Eine Symphonie des Grauens ohne Ton? Heute wäre das undenkbar. Vor 90 Jahren war es das noch lange nicht. Im Gegenteil: Das „Nosferatu“ von Friedrich Wilhelm Murnau, der erste Dracula-Film überhaupt, als Stummfilm entstand, war alles andere als ein bewusst gewähltes Stilmittel.
Stephan Graf von Bothmer hat das neu vertont. Das „Nosferatur“ nicht der der erste Film ist, zu dem er, der sich auch gerne „Stummfilmgraf“ nennen lässt, eine neue Musik schöpft, hört man sofort. Bothmer weiß, was er macht – und was er machen muss, um dem Film sein Potential ausspielen lassen zu können.
Mit Orgel, Sopran und Chor steht im in der bis auf den letzten Platz besetzten Altmünsterkirche ein breitees Klangspektrum zur Verfügung. Das nutzt er auch gerne aus: Dunja Koppenhöfer darf nicht nur ätherische Vokalisen singen, sondern auch quietschen, ächzen, schreien und markerschütternd dämonisch lachen – schließlich ist das ja ein Vampirfilm. Der Chor, ein eigens für die beiden Aufführungen in der Altmünsterkirche zusammen gestelltes Ensemble „The silent voices“ unter der Leitung von Armin Rauch ergänzt das noch und sorgt für klangliche Tiefe.
Bothmer an der Kirchenorgel liefert unterdessen die Hauptsache: eine unterstützende Tonkulisse, die sich quasi non-stop in Bewegung befindet und den Film mal sachte, mal auch sehr deutlich unterstüzt, ohne auf der Selbstständigkeit des akustischen Moments zu verzichten. Er ist ein großer Freund der Sekundbewegung und der harmonischen Rückung. Vom Barock bis zur Minimal Music lässt Bothmer vieles anklingen, ohne ein bloßes Sammelsurium zu bieten. Denn vor allem seine Disposition über die Szenen hinweg zeugt von der genauen Beschäftigung mit dem Film. Und deshalb ist seine Begleitung auch keine bloße Untermalung, sondern eine akustische Unterstützung des Bildes. Flächenhafte und bewegte Klänge wechseln stetig und dürfen sich auch mal überlagern. Hauptsache, die fließende Musik hilft dabei, die Szenenwirkung eindrücklich zu verstärken. Tatsächlich trägt Bothmer wesentlich dazu bei, dass dieser Film wirklich eine „Symphonie des Grauens“ wird. Besonders die düsteren Klänge des dritten Akts und ihre grandiose symphonisch angelegte Steigerung zeigen, wie meisterhaft Bothmer als Filmmusiker arbeitet – auch wenn man durchaus hört, dass er eher Pianist als Organist ist.
Und er gönnt sich und dem Publikum einen besonderen Luxus, ein echtes offenes Ende: Ob das Opfer der Heldin und der Tod des Vampirs wirklich die Erlösung ist? Die Musik verweigert eine klare Antwort. Das ist gut, denn sie war schon bis hierher so vielschichtig wie der Film, ohne diesen zu vereindeutigen. Und mehr kann und braucht eine Stummfilmmusik gar nicht leisten.
(geschrieben für die Mainzer Rhein-Zeitung.)