Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: john corbett

Aus-Lese #48

Tho­mas Brussig: Was­ser­far­ben. Ber­lin: Auf­bau Digi­tal 2016. 183 Sei­ten. ISBN 978−3−8412−1084−5.

brussig, wasserfarben (cover)Was­ser­far­ben ist der ers­te Roman von Brussig, 1991 unter einem Pseud­onym erschie­nen und jetzt als E‑Book ver­öf­fent­licht, des­halb ist er sozu­sa­gen bei mir gelan­det. Es wird erzählt von einem Abitu­ri­ent in Ost-Ber­lin am Über­gangs­punkt zwi­schen noch Schu­le und bald Leben. Es soll also ganz offen­sicht­lich ein coming-of-age-Roman sein. Das ist es aber nicht so recht – weil der „Held“ sich wenig bis gar nicht ent­wi­ckelt und erst am Ende von sei­nem älte­ren Bru­der erklärt bekommt, wie man erwach­sen wird … Der Text ist viel­leicht typisch Brussig: gewollt rot­zig und trot­zig. Und die­ses bemüh­te Wol­len merkt man dem Text lei­der immer wie­der an – nicht an allen Stel­len, aber doch häu­fig. Genau wie er bemüht „frech“ sein will ist er auch etwas bemüht wit­zig. Vor allem aber fehlt mir die eigent­li­che Moti­va­ti­on des Erzäh­lers, war­um er so ist, wie er ist. Das wird ein­fach nicht klar.

Was­ser­far­ben ist dabei sowie­so von einem eher lah­men Witz und hin­ken­dem Esprit gekenn­zeich­net. Das passt inso­fern, als auch die beschrie­be­ne DDR-Jugend in den 80ern so halb auf­säs­sig ist: nicht ganz ange­passt, aber auch kein Hang zur Total­ver­wei­ge­rung oder wenigs­tens „ordent­li­cher“ Oppo­si­ti­on. Das, der Held und sei­ne Freun­de und Bekann­te, denen er im Lauf der Erzäh­lung begeg­net, zei­gen dafür sehr schön den Druck, den das Sys­tem auf­bau­en und aus­üben konn­te, vor allem in der Schu­le, aber auch im Pri­vat­le­ben, wo Arnold, der Prot­ago­nist und Erzäh­ler (der den Leser schön brav siezt und auch sonst so sei­ne extrem ange­pass­ten Momen­te hat), durch­aus aneckt – vor allem wohl aus einem unspe­zi­fi­schen Frei­heits­drang, weni­ger aus grund­sätz­li­cher Oppo­si­ti­on. Das Buch hat durch­aus eini­ge net­te Momen­te, die auch mal zum Schmun­zeln anre­gen kön­nen, erschien mir auf die Dau­er aber etwas fad – so wie die Jugend und die DDR selbst viel­leicht. Nicht umsonst beschrei­ben die sich als „was­ser­far­ben“ im Sin­ne von: die­se Jugend hat die Far­be von Was­ser, ist also ziem­lich blass, durch­schei­nend, aber auch vielfältig. 

Alke Stach­ler: Dün­ner Ort. Mit foto­gra­fi­schen Illus­tra­tio­nen von Sarah Oswald. Salz­burg: edi­ti­on mosa­ik 2016 (edi­ti­on mosa­ik 1.2). 64 Sei­ten. ISBN 9783200044548.

Mei­nen Ein­druck die­ses fei­nen Büch­leins, dass es mir nach anfäng­li­cher Distanz doch ziem­lich ange­tan hat, habe ich an einem ande­ren Ort auf­ge­schrie­ben: klick.

John Corbett/​span>: A Listener’s Gui­de to Free Impro­vi­sa­ti­on. Chi­ca­go, Lon­don: The Uni­ver­si­ty of Chi­ca­go Press 2016. 172 Sei­ten. ISBN 978−0−226−35380−7.

Die­se gelun­ge­ne Ein­füh­rung in die frei impro­vi­sier­te Musik für inter­es­sier­te Hörer und Höre­rin­nen habe ich auch schon in einem Extra-Bei­trag gelobt: klick.

