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Schlagwort: monika maron

drahtnetz (detail)

Ins Netz gegangen (6.7.)

Ins Netz gegan­gen am 6.7.:

  • Hel­mut Kohl Visits Yad Vas­hem – June 6th 1995 | Yaa­cov Lozowick’s Rumi­na­ti­ons → Yaa­cov Lozowick, mit­ar­bei­ter bei yad vas­hem, berich­tet über das ego­zen­tri­sche des­in­ter­es­se hel­mut kohls bei des­sem besuch in yad vas­hem 1995 – und sei­ne gegen­tei­li­ge insze­nie­rung für die medi­en. sehr span­nen­der zeitzeugenbericht

    Fede­ral Chan­cell­or Hel­mut Kohl came to visit us at Yad Vas­hem this mor­ning. I accom­pa­nied him throug­hout his 70 minu­te visit. We began in the Val­ley of the Des­troy­ed Com­mu­ni­ties, a sort of ceme­tery of ceme­ter­ies. Once the Jews were gone, their ceme­ter­ies began to die, so they’­ve been sym­bo­li­cal­ly trans­plan­ted to Jeru­sa­lem whe­re the Jews still live. I had inten­ded to sug­gest some of the­se ide­as to him, but he wasn’t inte­res­ted. „Yes yes, I under­stand“, he said, and moved on. Not that he did­n’t obser­ve his sur­roun­dings. The gigan­tic stone blocks of the Val­ley remin­ded him of his bel­oved Rhi­ne­land, and he told me about the beau­tiful cathe­dral in Spey­er, and how the set­ting sun makes it glow. That’s how it went the enti­re time. He never saw Yad Vas­hem, and even less what it means. […] Then, as he stood befo­re the TV came­ras, his enti­re deme­an­or abrupt­ly chan­ged. He see­med somehow smal­ler, and he spo­ke about shame, memo­ry, and the future… but you saw him on the evening news, no doubt. A minu­te later it was over, and he car­ri­ed on his fri­end­ly chat­ter with me. 

  • Links bin ich schon lan­ge nicht mehr | NZZ → ein extrem irri­tie­ren­der, unver­nünf­ti­ger, nicht-​/​pseudo-​argumentierender text von moni­ka maron, die ich als autorin bis­her sehr geschätzt habe. nach die­sem ela­bo­rat wird mir das schwer fallen …
  • Hor­mo­nel­le Irra­tio­na­li­tät. Zur Geschich­te der Gefüh­le in der Schwan­ger­schaft | Geschich­te der Gegen­wart → ein span­nen­der text über den zusam­men­hang von weib­li­cher kör­per­lich­keit und rollenbildern

    Auch das heu­ti­ge Wis­sen zu hor­mo­nel­len Stim­mungs­schwan­kun­gen in der Schwan­ger­schaft ist also Aus­druck bestimm­ter Weib­lich­keits­kon­zep­te. Dabei sind vor allem zwei Aspek­te zen­tral: Ers­tens füh­ren die aktu­el­len Vor­stel­lun­gen schwan­ge­rer Gefüh­le dazu, dass gesell­schaft­li­che Pro­ble­me […] in den Frau­en­kör­per ver­legt wer­den. Aus poli­ti­schen Wider­sprü­chen wird so hor­mo­nel­le Irra­tio­na­li­tät. Zwei­tens zeugt der aktu­el­le Dis­kurs zur hor­mo­nel­len Irra­tio­na­li­tät davon, dass mit der zuneh­men­den Eman­zi­pa­ti­on von Frau­en auch eine gewis­se Re-​Traditionalisierung ein­her­geht. […] Denn auf die­sem Wege wird Frau­en das alte Rol­len­bild der hyper-​verantwortlichen Mut­ter in Kör­per und Psy­che ein­ge­schrie­ben – und zwar bereits wäh­rend der Schwangerschaft.

  • Nicht­mehr­lin­ke | Neu­es Deutsch­land → leo fischer sehr schön und poin­tiert über die mode der nicht-mehr-linken

    Abge­se­hen davon, dass, wer in wel­chen Milieus auch immer nur des­halb unter­wegs ist, um Zugehörigkeits- und Stam­mes­er­fah­run­gen zu machen, viel­leicht ein viel grö­ße­res Pro­blem hat, als es von sol­chen Milieus behan­delt wer­den kann: Wel­ches Milieu soll das denn sein? Wo gibt es noch soli­da­ri­sche Struk­tu­ren in die­sem Land, die über das Orga­ni­sa­ti­ons­ni­veau von MLPD-​Stammtischen und alter­na­ti­ven Wohn­pro­jek­ten hin­aus­reich­ten? Wen meint die­se Frau? »Rea­li­täts­fern« ist an die­sem Milieu nur, dass es schlicht­weg nicht existiert.

