Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: verstehen

Gedichte

Bei Gedicht­en hil­ft zwei Mal lesen immer. Das kann nie falsch sein. Denn meis­tens ist schon nach dem zweit­en Mal klar, ob das Ding vor uns über­haupt ein Gedicht ist oder nicht. Wenn näm­li­uch nach dem zweit­en Mal klar ist, was da ste­ht, und eben­so duelitch, dass da nichts weit­er ist, als was man ver­standen hat, dann ist es kein Gedicht. Weil ein Gedicht eben nicht das ist, was man gemein­hin meint, wenn man sagt: Ich habe ver­standen.

Urs Engel­er, Mein Lieber Lühr (in: MÜtze #33, 1671)

Ins Netz gegangen (7.5.)

Ins Netz gegan­gen am 7.5.:

  • Volks­banken: Meine Bank ist krank | ZEIT ONLINE — heinz-roger dohms hat eine (sehr) kleine und nicht sehr prof­itable genoss­es­nchafts­bank besucht und berichtet von deren stel­lung prob­leme wohltuend unaufgeregt und ohne große lösun­gen …
  • His­torik­er über Erin­nerungskul­tur: „Mar­tin Luther als Spielfig­ur“ — taz.de — der his­torik­er valentin groeb­n­er im gespräch mit jan fed­der­sen über erin­nerung, gedenken und den zusam­men­hang von ver­gan­gen­heit, geschichte und gegen­wart

    His­torische Jubiläen haben ziem­lich viel mit Heils­geschichte zu tun, mit kollek­tiv­en Erlö­sungswün­schen plus Sin­nange­bot.[…]
    Wie viel Platz für Über­raschen­des kann denn in den kollek­tiv­en Insze­nierun­gen von Gedenken sein? 2017 ist Luther-Jubiläum – dann wird es ähn­lich sein. Ein biss­chen zuge­spitzt for­muliert: Das Ver­hält­nis zur Ver­gan­gen­heit wird über Gebets­ge­mein­schaften organ­isiert.

  • Der 8. Mai 1945 – Tag der Befreiung? | res­o­nanz­bo­den — huber­tus knabe find­et die beze­ich­nung “tag der befreiu­ung” für den 8./9. mai 1945 unpassend und schlägt eine zurück­hal­tendere, bit­terere lesart der erin­nerung an das kriegsende vor

    Die Deutschen tun gut daran, sich von solch­er Mythen­bil­dung fernzuhal­ten. Für sie sollte der 8. Mai vor allem ein Tag der Scham und der Trauer sein. Über 50 Mil­lio­nen Men­schen kamen durch die Poli­tik der dama­li­gen deutschen Regierung ums Leben – eine Last, die zu ein­er dif­feren­zierten und real­is­tis­chen Sicht der Geschichte verpflichtet.

  • Varo­ufakis ben­immt sich echt unmöglich (behaupten anonyme Quellen)… | misik.at — robert misik legt sehr schön dar, wie ungesichert und gefährlich die ange­blichen infor­ma­tio­nen der medi­en aus der poli­tik, ins­beson­dere der brüs­sel­er, sein kön­nen:

    Wenn aber der immer gle­iche Spin aus den offen­bar immer gle­ichen “anony­men” Quellen kommt, dann sollte Ihnen als Leser klar sein, dass hier Jour­nal­is­ten vorsät­zlich instru­men­tal­isiert wer­den, um eine “Sto­ry­line” unter die Leute zu brin­gen.

  • Mak­ing the Right Choic­es: A John Cage Cen­ten­ni­al Cel­e­bra­tion — videos von john-cage-werken — schön gemachte seite von michael tilson thomas & new world sym­pho­ny
  • Plat­ten aus dem Plat­ten­bau — taz.de — andreas hart­mann hat für die taz das kleine, aber sehr feine (vor allem, wenn man auf abge­fahrene musik so abfährt wie ich …) plat­ten­la­bel karl­records ent­deckt

    Karl ist eines dieser vie­len kleinen, aber feinen Labels, die es weltweit gibt und die nach der Krise der Musikin­dus­trie durch die Dig­i­tal­isierung in den nuller Jahren in ein­er Nis­che blühen und gedei­hen — wegen des über­raschen­den Vinyl-Revivals.

