Lud­wig Winder: Der Thron­fol­ger. Ein Franz-Fer­di­nand-Roman. Wien: Zsol­nay 2014. 576 Seit­en.

winder, thronfolger

Ein schön­er und guter Roman eines vergesse­nen Autors zu einem bekan­nten The­ma. Lud­wig Winder, in der Zwis­chenkriegszeit ein berühmter Autor und Jour­nal­ist, hat mit dem “Franz-Fer­di­nand-Roman” Der Thron­fol­ger ein richtig gutes Buch geschrieben, das lei­der lange Zeit ziem­lich vergessen war. Der Wiener Zsol­nay-Ver­lag hat es jet­zt (mit einem Nach­wort des Spezial­is­ten Ulrich Weinzierl) neu aufgelegt — und so kon­nte ich auch diesem Roman, der 1937 das erste mal erschienen ist, ken­nen ler­nen.

Winder erzählt das Leben des Erzher­zogs Franz Fer­di­nand trotz der aus­führlichen Darstel­lung in strenger Chronolo­gie des Lebens. Und weil er stilis­tisch dabei erstaunlich lock­er bleibt, lässt sich das trotz der etwas lan­gat­mi­gen Anlage und Struk­tur sehr gut lesen. Denn im Kern ist es eben ein starkes, lebendi­ges Porträt des Erzher­zo­ges — der war ja, wenn man Winder glauben mag (und es gibt keinen Grund, das nicht zu tun), alles andere als ein leibenswürdi­ger Charak­ter: Spröde, harsch, krankhaft ehrgeizig und mis­strauisch — ein Mis­an­throp rein­sten Geblüts sozusagen. Die radikale per­son­ale Per­spek­tive macht das zu einem dicht­en Porträt ein­er his­torischen Fig­ur, ohne sie vorzuführen oder zu verurteilen. Inter­es­sant wird das auch dadurch, dass im Hin­ter­grund des Textes immer die Frage mitschwingt: hätte die Geschichte nicht auch ganz anders aus­ge­hen kön­nen? Das “fak­tis­che” Ende ist ja bekan­nt — hier wird aber immer wieder mit der Möglichkeit gespielt, dass die Geschichte des 20. Jahrhun­derts in der Fig­ur Franz Fer­di­nands auch andere Poten­zen und Poten­ziale gehabt hätte — die aber ungenutzt bleiben (und vielle­icht auch ein­fach bleiben müssen).

Unter­dessen wur­den in den Kon­feren­zsälen der Gen­er­al­stäbe, Min­is­te­rien und Botschaften, in den Salons der Muni­tions­fab­rikan­ten, in den Schlössern und auf den Vergnü­gungsy­acht­en der Staat­sober­häupter, in den Klubz­im­mern der Abge­ord­neten, in den Spielz­im­mern der Offizier­skasi­nos, in den armen Mansar­denkam­mern jugendlich­er Ver­schwör­er die Pläne aus­ge­heckt, die zum Kriege führen soll­ten. Leicht­fer­tige Diplo­mat­en, ehrgeizige Gen­eräle, ver­brecherische Geschäftemach­er und halb­wüch­sige Patri­oten, deren nation­al­is­tis­ch­er Rausch sich unverse­hens in Blu­trauseh wan­delte, arbeit­eten einan­der in die Hände, ohne es zu wis­sen. Sie jagten einan­der Angst ein, um die Ver­nun­ft zu töten. Sie woll­ten die Welt mit Angst erfüllen, um die Ver­brechen, die sie planten, zu entschuldigen. Sie sagten den Völk­ern, der Feind gönne ihnen das Leben nicht und wolle ihnen den Leben­sraum verkürzen. Sie forderten den Feind her­aus, den ersten Schuss abzugeben, das Sig­nal zum großen Massen­mord. Sie hat­ten Angst vor dem ersten Schuss, den sie inbrün­stig ersehn­ten. (454)

Dominik Dom­brows­ki: Fremdbestäubung. Köln: par­a­siten­presse 2014. 44 Seit­en.

