtigt sich hier die Natur der nur selten mit Blumen geschmückten Gräber, die Denkmäler von Rotarmisten und Strommasten rotten vor sich hin, an den roten Sternen, so sie denn noch vorhanden sind, blättert die Farbe ab. Das Zeugnis vergangener Sowjetmacht liegt bewusst dem Verfall preisgegeben, und doch, all dem Moder und Rost zum Trotz: Vereinzelt brennt eine Kerze – als ob sich Karl Liebknechts pathetische Ankündigung, die Leichen der hingemordeten Kämpfer würden wieder auferstehen, dereinst erfüllen werde, als ob den Toten bestimmt sei, in einer kommunistischen Zukunft auferweckt zu werden.
- Durchsetzung von Verkehrsregeln | Zukunft Mobilität → martin randelhoff beginnt eine serie über die gestaltung der mobilitätswende mit einem plädoyer für eine bessere durchsetzung der verkehrsregeln, vor allem zum schutz schwächerer verkersteilnehmer wie etwa den fußgängern
- Die Sache mit dem Leserschwund | BR → knut cordsen denkt über den buchmarkt und seine veränderungen nach — nicht völlig pessimistisch, aber doch in ziemlich grauen farben — allerdings v.a. aus einer ökonomischen perspektive
- Das gefährliche Raunen | Zeit → bernhard pörksen mit einem (auch eher pauschalen) text zur gefahr der pauschalen, sich anscheinend verbreitenden kritik an den medien (insgesamt):
Gemeinsam ist ihnen die Annahme, die etablierten Medien in Deutschland seien ein im Grunde autoritäres Regime, eine Anstalt zur Produktion geistigen Anpassertums. Gemeinsam ist ihnen auch die Behauptung, man selbst gehöre zu einer bedrohten Meinungsminderheit, die im Zweifel verfolgt und brutal geächtet werde. […] Die gegenwärtig kursierenden Theorien der Entmündigung und der Manipulation, Chiffren eines antiliberalen Denkens und einer heimlichen Sehnsucht nach der Revolte, helfen niemand. Und sie ruinieren das Vertrauensklima, das guter Journalismus bräuchte, gerade jetzt und gerade heute.
- Das Muster der Verschwörung | FAZ → durchaus interessant, auch wenn ich immer noch etwas fassunglos bin: eine ehemalige anhängerin chemtrail und anderen verschwörungstheorien erzählt
- Lutherland ist abgebrannt | Mein Jahr mit Luther → achim landwehrs unbedingt lesenswerte “abrechnung” mit dem reformationsjubiläum 2017 und überlegungen, was daraus für jubiläen udn unsere geschichtskultur überhaupt folgt:
was bleibt da vom Reformationsjubiläum? Es bleibt eine große Leere – eine Leere, die sich aber nicht breitmacht, weil das Jubiläum nun zu Ende gegangen ist. Diese Leere ist durch das Reformationsjubiläum selbst produziert worden. […] Fast zwangsläufig hängt diese inhaltliche Aushöhlung mit dem Versuch zur nahezu hemmungslosen wirtschaftlichen Verwertung des Jubiläums zusammen. Die Feier zu 500 Jahren Reformation fand sich eingeklemmt zwischen Kirche und Kommerz, zwischen Ökumene und Ökonomie. Nein, falsch. Das Reformationsjubiläum war nicht eingeklemmt. Es hat versucht, sich dort bequem einzurichten. […] Der Leerlauf des Jubiläumsgeschehens ergab sich nicht, weil es ein Zuviel an Reformation gegeben hätte, sondern weil zu wenig Reformation in diesem Jubiläum war. Und der Mangel an Reformation kam dadurch zustande, dass man das historische Ereignis mitsamt seinen konkreten Umständen nur in recht homöopathischen Dosen zum Thema machte. […] Unter dem Zwang zur Aktualisierung verschwand die Individualität und das historisch Spezifische bis zu Unkenntlichkeit. […] Womit wir es hier zu tun haben, hört auf den Namen ‚flache Geschichte‘: der möglichst geräuscharme, hindernisfreie und vor allem unkomplizierte Gebrauch (oder eher Missbrauch) von Vergangenem für gegenwärtige Zwecke. Flache Geschichte wird allenthalben verwendet. Es ist das vermeintlich historische Stammtischargument, das zur Erklärung heutiger Zustände herhalten muss, es ist die knapp erzählte Vorgeschichte, die Vergangenes genau soweit zurichtet, dass es sich in eine lineare Kausalität einordnet, und es ist das kurze Aufblitzen eines Relikts aus dem Vorgestern, vielleicht ein Bild, ein Zitat, ein Filmausschnitt oder ein bekannter Name, mit denen Vertrautheit hergestellt und die Sicherheit evoziert werden soll, dass es genauso war. Flache Geschichte zielt drauf ab, sich der Mühen der Komplexität zu entledigen, die Gebirge der Zeiten in aller Eile abzutragen, um freie Sicht auf die Vergangenheit zu erhalten.
