Birgit Kempker: Ich will ein Buch mit dir. Weil am Rhein: Urs Engeler Editor 1997. 119 Seiten.
Ein feines und schönes Buch ist das, von einer gewissen Eleganz. Und von einer deutlichen Mehrdimensionalität, die weit über das „Buch“ als Text hinaus reicht: Das ist zugleich Buchkunst (in den von der Autorin überbordend gestalteten Umschlägen und Vorsatzblättern), im Text, in den eingefügten Fotos (die wirklich asl Bilder eingeklebt sind wie in einem persönlichen Album, nicht gedruckt), als Hörstück.
Kempker verfolgt hier die Geschichte einer Liebe, auch (gerade) der körperlichen, über zwei Jahrhunderte hinweg. Sehen spielt dabei eine große Rolle – und der Verlust davon, die Trennung, das Weg-Gehen: Abwesendes Sehen, also Erinnern und Vergegenwärtigen ist ein wichtiges Thema dieses Buches, dessen Gattung gar nicht so einfach zu bestimmen ist: Das Gedächtnis und als Bild oder im Foto, aber auch in der Präsenz der Schrift. Trennung und Gegenwart, Sehnsucht und Erfüllung sind die großen Themen dieses Buches. Scheitern oder doch ein (problematisches) Gelingen, das bleibt in der Schwebe.
Kempker schreibt hier dicht, fast atemlos mit den kurzen Sätzen, den wenigen Hypotaxen und den oft nachgestellten Appositionen (und übergeordneten Sätzen). Am ehesten kann man Ich will ein Buch mit dir wohl als Langgedicht zu bezeichnen, dessen Strophen aber eher als Blöcke oder Kapitel zu lsesn sind. Überhaupt ist die Unterscheidung Prosa oder Lyrik hier nicht einfach – zur Lyrik weist vor allem die Textgestaltung auf der Seite, weniger die eigentliche (innere) Textgestalt.
Das Ganze ist dabei durchaus ausgreifend: Die Buchgestaltung – mit den Fotos als „echte“ Fotos, wie im Familienalbum eingeklebt, nicht gedruckt, dem Umschlag und den Vorsatzblättern. Und dann auch noch eine CD mit einer knappen halben Stunde „Stücke“, die Themen und Sätze des Buches aufgreifen …, mit den Stimmen spielen, die die „Bürger und Bürgerinnen der Stadt Berlin“ der Autorin und ihrem Co-Autor leihen und den Texten, den kurzen Sätzen neuen Klang und neuen Beiklang, neuen Sinn verleihen. Ein Abenteuer, wahrlich.
Ich schwinge mich von Satz zu Satz mein Schatz / durch diese Solitüden, ich häng an dir, im / Dschungel gibt es keinen falschen Ton, nehme / deine Briefe an mein Bett. (75f.)
Monika Maron: Stille Zeile Sechs. Frankfurt am Main: Fischer 1993. 219 Seiten .
Bei Thomas Bernhard hätte so ein Buch und sein Thema den Untertitel Eine Abrechnung getragen. Dafür ist Maron aber zu feinsinng und es wäre ihre wohl auch zu direkt. Aber im Kern ist Stille Zeile Sechs (was übrigens eine Hausnummer ist und sich nicht auf irgend einen Text bezieht) genau das: Eine Abrechnung mit den „Vätern“ der DDR, hier als Begleitung des Lebensendes und des Begräbnis des überzeugten Sozialisten Herbert Beerenbaum durch die Historikerin Rosalind Polkowski, die Mitte der 1980er in der DDR beschließt, nicht mehr ihren Kopf und ihr Denken dem Arbeitsmarkt (wie es so schön heißt) zur Verfügung zu stellen, deshalb als eine Art Sekretärin des Beerenbaum für die Niederschrift seiner Memoiren dient und dabei dann doch wieder anfängt, zu denken und mit dem „Kopf zu arbeiten“ – allerdings in drastischer Opposition un Herausforderung zu Beerenbaum.
Darin, wie in einem Kinderbett, lag der geschrumpfte Beerenbaum; der Mensch erkennbar als sein verschlissenes Material: die gallertartige Substanz der Augen, deren Rundung die Höhlen freigaben, die Haut als Pergament, schon losgelöst vom Fleisch, das blaue Geäder hinter den transparenten Schläfen, die Schädelknochen, die sich durch die schlaffe Haut drängten und als das Gesicht des Todes schon sichtbar waren unter dem, das Beerenbaum im Leben gehört hatte. (32f.)
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Gertraud Klemm: Herzmilch. Graz: Droschl 2014. 237 Seiten.
Das ist großartig, dieses Buch – dieser Roman. Dabei ist es eigentlich fast traurig und deprimierend, was hier erzählt wird. Im Kern geht es um die Frage: Wie wird man Frau? Und wie ist man das eigentlich? Wie verhält man sich zu den Rollen-/Geschlechtserwartungen, zu den Ansprüchen der anderen, der Gesellschaft, zu den eigenen Träumen zwischen Kopf und Körper?