    (ich bin aber immer froh, dass die ihre sachen nicht nur auf vinyl, son­dern auch dig­i­tal — bei band­camp — anbi­eten)

  • Die Neuzeit und die Kul­tur der Unruhe: Das Gesumm der men­schlichen Dinge — NZZ.ch — ralf kon­ers­mann über die “ent­deck­ung” der unruhe und ihre beschrei­bung und analyse durch blaise pas­cal

    Das Neue der Neuzeit war die Bejahung der Unruhe, nicht jedoch das Empfind­en der Unruhe selb­st.

  • Dig­i­tale Agen­da der Bun­desregierung — Bös­es Netz — Chris­t­ian Heise vom Cen­tre for Dig­i­tal Cul­tures der Leuphana Uni­ver­sität in Lüneb­urg kom­men­tiert in der süd­deutschen zeitung das totalver­sagen der bun­de­spoli­tik bei dig­i­tal­en und net­zpolit. the­men:

    Die Net­zpoli­tik der schwarz-roten Koali­tion ist ein Witz. Sie ist gekennze­ich­net durch fehlen­den Sachver­stand und eine grundle­gende Abwehrhal­tung gegenüber der Dig­i­tal­isierung. Statt Pri­or­itäten zu deren Aus­bau zu definieren, konzen­tri­ert sich die Bun­desregierung darauf, die Poten­ziale des Dig­i­tal­en zur Kon­trolle und zur Überwachung der Bürg­er zu nutzen.

    — auch der rest ist pointiert, tre­f­fend und sehr lesenswert!

  • Zum Ver­ständ­nis | Postkul­tur — jan kuhlbrodt:

    Ich ver­steh nicht, was mit Ver­ste­hen gemeint sein soll. […] Ver­ste­hen im ästhetis­chen Sinne aber, wäre die Offen­heit der Kunst­werke auszuhal­ten, und ihre Ver­weigerung, sich in einem instru­mentellen Sinn über­set­zen zu lassen, dass heißt, sich erset­zen zu lassen durch Hand­lung oder Aus­sage.

    — ich glaube, dass “wäre” sollte durch ein “ist” erset­zt wer­den …

  • Spi­onage: Der BND, ein gefährlich­er Staat im Staat | ZEIT ONLINE — kai bier­mann sehr pointiert zur neuesten wen­dung im spi­onage-skan­dal (kann man das eigentlich noch so nen­nen?)

    Der Fall zeigt, wie krank das Geschäft der Geheim­di­en­ste ist. Er zeigt, wie ver­schoben deren moralis­che und rechtliche Maßstäbe sind. Sehen­den Auges nahm der BND hin, dass ihn die NSA dazu miss­braucht, Unternehmen, Behör­den und Poli­tik­er in Europa auszus­pähen. Ein Pakt mit dem Teufel, dem zuges­timmt wurde, weil man glaubte, ihn kon­trol­lieren und vor allem davon prof­i­tieren zu kön­nen.
    Aber wenn jed­er jeden betrügt und aus­trickst, wo bleiben dann Recht und Gesetz? Richtig, auf der Strecke. Kein­er der Beteiligten scherte sich darum, nie­mand inter­essierte sich für Grun­drechte der Bürg­er, auch das wurde in den Befra­gun­gen im Unter­suchungsauss­chuss klar. […] Wenn nicht ein­mal die Regierung ihre Spi­one im Griff hat, dann hat nie­mand sie im Griff.

  • Angesichts der von #Lidl proklamierten… — Bäck­erei Richter, Kub­schütz — eine schöne reak­tion eines bäck­er­meis­ters als reak­tion auf die ziem­lich bescheuerte (und die einkaufend­en ver­arschende) wer­bekam­pagne von lidl

Ins Netz gegangen (28.6.)

Ins Netz gegan­gen (26.6.–28.6.):

  • Trei­deln — Wie man eine Poet­ikvor­lesung ablehnt und trotz­dem schreibt — die Frank­furter Poet­ikvor­lesun­gen wer­den zunehmend per­for­ma­tiv (und span­nend …)

    Poet­ikvor­lesung? Kommt nicht in Frage. Ich bin doch nicht mein eigen­er Deutsch-Leis­tungskurs. Ohne mich.

