Eine lustige Edition ist das, die mir zufällig im Buchladen in die Augen und Hände gefallen ist: Klaus Wagenbach hat kleine Texte gesammelt, für die Lektüre unterwegs im ÖPNV. Der Zweck bestimmt auch die Ordnung der Texte nach Anlass und Länge: Kurzstrecken, Bahnhof, Zwei Stationen etc. sind die Kapitel überschrieben. Hinter der witzigen und sympathischen Idee steckt aber vor allem eine schöne und vielfältige Sammlung größtenteils großartiger Kurzprosa: Kurzgeschichten, Parabeln, Anekdoten, Fabeln und vieles mehr. Wagenbachs Auswahl beweist ein sehr hohes Qualitätsniveau ohne Ausreißer: Das ist einfach gut ausgesucht. Und vieles Bekanntes ist dabei, natürlich — aber auch einiges Überraschendes, Unerwartetes. Und auch beim Wiederlesen entwickelt so manches in diesem Zusammenhang neue Aspekte. Das kleine Bändchen ist wirklich eine vortreffliche Lektüre für die Zeit des Bewegt-Werdens — da wünscht man sich manchmal beinahe eine tatsächliche “Störung im Betriebsablauf” …
“Es ist so leicht zu verschwinden.” (35) Das ist das ganze Problem. Denn wir Menschen sind tatsächlich kaum mehr als ein Gras im Wind — einmal hier, bald wieder weg. Und darum geht es in diesem Geschichten-Band (ausdrücklich nicht Erzählungen!): Um das Verschwinden, um das Vergessen. Und darum, wie sich das (vielleicht) doch verhindern oder aufschieben lässt — mit dem Erzählen zum Beispiel. Aber wer sagt dann, dass das Erzählte was mit der vergangenen/verschwundenen Realität zu tun hat? Doch: Das ist keine philosophische Abhandlung, kein Essay — und will es auch gar nicht sein. Sondern eine Feier des Erzählens. Denn Sandig ist eine großartige Erzählerin, deren breites stilistisches Repertoire und deren Sprache ich sehr mag (das war auch schon bei den Flamingos so!). Ich zitiere aus Faulheit mal die Verlagswebseite:
Ein junger Journalist versucht inmitten der Unruhen um den Istanbuler Gezi-Park die Erwartungen seiner Mutter abzuschütteln, die nach dem Mauerfall 1989 das Reisefieber gepackt hat. Ein Wanderer geht während eines Schneesturms in den uralten verwunschenen Wäldern des Engadin verloren. Ein kleines Mädchen wird zum nächsten Venusdurchgang von der Großmutter ans Ende der Welt geflogen. Wohin ihre Spuren führen, ist eines der vielen Rätsel dieser Geschichten.
Rätsel weisen Sandigs Geschichten immer wieder auf. Aber keine Spannungs- oder Krimi-Rätsel, sondern Rätsel, die auf die Frage nach der Wahrheit, der Wirklichkeit der Vergangenheit und der Erinnerung verweisen. Mir ist dann die eigentlich Geschichte oft gar nicht so wichtig — ob es nun um einen Witwer geht, der sich und seine Einsamkeit sowie seine fortschreitende Demenz beobachtet, um einen jungen Journalisten, die Wanderer im Engadin, die den mythisch-verklärten Tamangur-Wald entdecken wollen — die Hauptsache ist immer wieder das Erzählen selbst.
Ja, an diesem Tag und in dieser Minute findet sie plötzlich, dass sie sich diese Geschichte immer wieder anhören könnte und immer wieder in der jeweils aktuellen Version, und jeder Version würde sie Glauben schenken, wohl wissend, dass wir, jede Einzelne von uns, die Erzählerinnen unserer eigenen Geschichten sind und dass es nicht darauf ankommt, was in Wirklichkeit passiert ist, solange wir eine Version haben, die uns das Leben und alle, die darin verschwinden, erträglicher macht. (36f.)
Es gibt auch ein nett gemachtes “Video zum Buch” von Harald Opel:
Beim Klicken auf das und beim Abspielen des von YouTube eingebetteten Videos werden (u. U. personenbezogene) Daten wie die IP-Adresse an YouTube übertragen.