dombrowski, fremdbestäubungGute Gedichte scheinen mir das zu sein, der “Güte” schw­er zu fassen sind: Da sind starke, anziehende Bilder, die ganz wun­der­bar selb­stver­ständlich wirken. Da ist die Bewe­gung der Sprache, die sich unge­hin­dert und wie von selb­st enfal­tet. Und das Fortschre­it­en im Text und der Welt, auch in der Zeit: immer weit­er, nicht ras­ten, nicht ruhen … Da ist die szenis­che Nar­ra­tion, die immer wieder auf­taucht. Die Rei­hung von kurzen Sequen­zen, die geschnit­ten (Cut!) Bilder, die Real­ität und Sprache miteinan­der kom­mu­nizieren lassen (oder auch nicht), zumin­d­est in Beziehung set­zen, sie aufeinan­der tre­f­fen lassen. Schade nur, dass der Band von Dom­brows­ki so kurz ist …

Archivare
Schiffe zu fal­ten den Eis­bären
dort unten
wo ihnen die Schollen
weg­brechen
haben
wir jet­zt nicht
das Papi­er

So fil­men wir
weit­er ihr
polares Treiben
vom Hub­schrauber aus (30)

Hans Pleschin­s­ki: Der Holzvulkan. Ein deutsch­er Fes­t­brief. Mit einem Nach­wort von Gus­tav Seibt. München: Beck 2014 (tex­tu­ra). 96 Seit­en.

pleschinski, holzvulkanEine kuriose Erzäh­lung eines kuriosen Geschehens der an Kuriositäten nicht ger­ade armen deutschen Geschichte: Der Erzäh­ler triff auf die Geschichte, die sich in Form eines Art Führers und Erzäh­lers sowie der traumhaften Verge­gen­ständlichung der his­torischen Baut­en und Ansicht­en darstellt und zeigt. Es geht um einen etwas aus­ge­flippten deutschen Her­zog des 17. Jahrhun­dert, den Anton Ulrich von Braun­schweig-Wolfen­büt­tel, der nicht nur (extrem ausufer­nde) Romane schrieb, son­dern auch als Feste-Arrangeur und Mäzen sein kleines HZer­zogtüm­chen zu einem europäis­chen Zen­trum der Kün­ste und der repräsen­ta­tiv­en Darstel­lung machen wollte — und damit so grandios und krachend scheit­ert, dass es Pleschin­s­ki wun­der­baren Stoff zum Erzählen gibt. Und auf den weni­gen Seit­en macht er das aus­ge­sprochen lebendig und sym­pa­thisch, mit raf­finierten erzäh­lerischen Volten, die dem Gegen­stand des Illu­sion­sthe­aters wun­der­bar angemessen sind — und zugle­ich ein Beispiel, wie man kun­stvoll Geschichte (nach-)erzählen kann. Also: eine schöne, unter­hal­tende und auch belehrende Lek­türe für zwis­chen­durch (zumal das Büch­lein bei Beck auch nett gemacht und um einige Kupfer­stichen ergänzt wurde).

Deutsches Barock ist den Deutschen am fremdesten, weil’s dort nicht mal um Gemütlichkeit ging (75)

Patrick Maisano: Mez­zo­giorno. Salzburg u.a.: müry salz­mann 2014. 152 Seit­en.

maisano, mezzogiornoEin schönes und gelun­ge­nes erzäh­lerisches Exper­i­ment, dieses Debüt von Maisano: Zwei Erzäh­ler — auch noch bei­de Architek­ten — stre­it­en sich um die Wahrheit des Erzäh­lens, der Erin­nerung und der Deu­tung der Gegen­wart. Zugle­ich ist das auch ein Stre­it zweier Lebensen­twürfe: Der geniale, faule und organ­isierte Architekt gegen den ord­nungs­fix­ierten, unternehmerischen, aber ideen­losen Bauin­ge­nieur und Plan­er.
Die Men­schen bleiben allein, die Fam­i­lien tauchen als Idee und Erzäh­lung öfter und wirk­lich­er auf als in der “wahren” Real­ität: Patricks trock­enes Bericht­en und Toms unbeschw­ertes Fab­u­lieren konkur­ri­eren um den Leser — glaub­haft sind natür­lich bei­de nicht, wie sich zuse­hends her­ausstellt. Dass bei­den Pro­tag­o­nis­ten und Erzäh­lern am Ende dann ganz sym­bol­isch und reell der Boden und das Fun­da­ment unter den Füßen wegrutscht — das Chalet, in dem sie sich befind­en, fällt einem Bergrutsch zum Opfer — ist dann fast schon zu offen­sichtlich. Aber bis dahin hat man beim Lesen an diesem ras­an­ten Text eine Menge Vergnü­gen gehabt.