  • Wel­chen Fak­ten kön­nen wir trau­en? | Philosophie-​Magazin → inter­es­san­tes inter­view mit lor­raine das­ton und georg mas­co­lo über wahr­heit, tat­sa­chen, medi­en und politik

    Die Flug­blät­ter der Refor­ma­ti­ons­zeit las­sen sich mit einer Web­sei­te wie Breit­bart News ver­glei­chen. Es hat über 200 Jah­re, also bis zur Mit­te des 18. Jahr­hun­derts gedau­ert, bis Ver­fah­ren eta­bliert waren, mit denen sich wah­re von fal­schen Infor­ma­tio­nen unter­schei­den lie­ßen. Ich hof­fe, wir sind in der Lage, heu­te schnel­ler an die­ses Ziel zu gelan­gen. […] Die Wahr­heit ist kein Fer­tig­haus, das man über Nacht errich­tet. Sie ist, wenn ich das etwas pathe­tisch for­mu­lie­ren darf, eine Kathedrale.

Aus-​Lese #31

Bir­git Kemp­ker: Ich will ein Buch mit dir. Weil am Rhein: Urs Enge­ler Edi­tor 1997. 119 Seiten. 

Ein fei­nes und schö­nes Buch ist das, von einer gewis­sen Ele­ganz. Und von einer deut­li­chen Mehr­di­men­sio­na­li­tät, die weit über das „Buch“ als Text hin­aus reicht: Das ist zugleich Buch­kunst (in den von der Autorin über­bor­dend gestal­te­ten Umschlä­gen und Vor­satz­blät­tern), im Text, in den ein­ge­füg­ten Fotos (die wirk­lich asl Bil­der ein­ge­klebt sind wie in einem per­sön­li­chen Album, nicht gedruckt), als Hörstück.

Kemp­ker ver­folgt hier die Geschich­te einer Lie­be, auch (gera­de) der kör­per­li­chen, über zwei Jahr­hun­der­te hin­weg. Sehen spielt dabei eine gro­ße Rol­le – und der Ver­lust davon, die Tren­nung, das Weg-​Gehen: Abwe­sen­des Sehen, also Erin­nern und Ver­ge­gen­wär­ti­gen ist ein wich­ti­ges The­ma die­ses Buches, des­sen Gat­tung gar nicht so ein­fach zu bestim­men ist: Das Gedächt­nis und als Bild oder im Foto, aber auch in der Prä­senz der Schrift. Tren­nung und Gegen­wart, Sehn­sucht und Erfül­lung sind die gro­ßen The­men die­ses Buches. Schei­tern oder doch ein (pro­ble­ma­ti­sches) Gelin­gen, das bleibt in der Schwebe.

Kemp­ker schreibt hier dicht, fast atem­los mit den kur­zen Sät­zen, den weni­gen Hypo­ta­xen und den oft nach­ge­stell­ten Appo­si­tio­nen (und über­ge­ord­ne­ten Sät­zen). Am ehes­ten kann man Ich will ein Buch mit dir wohl als Lang­ge­dicht zu bezeich­nen, des­sen Stro­phen aber eher als Blö­cke oder Kapi­tel zu lsesn sind. Über­haupt ist die Unter­schei­dung Pro­sa oder Lyrik hier nicht ein­fach – zur Lyrik weist vor allem die Text­ge­stal­tung auf der Sei­te, weni­ger die eigent­li­che (inne­re) Textgestalt. 

Das Gan­ze ist dabei durch­aus aus­grei­fend: Die Buch­ge­stal­tung – mit den Fotos als „ech­te“ Fotos, wie im Fami­li­en­al­bum ein­ge­klebt, nicht gedruckt, dem Umschlag und den Vor­satz­blät­tern. Und dann auch noch eine CD mit einer knap­pen hal­ben Stun­de „Stü­cke“, die The­men und Sät­ze des Buches auf­grei­fen …, mit den Stim­men spie­len, die die „Bür­ger und Bür­ge­rin­nen der Stadt Ber­lin“ der Autorin und ihrem Co-​Autor lei­hen und den Tex­ten, den kur­zen Sät­zen neu­en Klang und neu­en Bei­klang, neu­en Sinn ver­lei­hen. Ein Aben­teu­er, wahrlich.

Ich schwin­ge mich von Satz zu Satz mein Schatz /​ durch die­se Soli­tü­den, ich häng an dir, im /​ Dschun­gel gibt es kei­nen fal­schen Ton, neh­me /​ dei­ne Brie­fe an mein Bett. (75f.)