- Wikipedia baut ab, oder: Was von „open“ übrig bleibt II | albatros → jürgen fenn über die negativen auswirkungen der entwicklung des webs auf die (offene) organisation von wissen:
Es bedarf keiner Erörterung, dass sich dies auch noch weiter auf die hergebrachten Mitmachprojekte des Web 2.0 auswirken wird. Wer an diese Technik aus Apps plus Endgeräte gewöhnt ist und damit aufwächst, wird nie auf die Idee kommen, an einem Massenprojekt wie Wikipedia teilzunehmen, weil er sich so etwas gar nicht mehr vorstellen kann. Normal ist, dass man auf riesige Datenbestände zugreift, die automatisiert erstellt oder jedenfalls automatisiert ausgewählt worden sind, aber nicht, dass man sie als Autor eigenhändig mit schreibt, kuratiert, pflegt und kollektiv verwaltet. Das liegt alles zentral bei der Firma, die es anbietet. Top-down, also nicht in den Händen einer Community, bottom-up.
Ins Netz gegangen am 13.4.:
- Märchenstunde am Main | NZZ → jürgen tietz spart nicht mit deutlichen Worten über den Unsinn einer (scheinbaren) Rekonstruktion einer historischen Altstadt
Dort, wo nach den Bombenangriffen des Zweiten Weltkriegs nur noch rauchende Trümmer lagen, manifestiert sich heute ein gebauter Aufschrei nach verlorener Heimeligkeit und einstiger städtischer Bedeutung. Dafür musste das zu Beginn der siebziger Jahre gebaute Technische Rathaus verschwinden, nach nur 35 Jahren. So kurzatmig ist die hessische Geschichte. Was aber ist der Sinn dieser gebauten Frankfurter Märchenwelt? Leistet sie einen Beitrag, um die drängenden Fragen der Zukunft der Städte zu lösen? Wohl kaum, denn auf dem historisierenden neuen Herzstück Frankfurts entsteht gerade einmal die bescheidene Zahl von sechzig Wohnungen – mit einer Fläche von insgesamt 7000 Quadratmetern. Sonst gibt sich das Quartier als architektonisch verdichtete Seelenmassage, ein Gegenmodell zu den Hochhäusern der globalisierten Stadt.
…
Der grosse Irrtum einer derart fiktionalen Stadtarchitektur ist es, dass sie wie eine gebaute Zeitmaschine wirkt. Doch sie ist nur ein Abziehbild einer deutschen Seelenlandschaft, in der die Verwundungen der Kriegs- und Nachkriegszeit bis in die nach-nachfolgende Generation andauern. So entsteht eine weinerliche Mischung aus Verlust und Verdrängung, aus romantischer Sehnsucht und einer Unfähigkeit zu trauern. - Werben mit Google: Ist die taz Schmuddelkram? | taz-hausblog → die taz nut googles adsense und berichtet hier von schwierigkeiten bei der “richtlinien”-einhaltung und kommunikation mit dem unternehmen
- Wollen alle Autoren sein? Alles schreibt, keiner liest | NZZ → jochen hörisch über das sich verändernde verständnis von schreiben und lesen, den zusammenhang von sein und schreiben, welt und text
Alles schreibt, aber kaum einer liest mehr so gründlich, konzentriert und hingebungsvoll wie der Leser in Rilkes gleichnamigem Gedicht oder der Buch-Enthusiast in Michael Endes «Unendlicher Geschichte». … Es ist offenbar, dass Gott nicht im Sinne logischer Evidenz offenbar ist, dass auch er ein schwächelnder Autor ist, der die Kluft, die die Welt von den Worten trennt, nicht ein für alle Mal überwinden kann. … Das Wort wird Fleisch, Bits werden Atome, die Idee der Transsubstantiation ist heute mehr als ein faszinierendes religiöses Phantasma, nämlich ein Schreibprogramm für ambitionierte Ingenieure. Wer diese Wandlung von Lese- in Schreibprogramme im Blick hat, wird sowohl das Comeback militanter Religiosität als auch die Inflation der Schreiblust heute mit anderen Augen sehen. … Man vergisst gerne, dass die verpflichtende Alphabetisierung ein kultureller Sonderweg einer seltsamen Weltecke in einer exzentrischen Epoche ist bzw. war. Heute können, wenn sie denn Zugriff auf Zauberwerke der Ingenieurs- und Informatikerkunst haben, alle lesen und schreiben – paradoxerweise eben auch diejenigen, die nicht lesen und schreiben können. Gemeinsam ist ihnen der Wunsch, nicht nur ein Wort mitzureden, sondern Autoren zu werden, die von der Pflicht dispensiert sind, lesen zu müssen.