Lutz Seil­er: im felder­latein. Berlin: Suhrkamp 2010. 102 Seit­en.

seiler, felderlatein“daheim an den gedicht­en” ist Lutz Seil­er: Auch wenn er jet­zt für seinen Roman “Kru­so” so sehr gelobt ist: Er ist vor alle­dem ein vortr­e­f­flich­er und aus­ge­sprochen kluger Lyrik­er. Schon pech & blende hat das gezeigt, im felder­latein gelingt es erneut: Hier ist eine eigene Stimme und ein eigen­er Denke. Seil­ers Gedichte machen immer wieder die Zeit selb­st zum The­ma:

[…] immer

in der schwebe, die
schätze dieser zeit

- eine Zeit, die sich in der Erin­nerung zeigt oder als Gegen­wart der Ver­gan­gen­heit im Augen­blick der Empfind­ung und Wahrnehmung. Vor allem aber geht es ihm immer wieder um die Ver­bidun­gen und Verknüp­fun­gen von Natur, Men­sch und eben Zeit. Ein Gedicht wie “im felder­latein” macht das beson­ders deut­lich. Schon der Titel verknüpft alle drei Bere­iche: Den Men­schen mit sein­er Sprache — aber ein­er Sprache, die “aus­gestor­ben” ist, die Sprache der Ver­gan­gen­heit ist, aber in unser­er Gegen­wart immer noch lebt; und diese Sprache der Men­schen eben schon im Kom­posi­tum verknüpft mit der Natur der “Felder” — die, sobald sie Felder sind, ja auch schon mit dem kul­tivieren­den und abgren­zen­den Men­schen in Verbindung ste­hen. Dort, also “im felder­latein”, heißt es:

im ner­ven­bün­del dreier birken:
umrisse der exis­tenz & alte for­men
von geäst wie
schwarz­er mann & stum­mer
stromab­nehmer. all

die falschen schei­t­el, sauber
nachge­zo­gen im archiv
der glat­ten über­liefer­ung. gern

sagst du, es ist die kälte, welche
dinge hart im auge hält, wenn
große flächen schlaf wie
winkelschleifer schleifen in
den zweigen. so

sagt man auch: es ist ein baum
& wo ein baum so frei ste­ht
muß er sprechen

Und das zeigt sich auch in Vers­grup­pen, die deut­lich machen, dass dem Men­schen (noch) längst nicht Zugriff auf alles eigen ist:

du weißt noch immer
nicht, daß es dich gibt, doch
was geschieht
ist begrif­f­en, ins brüchige dunkel
entleert sich das haus (48)

In seinem flanieren­den Streifen durch Land­schaften, Ver­gan­gen­heit­en und Typen (Rück­kehr ist der entschei­dende Begriff heir, nicht die Ankun­ft!) gelin­gen Seil­er jeden­falls immer wieder großar­tige Gedichte, die als konzen­tri­erte, starke Schöp­fun­gen der Sprache und des Denkens so etwas wie Bestand­sauf­nah­men sind (nicht ohne Grund ist “inven­tur” eines der besten gedichte in diesem band):

[…] & unter der erde

liegen die toten
& hal­ten die enden wurzeln im mund (49)

Moni­ka Rinck: I am the zoo. Ostheim: Peter Engstler 2014. 52 Seit­en.