Es gibt kein Entkommen von meinem Geschlecht. (182)
Wunderbar fand ich die Erzähltechnik, mit der Klemm fast unmerklich die Zeit vergehen lässt: Die fünf Hauptteile sind jeweils bestimmen Lebensabschnitten gewidmet – Kindheit, Pubertät/Abitur, Studium, Arbeitsleben, Mutterschaft -, in ihnen gleitet die Zeit oft dahin, wechsel Klemm und springt ohne direkte Hinweise im Text nach vorn. Dazu die radikale Innenperspektive, die starke Einsichten vermitteln kann. Und das wird darüber hinaus in einer sehr bildhaften Sprache erzählt, gerade im Anfang, aber auch über die Kindheit hinaus: Eine Sprache, die einen phantasischen oder zumindest phantasievollen Umgang mit der Umwelt widerspiegelt und die die Welt und die Umgebung belebt.
Ich bin kein Kind mehr, das ist klar. Aber was muss ich jetzt tun, um eine Frau zu sein? (55)/
Suchen und Fragen sind die Hauptmotive in Herzmilch – und das Zweifeln, immer wieder das Zweifeln: an der Rolle, an der eigenen Identität, an den Zielen und Wünschen – ein Leben als Leiden kristallisiert sich dabei heraus. Das ist oft bitter und traurig, in weiten Teilen auch hart erzählt, schlägt aber nie ins Böse oder zur Bösartigkeit um. Diese Gratwanderung ist es, was wesentlich dazu beiträgt, Klemms Roman so gelungen zu machen.
Ein Pfahl steckt quer durch unser ganzes Leben und die Herzmilch spritzt in Fontänen heraus. (220)
Forian Scheibe: Weiße Stunde. Wien: Luftschaft 2012. 205 Seiten.
Auch wieder so eine seltsame Geschichte: Die Freundin des Erzählers „verschwindet“ bei einem Ausflug im (Arbeits-)Urlaub in Sizilien, in Noto – und der Erzähler verhält sich, das ist der Hauptteil der Erzählung, des Debütromans von Scheibe (auf den ich durch seinen Beitrag in der SpritZ #209 aufmerksam wurde), etwas ungewöhnlich, seltsam und auch ihm selbst unerklärlich: Er sucht nicht nach ihr. Fast im Gegenteil verschweigt und verheimlicht er zumindest zeit- und teilweise ihre Abwesenheit und den Grund. Das führt zu einer neuen Schaffenskraft des als – bis dahin blockierten – Autor arbeitenden Erzählers. Dann gerät er allerdings unter Mordverdacht, wird auch verurteilt – und im abschließenden Teil erfährt der Leser dann sehr holterdipolter, sehr different zum ersten Teil des Romans, die Unschuld des Erzählers (die Frau war von einem einheimischen Bauern entführt und ermordet worden, was eineinhalb Jahre später ans Licht gelangt) bei einer Rückkehr an den Ort des Verlustes und des Verbrechens – was aber wiederum zu einem Umschlag führt: Dieses Mal bricht der Erzähler wiederum alle Brücken ab, lebt als Obdachloser den sizilianischen Sommer (ohne Aussicht auf Lösung dieses Zustandes im Winter), aber eben wiederum als Schreibender – Künstler-sein gelingt offenbar nur in dem Moment, in dem er sich aus der Gesellschaft und ihren Erwartungen radikal ausklinkt, mit ihnen bricht und sich ihr und ihnen (total, bis zur körperlichen und geistigen Selbstaufgabe) verweigert. Eine gewisse Skepsis kann ich angesichts dessen nicht verhehlen: Der „Fluch des Schreibens“ treibt mir hier zu große Blüten …
Die Spannung, die Scheibe aus dieser Konstellation entwickelt, ist durchaus stark – zumal man als Leser dem Erzähler so einiges zutraut, ohne sich je sicher sein zu können. Aber der Schluss hat mich dann doch arg unbefriedigt hinterlassen, zumal das Pendeln zwischen Selbstüberschätzung und Selbstzerstörung zu keinem „vernünfigen“, irgendwie befriedigenden Ergebnis führt.
Klaus Bartsch: Tango Berlin. Neue und ausgewählte Gedichte. Berlin: Wagenbach 2010. 77 Seiten.
Eine manchmal erstaunliche Mischung zeigt diese vom Autor selbst veranstaltete Werkauswahl (leider ohne Nachweise und Entstehungszeit- bzw. Erstveröffentlichungsangaben): Es geht in den Gedichten oft um harte Dinge, um Krieg, Tod, Gewalt und Zerstörung. aber sie zeigen oft eine spürbare Heiterkeit angesichts von Grauen und Schrecken des Weltkrieges, von Mangel und Zwang. Gewitzheit und Gelassenheit präsentieren sich oft in lakonischer Coolness: knapp und unsentimental, trotz des sentimalischen Formengebrauchs (mit regelmäßiger Metrik mit klassischen Paar- oder Kreuzreimen in vielen Fällen). Auch wenn man oft zu lachen beginnt: ein Humorist ist Bartsch eigentlich nicht, es ist eher ein gemeines, ein trauriges, auch ein verzweifeltes Lachen.
Nachkriegswinter
Der Schornstein der Schornstein
Singen die Kinder
Ist Nichtraucher geworden
Die Sonne die Sonne
ging leider auch aus
Sie hat keinen Bezugsschein
Für neue Kohlen (14)
außerdem: Das Rolandslied und ein paar Literaturzeitschriften …