Moni­ka Maron: Stil­le Zei­le Sechs. Frank­furt am Main: Fischer 1993. 219 Seiten .

maron, stille zeile sechsBei Tho­mas Bern­hard hät­te so ein Buch und sein The­ma den Unter­ti­tel Eine Abrech­nung getra­gen. Dafür ist Maron aber zu fein­sinng und es wäre ihre wohl auch zu direkt. Aber im Kern ist Stil­le Zei­le Sechs (was übri­gens eine Haus­num­mer ist und sich nicht auf irgend einen Text bezieht) genau das: Eine Abrech­nung mit den „Vätern“ der DDR, hier als Beglei­tung des Lebens­en­des und des Begräb­nis des über­zeug­ten Sozia­lis­ten Her­bert Bee­ren­baum durch die His­to­ri­ke­rin Rosa­lind Pol­kow­ski, die Mit­te der 1980er in der DDR beschließt, nicht mehr ihren Kopf und ihr Den­ken dem Arbeits­markt (wie es so schön heißt) zur Ver­fü­gung zu stel­len, des­halb als eine Art Sekre­tä­rin des Bee­ren­baum für die Nie­der­schrift sei­ner Memoi­ren dient und dabei dann doch wie­der anfängt, zu den­ken und mit dem „Kopf zu arbei­ten“ – aller­dings in dras­ti­scher Oppo­si­ti­on un Her­aus­for­de­rung zu Beerenbaum. 

Dar­in, wie in einem Kin­der­bett, lag der geschrumpf­te Bee­ren­baum; der Mensch erkenn­bar als sein ver­schlis­se­nes Mate­ri­al: die gal­lert­ar­ti­ge Sub­stanz der Augen, deren Run­dung die Höh­len frei­ga­ben, die Haut als Per­ga­ment, schon los­ge­löst vom Fleisch, das blaue Geäder hin­ter den trans­pa­ren­ten Schlä­fen, die Schä­del­kno­chen, die sich durch die schlaf­fe Haut dräng­ten und als das Gesicht des Todes schon sicht­bar waren unter dem, das Bee­ren­baum im Leben gehört hat­te. (32f.)

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Ger­traud Klemm: Herz­milch. Graz: Dro­schl 2014. 237 Seiten. 

klemm, herzmilchDas ist groß­ar­tig, die­ses Buch – die­ser Roman. Dabei ist es eigent­lich fast trau­rig und depri­mie­rend, was hier erzählt wird. Im Kern geht es um die Fra­ge: Wie wird man Frau? Und wie ist man das eigent­lich? Wie ver­hält man sich zu den Rollen-​/​Geschlechtserwartungen, zu den Ansprü­chen der ande­ren, der Gesell­schaft, zu den eige­nen Träu­men zwi­schen Kopf und Körper?

Es gibt kein Ent­kom­men von mei­nem Geschlecht. (182)

Wun­der­bar fand ich die Erzähl­tech­nik, mit der Klemm fast unmerk­lich die Zeit ver­ge­hen lässt: Die fünf Haupt­tei­le sind jeweils bestim­men Lebens­ab­schnit­ten gewid­met – Kind­heit, Pubertät/​Abitur, Stu­di­um, Arbeits­le­ben, Mut­ter­schaft -, in ihnen glei­tet die Zeit oft dahin, wech­sel Klemm und springt ohne direk­te Hin­wei­se im Text nach vorn. Dazu die radi­ka­le Innen­per­spek­ti­ve, die star­ke Ein­sich­ten ver­mit­teln kann. Und das wird dar­über hin­aus in einer sehr bild­haf­ten Spra­che erzählt, gera­de im Anfang, aber auch über die Kind­heit hin­aus: Eine Spra­che, die einen phan­ta­sischen oder zumin­dest phan­ta­sie­vol­len Umgang mit der Umwelt wider­spie­gelt und die die Welt und die Umge­bung belebt.

Ich bin kein Kind mehr, das ist klar. Aber was muss ich jetzt tun, um eine Frau zu sein? (55)/

Suchen und Fra­gen sind die Haupt­mo­ti­ve in Herz­milch – und das Zwei­feln, immer wie­der das Zwei­feln: an der Rol­le, an der eige­nen Iden­ti­tät, an den Zie­len und Wün­schen – ein Leben als Lei­den kris­tal­li­siert sich dabei her­aus. Das ist oft bit­ter und trau­rig, in wei­ten Tei­len auch hart erzählt, schlägt aber nie ins Böse oder zur Bös­ar­tig­keit um. Die­se Grat­wan­de­rung ist es, was wesent­lich dazu bei­trägt, Klemms Roman so gelun­gen zu machen.

Ein Pfahl steckt quer durch unser gan­zes Leben und die Herz­milch spritzt in Fon­tä­nen her­aus. (220)

Fori­an Schei­be: Wei­ße Stun­de. Wien: Luft­schaft 2012. 205 Seiten. 