  • Auf­stieg der Zeitzeu­gen | Medi­en im Geschicht­sun­ter­richt — Daniel Bernsen weist darauf hin, dass der Begriff “Zeitzeuge(n)” ein recht neuer ist — und zeigt, dass er im Deutschen, anders als im Franzö­sis­chen und v.a. im Englis­chen, eine Neuschöp­fung der 1970er/1980er Jahre ist
  • Clau­dio Abba­do: Der Fluss des Ganzen | ZEIT ONLINE — Julia Spin­o­la spricht — aus Anlass seines 80. Geburt­stags — mit dem wun­der­baren Clau­dio Abba­do. Und der erk­lärt (wieder) mal ganz gelassen, was so großar­tig und wichtig an der Musik ist:

    Die Magie eines lebendi­gen musikalis­chen Augen­blicks lässt sich nicht durch diri­gen­tis­che Kom­man­dos erzwin­gen. Sie ereignet sich, oder sie ereignet sich eben nicht. Das ist etwas ganz Zartes, Frag­iles. Dafür muss der Diri­gent mit dem Orch­ester zunächst ein­mal eine Atmo­sphäre der Offen­heit schaf­fen, ein wech­sel­seit­iges Ver­trauen. Darin beste­ht seine Führungsar­beit. Und man muss ler­nen, einan­der zuzuhören. Das Zuhören ist so wichtig. Im Leben wie in der Musik. Eine Fähigkeit, die immer mehr ver­schwindet.
    […]
    Die Musik zeigt uns, dass Hören grund­sät­zlich wichtiger ist als Sagen. Das gilt für das Pub­likum genau­so wie für die aus­führen­den Musik­er. Man muss sehr genau in die Musik hinein­lauschen, um zu ver­ste­hen, wie sie zu spie­len ist.

Gedichte, Verstehen und Bildung

Gegen die Bil­dung­shu­berei, die viele Inter­pre­ten vor ihre Lek­türen von Gedichte stellen, schreibt Jahn Kuhlbrodt1 auf “Postkul­tur” in ein­er kleinen The­sen­samm­lung zur rezip­i­en­tenori­en­ten Hermeneu­tik lyrisch­er Sprach­w­erke (wenn man das alles so nen­nen mag …):

Ver­ste­hen set­zt Bil­dung nicht voraus, son­dern ist die Bil­dung. Der Rezip­i­ent also bildet sich im Erschließen des Textes selb­st, entwick­elt sein Vok­ab­u­lar und Werkzeug, und somit sich selb­st.

Und gegen die Behaup­tung der “Unver­ständlichkeit”, die ja tat­säch­lich auch the­o­retisch gar nicht so ein­fach zu fassen ist, set­zt er die ganz und gar klare, unzwei­deutige Ansage:

Es gibt keine unver­ständlichen Gedichte (kein einziges).

Und damit ist schon klar: Zum Lesen von Lyrik braucht es keine beson­deren Ken­nt­nisse, kein spezielles Experten­wis­sen um die lit­er­atur- und motivgeschichtlichen Zusam­men­hänge, kein wie auch immer geart­etes Spezial­w­erkzeug im Umgang mit dem Text, son­dern nur ( — ja, nur! Wenn das immer so ein­fach wäre!) einen offe­nen Ver­stand und die Bere­itschaft, sich auf den jew­eili­gen Text auch wirk­lich einzu­lassen und ihn nicht nur abzufer­ti­gen (mein­er Erfahrung nach ist das aber schon der schwierig­ste Schritt über­haupt bei jed­er Lek­türe: Sich auf den Text und seine Ver­fass­theit, seine Struk­turen und seine Gemachtheit, seine Bilder, Gedanken und all das wirk­lich ganz einzu­lassen — das gelingt beileibe nicht immer!). Dann ist aber auch der dritte Punkt Kuhlbrodts sowieso schon klar, näm­lich:

Jedes Gedicht ist konkret.

Tja. So ist das eben. Wirk­lich.

Show 1 foot­note

  1. So behauptet zumin­d­est die Lyrikzeitung, der ich auch den Hin­weis auf diese Sätze ver­danke. Der Ein­trag bei “Postkul­tur” selb­st ist ohne Autorenkennze­ich­nung.

“Aber man kommt …

… an den inneren Herzk­ern des Erlebens der Vor­fahren nicht wirk­lich her­an, und das liegt nicht an Defiziten der his­torischen Wis­senschaft, son­dern an der maßlosen Radikalität des Ver­schwun­den­seins von Ver­gan­gen­heit.” (Rainald Goetz, Klage, 34)

“Kunst soll …

… unver­ständlich sein, die Welt ist auch so.” (Rainald Goetz, Klage, 17)

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