- NS-Filme: Vorbehaltsvorbehalte| Freitag → dirk alt und friedemann beyer über die zunehmend unnötige, aus der zeit gefallene “vorbehalts”-lösung, die ns-propagandafilme (bzw. manche davon) unter halbverschluss hält
Vor diesem Hintergrund mutet die hiesige Kontroverse um eine offizielle Zugänglichmachung der Vorbehaltsfilme kurios an, zumal sie nicht nur die längst unwiderrufliche Verfügbarkeit der Filme ignoriert, sondern darüber hinaus von Dämonisierung und reflexartiger Betroffenheit geprägt ist.
- Index, A celebration of the | TLS → ein lob der indices und ihres klugheit/ihres wissens, anlässlich des sechzigjährigen bestehens der “Society of Indexers”
- a href=“http://blogs.faz.net/pop-anthologie/2017/03/18/alte-mythen-in-honig-351/”>Genesis: „The Musical Box“ | Pop-Anthologie → hervorragende würdigung des großartigen “the musical box” (auf “nursery cryme”) von genesis in der pop-anthologie der faz:
Dass die Karrieren von Collins und Rutherford in Hits wie „Dance Into the Light“ oder „All I Need is a Miracle“ gipfelten, die von einer erschütternden Belanglosigkeit sind, ist das traurige Ende dieser Entwicklung. „The Musical Box“ aber darf nicht im Kuriositätenkabinett der Musikgeschichte abgelegt werden. Es gehört zum Kanon der besten britischen Popmusik.
Ins Netz gegangen am 25.9.:
- Entgrenzung und die Sprache der Flüchtlingsdebatte | FAZ → ein sehr guter text von tobias rüther über die zunehmend unsägliche, untragbare, verheerende rhetorik im politischen diskurs, vor allem wenn es um “flüchtlingsfragen” geht (woran die faz aber auch ihren anteil hat …)
- #Open_Access: Wie der akademische Kapitalismus die Wissenschaften verändert – Geschichte der Gegenwart → michael hagner wirf einen eher pessimistischen blick auf die momentanen entwicklungen von open access
Als Geschäftsmodell des akademischen Kapitalismus ist OA Realität, als Programm dafür, die Menschheit im gemeinsamen intellektuellen Gespräch und Streben nach Wissen zu vereinigen, ist es eine Utopie.
OA hat das auch vorher schon virulente Problem eines hemmungslosen Publikationswahns noch weiter verschärft und mit der vermeintlichen Transparenz eine noch größere Unübersichtlichkeit geschaffen.
- Die Schwarzen Schwäne der Energiewende | Neue Energie → ein interessantes interview über risiken für die energiewende
Das kritischste Risiko für die Energiewende wirkt im Vergleich gar nicht so spannend: dauerhaft niedrige Weltmarktpreise für fossile Energien.
- „Das Geld wandert ab aus diesem Beruf“ | Volltext → interessantes interview mit ulrike draesner über lyrik und deren wertschätzung, die änderungen für das schreiben, die die allzeit verfügbaren daten & informationen mit sich bringen
- US Airways Flight 1549: Anatomy of a Miracle | Vanity Fair → großartige (wirklich!) — und auch ziemlich lange — reportage über das flugzeug, das auf dem hudson river kurz nach dem start notlandete. toller text!
- Alfred Harth: Jenseits von Paradox (Erinnerungen) | getidan → der großartige alfred 23 harth erinnert sich an die 80er:
Am Abend meditiere ich auf dem Saxofon die jüngsten Ereignisse dieser enigmatischen Reise, ihre numerologischen Implikationen, und bin ab sofort als 23 neu inkarniert.
[…] Zersplitterte Zeitpyramide. Simulationszeitalter. Anything Goes – Jazz ist eigentlich ein querstehendes Gefühl. - Byung-Chul Han: Wir hatten eine gute Zeit | ZEIT ONLINE → Magnus Klaue zeigt wie das Denken und Schreiben von Byung-Chul Han funktioniert und erfolgreich sein kann
Vigiles et studeas atque legas, ut ex hoc buio tibi remanente, exciteris ad studendum et legendum, cum vivere sine litteris mors sit et vilis hominis sepultura — Wache und studiere und lies, damit du, wenn dir dabei ein Zweifel bleibt, dadurch (erst recht) angespornt wirst zum Studieren und Lesen, da ohne Wissenschaft zu leben der Tod ist und ein elendes Grab für den Menschen.Siger von Brabant, Questiones de anima intellectiva