Florian Scheibe, Weiße StundeAuch wie­der so eine selt­sa­me Geschich­te: Die Freun­din des Erzäh­lers „ver­schwin­det“ bei einem Aus­flug im (Arbeits-)Urlaub in Sizi­li­en, in Noto – und der Erzäh­ler ver­hält sich, das ist der Haupt­teil der Erzäh­lung, des Debüt­ro­mans von Schei­be (auf den ich durch sei­nen Bei­trag in der SpritZ #209 auf­merk­sam wur­de), etwas unge­wöhn­lich, selt­sam und auch ihm selbst uner­klär­lich: Er sucht nicht nach ihr. Fast im Gegen­teil ver­schweigt und ver­heim­licht er zumin­dest zeit- und teil­wei­se ihre Abwe­sen­heit und den Grund. Das führt zu einer neu­en Schaf­fens­kraft des als – bis dahin blo­ckier­ten – Autor arbei­ten­den Erzäh­lers. Dann gerät er aller­dings unter Mord­ver­dacht, wird auch ver­ur­teilt – und im abschlie­ßen­den Teil erfährt der Leser dann sehr hol­ter­di­pol­ter, sehr dif­fe­rent zum ers­ten Teil des Romans, die Unschuld des Erzäh­lers (die Frau war von einem ein­hei­mi­schen Bau­ern ent­führt und ermor­det wor­den, was ein­ein­halb Jah­re spä­ter ans Licht gelangt) bei einer Rück­kehr an den Ort des Ver­lus­tes und des Ver­bre­chens – was aber wie­der­um zu einem Umschlag führt: Die­ses Mal bricht der Erzäh­ler wie­der­um alle Brü­cken ab, lebt als Obdach­lo­ser den sizi­lia­ni­schen Som­mer (ohne Aus­sicht auf Lösung die­ses Zustan­des im Win­ter), aber eben wie­der­um als Schrei­ben­der – Künstler-​sein gelingt offen­bar nur in dem Moment, in dem er sich aus der Gesell­schaft und ihren Erwar­tun­gen radi­kal aus­klinkt, mit ihnen bricht und sich ihr und ihnen (total, bis zur kör­per­li­chen und geis­ti­gen Selbst­auf­ga­be) ver­wei­gert. Eine gewis­se Skep­sis kann ich ange­sichts des­sen nicht ver­heh­len: Der „Fluch des Schrei­bens“ treibt mir hier zu gro­ße Blüten …

Die Span­nung, die Schei­be aus die­ser Kon­stel­la­ti­on ent­wi­ckelt, ist durch­aus stark – zumal man als Leser dem Erzäh­ler so eini­ges zutraut, ohne sich je sicher sein zu kön­nen. Aber der Schluss hat mich dann doch arg unbe­frie­digt hin­ter­las­sen, zumal das Pen­deln zwi­schen Selbst­über­schät­zung und Selbst­zer­stö­rung zu kei­nem „ver­nün­fi­gen“, irgend­wie befrie­di­gen­den Ergeb­nis führt. 

Klaus Bartsch: Tan­go Ber­lin. Neue und aus­ge­wähl­te Gedich­te. Ber­lin: Wagen­bach 2010. 77 Seiten. 

tango berlinEine manch­mal erstaun­li­che Mischung zeigt die­se vom Autor selbst ver­an­stal­te­te Werk­aus­wahl (lei­der ohne Nach­wei­se und Entstehungszeit- bzw. Erst­ver­öf­fent­li­chungs­an­ga­ben): Es geht in den Gedich­ten oft um har­te Din­ge, um Krieg, Tod, Gewalt und Zer­stö­rung. aber sie zei­gen oft eine spür­ba­re Hei­ter­keit ange­sichts von Grau­en und Schre­cken des Welt­krie­ges, von Man­gel und Zwang. Gewitz­heit und Gelas­sen­heit prä­sen­tie­ren sich oft in lako­ni­scher Cool­ness: knapp und unsen­ti­men­tal, trotz des sen­ti­ma­li­schen For­men­ge­brauchs (mit regel­mä­ßi­ger Metrik mit klas­si­schen Paar- oder Kreuz­rei­men in vie­len Fäl­len). Auch wenn man oft zu lachen beginnt: ein Humo­rist ist Bartsch eigent­lich nicht, es ist eher ein gemei­nes, ein trau­ri­ges, auch ein ver­zwei­fel­tes Lachen.

Nach­kriegs­win­ter

Der Schorn­stein der Schornstein
Sin­gen die Kinder
Ist Nicht­rau­cher geworden
Die Son­ne die Sonne
ging lei­der auch aus
Sie hat kei­nen Bezugsschein
Für neue Koh­len (14)

außer­dem: Das Rolands­lied und ein paar Literaturzeitschriften …

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