rinck, zooWie schon bei Helle Ver­wirrung und Hasen­hass belässt es Rinck auch hier nicht bei der Schrift, beim Text allein, son­dern arbeit­et mit Zeich­nun­gen zuam­men. Genauer gesagt: Sie arbeit­ete mti der Zeich­ner­in Nele Brön­ner zusam­men. Die legte täglich eine von 24 Zeich­nun­gen vor, zu der Rinck tex­tete, was wiederum Brön­ner zur näch­sten Zeich­nung ver­an­lasste etc: Die gegen­seit­i­gen Rück­kop­plun­gen entwick­eln sich hier Seite für Seite zu ein­er Fabel — ein­er fabel­haften, phan­tastisch-spielerischen Geschichte. “Irri­tierte Ver­heißung” heißt es ein­mal im Text — und das passt recht gut: Gegen­seit­ige Irri­ta­tion beflügelt die Phan­tasie, die immer neues, anderes, unge­plantes ver­heißt. Und das dann nicht unbe­d­ingt ein­löst: Dieses Buch (ich scheue mich, nur vom Text zu sprechen, die Zeich­nun­gen sind schließliche ele­mentar­er Teil des Werkes) ist nie lang­weilig, weil die Entwick­lung zwar zu beobacht­en ist, aber nie vorherse­hbar wird. Und weil dazu noch die Sprache Moni­ka Rincks zwis­chen Prosa und Lyrik schwankt, wenn man das so sagen darf, ihre poet­is­che Qualtiät des Klangs und der Nicht-Alltäglichkeit beson­ders betont, ist das ein Werk ganz nach meinem Vergnü­gen: Ein Buch, das mit dem Unter­ti­tel Geschicht­en vom inneren Biest gar nicht so schlecht umschrieben ist.

Sibylle Berg: Der Tag, als meine Frau einen Mann fand. München: Hanser 2015. 256 Seit­en.

berg, tagIn gewiss­er Weise ist das wieder ein typ­is­ch­er Sibylle-Berg-Roman — und das ist ja schon ein­mal ein guter Start. Der Klap­pen­text des übri­gens sehr schön gemacht­en und in feinem Leinen gebun­de­nen Buch ver­heißt:

Chloe und Ras­mus sind seit fast zwanzig Jahren ver­heiratet, und ja, alles bestens, man hat sich entwick­elt, man ist sich ver­traut. Aber dass dieses Leben nun ein­fach so weit­erge­hen soll, ist auch nicht auszuhal­ten. […] Sibylle Berg stellt die Frage, die alle Paare irgend­wann ein­mal beschäftigt: Ist Sex leben­snotwendig? Oder doch eher die Liebe?

Und das passt schon ganz gut: Berg erzählt (wieder ein­mal) aus der Hölle der Selb­stfind­ung eines ziem­lich frus­tri­erten Paares. Es geht in wech­sel­nder Per­spek­tive aus der Sicht der bei­den Pro­tag­o­nis­ten Ras­mus und Chloe um das Abnutzen der Gefüh­le, um das Lei­den am Leben, um die unendliche ernüchternde und nüchterne Auswe­glosigkeit des All­t­ags. In kurzen Kapi­tel und klar­er, knap­per und präzis­er Prosa beschreibt Berg die aufdäm­mernde Katas­tro­phe der Paar­beziehung, das Umschla­gen, die völ­lige Zer­störung und Neuschaf­fung. Das ist Lit­er­atur, die kurzfristig unter­hält und nach­haltig ver­stören kann, wie Richard Käm­mer­lings ganz richtig beobachtet hat. Und genau diese Kom­bi­na­tion aus Unter­hal­tung und Ver­störungspoten­zial, aus Humor und tiefem, dun­klem Ernst ist es, was mir an Bergs Büch­ern immer wieder zusagt.

Die Aufre­gung. Hat sich abgenutzt, wie alle Gefüh­le, ich hat­te jedes schon ein­mal. Es wird kein neues dazukom­men. Das ist das Grauen der mit­tleren Jahre. Die Langeweile und die noch allzu nahe Erin­nerung an Zeit­en, in denen alles zum ersten Mal passierte. (50)

außer­dem gele­sen:

  • Helene Hege­mann: Axolotl Road­kill. Berlin: Ull­stein 2010. 204 Seit­en.
  • Ursu­la Krechel: Shang­hai fern von wo. 2. Auflage. München: btb 2010. 508 Seit­en.
  • Ursu­la Krechel: Landgericht. 5. Auflage. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2012. 495 Seit­en.
  • Rüdi­ger Bit­tner & Susanne Kaul: Moralis­che Erzäh­lun­gen. Göt­tin­gen: Wall­stein 2014 (Kleine Schriften zur lit­er­arischen Ästhetik und Hermeneu­tik, Band 5). 74 Seit­en.
  • Frank R. Ankersmit: Die his­torische Erfahrung. Berlin: Matthes & Seitz 2012. 112 Seit­en.
  • Mark Row­lands: Der Läufer und der Wolf (siehe nebe­nan im Lauf­blog)