Offiziell als “Novelle” betitelt — und das haut auch hin. Ein kurzer Text für zwischendurch (die 126 Seiten sind recht großzügig gesetzt), mit hohem Spaßfaktor: Der Lieblingsschüler Arnold Litten trifft nach zwanzig Jahren wieder auf seinen immer schon etwas kauzigen Lieblingslehrer Thorsten Korthausen, der ihn, der mittlerweile zum Germanistik-Professor (vermutlich …) geworden ist, damals im Fach Deutsch unterrichtet und für die Literatur begeistert hat. Im Rückblick tauchen die sehr ungewöhnlichen Lehrmethoden Korthausens noch einmal auf (die jeder Ordnung, Vergleichbarkeit oder Planmäßigkeit spotten, aber natürlich höchst genial waren und alle Schülerinnen und Schüler enorm begeisterten …). Jetzt also das Wiedersehen, auf einer von Korthausen extra dafür ausgerichteten Party, bei der Litten auch noch ohne Vorwarnung einen Vortrag halten soll. Das alles geht, fast erwartungsgemäß, fürchterlich schief und gibt allen, vor allem aber Litten selbst, gründlich Gelegenheit, sich selbst, ihre Stellung und ihrer (Lebens-)Ziele, aber auch die gemeinsame Vergangenheit, noch einmal gründlich zu überdenken. Das ist alles sehr liebevoll geschildert, mit wunderbaren Typen (gerade die Nebenfiguren sind herrlich). Die konfrontative Situation steigert sich immer mehr, bis das Ganze schließlich in eine ziemlich wilde Groteske umkippt. Kurz vor dem Schluss (der noch einmal eine absolut unnötige “überraschende Wendung” bietet) heißt es dann:
Er hätte niemals hierherkommen dürfen. […] Dass es ein Fehler sei, einen Menschen wie Korthausen nach über zwanzig Jahren einfach wiederzusehen. Dass man dabei nur verlieren kann, zuerste einen geliebten Lehrer udn dann sich selbst. Dass man sich dadurch seiner grundlegensten Ebenen beraubt. Und seiner schönsten Bilder. (125)
“Gedichte” stimmt hier gerade so — es sind nämlich genau zwei Langgedichte, die in diesem kleinen Bänchen zu finden sind: “Werichbin” (das scheint die bevorzugte Schreibweise des Titels zu sein) und “Über das Zusammenfügen von Teilen”. Beide sind wieder typische Böhmer-Schöpfungen: Auf Mittelachse stehen diese Texttürme, ohne Reim oder festes Metrum, sind sie fortlaufende Ketten von Einfällen und Assoziationen. Formgebend ist beim Titelgedicht “Wer ich bin” zum Beispiel das “Wie” — “So” und “Daß” am Beginn der einzelnen Versgruppen in den drei Teilen des Titelgedichts.
Wer diesen (Vor-)Namen trägt, muss vielleicht so schreiben: voller Bildgewalt, voller Wissen, immer alles wollend und auch alles sagen wollend, Texte voller Welthaltigkeit (oder vielleicht auch Weltallhaltigkeit?) und Sprachbeherrschung produzierend. Auch “Werichbin” überwältigt mit dieser Vielfalt, wie immer bei Böhmer ist das alles kaum fassbar. Seine Gedichte hinterlassen bei mir den Eindruck von Größe und auch Erhabenheit (das mag mit dem hymnischen Ton seiner Lyrik zusammenhängen), von Sprachgewalt und wissender Klugheit, die den Leser emporzuheben scheint (auch wenn ich nicht unbedingt sagen könnte, wohin — oder was ich daraus “gelernt” hätte): Man kann — und das behaupte ich ja gerne von guten Kunstwerken — das nicht lesen (bzw. sehen oder hören), ohne danach ein anderer Mensch zu sein. Und hat immer etwas von permanenter Überforderung: Ich habe beim Lesen immer das Gefühl, dass mir viel entgeht — zugleich aber auch den Eindruck, dass ich ganz viel davon habe, das jetzt zu lesen. Michael Braun hat in seiner Rezension wohl nicht ganz zu Unrecht darauf hingewiesen, dass Böhmers Lyrik als “Überfluss-Produktion” funktioniere. Das macht sie aber eben schwierig und faszinierend zugleich …
Das kleine Bändchen — sozusagen Böhmer für Einsteiger (Kaddish ist da allein wegen seines Umfangs ja schon abschreckender …) — enthält außer den beiden Gedichten noch ein kurzes Nachwort (das mir wenig brachte) und drei Collagen — eine bunte vom Autor auf dem Umschlag, eine schwarz-weiße von ihm im Vorsatz und eine weitere von Lydia Böhmer zu Beginn von “Über das Zusammenfügen von Teilen”.
Ein tolles Buch übers Erwachsenwerden in Bonn, die Musik (und den Alkohol), das Leben und den ganzen Rest: intelligent ausgedacht, schnell und flott geschrieben und auch zügig gelesen — und zudem gibt es eine reichhaltige crossmediale Begleitung für die, die so etwas mögen — die fängt übrigens mit Playlists des Protagonisten (u.a. sein erster Ipod mit “langer” Musik) schon im Buch selbst an. Mehr zu dieser Leseempfehlung gibt es in einem eigenen Text, nämlich hier.
Der Titel ist natürlich selten dämlich. Wieso sich der Beck-Verlag zu so einem Unsinn hinreißen lassen hat, verstehe ich nicht. Denn das Büchlein hat ja durchaus einen hohen Anspruch. Sicher, es geht um Anekdoten. Aber die sollen viel leisten, wie die beiden Herausgeber in der Einleitung betonen:
[…] hegen die Herausgeber die Hoffnung, mitels der hier versammelten Äußerungen von und über Bismarck seiner Persönlichkeit näher zu kommen, als es manch tiefgründige historische Darstellung vermag. (8)
Ich halte das prinzipiell für gewagt und im Falle dieser kleinen Sammlung auch für nicht erfüllt. So viel also zum Negativen. Was bleibt dann? Eine kuriose Sammlung von mehr oder minder amüsanten Begegnungen, Begebenheiten und Erinnerungen Bismarcks und seines Umfeldes. Die ersten Jahre sind naturgemäß schwach vertreten und gerade dort bleibt der Protagonist auch blass, wenn auch seine Genialität natürlich (schließlich wurden die Anekdoten alle Jahrzehnte später niedergeschrieben) schon allen Verständigen sichtbar war. Überhaupt entsteht hier das Bild eines Bismarck, der nicht so sehr “Eiserner Kanzler” war, sondern vor allem ein gewitzter Draufgänger. Das liegt natürlich (auch) in der Natur der hier versammelten Quellen begründet — wie wahr das ist, kann ich nicht wirklich beurteilen. Feststellen lässt sich aber auch ohne detaillierte Bismarck-Kenntnisse die Neigung zur frühen und ziemlich vollständigen (Selbst-)Stilisierung.
Daneben werden aber durchaus auch schöne Begebenheiten hier berichtet. Zum Beispiel über die Rolle des Rauchens im Frankfuter Bundestag, das schnell als Rangmerkmal, als Statussymbol entdeckt wird (wer darf in den Sitzungen rauchen?) und das fast genauso schnell seine Untauglichkeit dafür erweist, weil schließlich (nahezu) alle rauchen, selbst wenn sie, d.h. die Gesandten, es nur unter größtem persönlichem Widerwillen tun. Auch schön: Bismarcks etwas dämlicher Feldzug gegen die Antiqua-Drucke und sein Bestehen auf Fraktur-Schriften für den Dienstgebrauch. Und hier darf natürlich nicht fehlen: Sein Widerstand gegen die Einführung einer neuen Rechtschreibung (1876). Dazu heißt es in diesem Bändchen, das alles in allem doch eine nette Lektüre für zwischendurch ist:
Er sprach mit wahrem Ingrimm über die Versuche, eine neue Orthographie einzuführen. Er werde jeden Diplomaten in eine Ordnungsstrafe nehmen, welcher sich derselben bediene. Man mute dem Menschen zu, sich an neue Maße, Gewichte, Münzen zu gewöhnen, verwirre alle gewohnten Begriffe, und nun wolle man auch noch eine Sprachkonfusion einführen. Das sei unerträglich. Beim Lesen auch noch Zeit zu verlieren, um sich zu besinnen, welchen Begriff das Zeichen ausdrücke, sei eine unerhörte Zumutung. Ebenso sei es Unsinn, Deutsch mit lateinischen Lettern zu schreiben und zu drucken, was er sich in seinen dienstlichen Beziehungen verbitten werde, solange er noch etwas zu sagen habe. (79)
außerdem gelesen:
- Marcel Beyer: XX. Lichtenberg-Poetikvorlesungen. Göttingen: Wallstein 2015 (Göttinger Sudelblätter). 80 Seiten.
- Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan. Parabelstück. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964. 144. Seiten.
- Gottfried Immanuel Wenzel: Verbrechen aus Infamie. Eine theatralische Menschenschilderung für Richter und Psichologen in drei Akten. Mit einem Nachwort herausgegeben von Alexander Kosenina. Hannover: Wehrhahn 2014 [1788] (Theatertexte, Bd. 43). 64 Seiten.