Nora Gom­rin­ger: ach du je. Luzern: Der gesun­de Men­schen­ver­sand 2015 (edi­ti­on spo­ken script/​Sprechtexte 16).153 Sei­ten. ISBN 9783038530138. 

gomringer, ach du je (cover)Die­ser Band ver­sam­melt Sprech­tex­te Gom­rin­gers. Die zie­len auf die Stim­me und ihre kör­per­li­che Mate­ria­li­tät, sie set­zen sie vor­aus, sie machen sie zu einem Teil des Tex­tes selbst – oder, wie es im Nach­wort heißt: „Die Nie­der­schrift ist für sie ein Behelf, um das lyri­sche schlecht­hin zur Erfül­lung zu brin­gen.“ (144). Das ist gewis­ser­ma­ßen Vor­teil und Pro­blem zugleich. Dass man den Tex­ten ihre Stim­me sozu­sa­gen immer anmerkt, ist kon­se­quent. Und sie pas­sen damit natür­lich sehr gut in die „edi­ti­on spo­ken script“. Ich – und das ist eben eine rein sub­jek­ti­ve Posi­ti­on – mag das aller­dings oft nicht so ger­ne, zu sprechende/​gesprochene Tex­te lesen – da fehlt ein­fach wesent­li­che Dimen­si­on beim „blo­ßen“ Lesen. Und was übrig bleibt, funk­tio­niert nicht immer, nicht unbe­dingt so rich­tig gut. Das soll aber auch gar kei­ne Rüge sein und kei­nen Man­gel anzei­gen: Sprech­tex­te, die als sol­che kon­zi­piert und geschrie­ben wur­den, sind eben mit bzw. in der Stim­me gedacht. Ist ja logisch. Wenn die nun im gedruck­ten Text weg­fällt, fehlt eine Dimen­si­on des Tex­tes, die sich ima­gi­na­tiv für mich nicht immer rei­bungs-/naht­los erset­zen lässt. Ich den­ke durch­aus, dass min­des­te ein Teil der Tex­te gut sind. Gefal­len hat mir zum Bei­spiel das wie­der­hol­te Aus­pro­bie­ren und Beden­ken, was Spra­che ver­mag und in wel­cher Form: was sich also (wie) sagen lässt. Ande­res dage­gen schien mir doch recht banal. Und manch­mal auch etwas laut und etwas „in your face“, eine Spur zu auf­dring­lich und über-direkt. Ins­ge­samt hin­ter­lässt der Band damit bei mir einen sehr diver­gen­ten, unein­heit­li­chen Eindruck.

Modern

Einen Baum pflanzen
Auf ihm ein Haus bauen
Da rein ein Kind setzen
Das Kind zweisprachig
Anschrei­en (116)

Urs Leimgruber/​Jacques Demierre/​Barre Phil­lips: Lis­tening. Car­net de Rou­te – LDP 2015. Nan­tes: Len­ka Len­te 2016. 269 Sei­ten. ISBN 9791094601051.

Lis­tening ist das Tour­ta­ge­buch des Impro­vi­sa­ti­ons­tri­os LDP, also des Saxo­pho­nis­ten Urs Leim­gru­ber, des Pia­nis­ten Jac­ques Demierre und des Bas­sis­ten Bar­re Phil­lips. Ursprüng­lich haben die drei das als Blog geschrie­ben und auch ver­öf­fent­licht. Drei Musi­ker also, die in drei Spra­chen schrei­ben – was dazu führt, dass ich es nicht ganz gele­sen habe, mein Fran­zö­sisch ist doch etwas arg ein­ge­ros­tet. Das geht mal ein paar Sät­ze, so man­ches habe ich dann aber doch über­sprun­gen. Und die ganz unter­schied­li­che Sicht­wei­sen und Sti­le beim Erzäh­len des Tou­rens haben. Da geht es natür­lich auch um den Tourall­tag, das Rei­sen spielt eine gro­ße Rol­le. Wich­ti­ger aber noch sind die Ver­an­stal­ter, die Orga­ni­sa­ti­on und vor allem die Orte und Räu­me, in den sich die Musik des Tri­os ent­wi­ckeln kann. Und immer wie­der wird die Mühe des Gan­zen deut­lich: Stun­den- bis tage­lang fah­ren, unter­wegs sein für ein bis zwei Stun­den Musik. Und doch ist es das wert, sowohl den Pro­du­zen­ten als auch den Rezi­pi­en­ten der frei­en Musik. 

The per­forming musician’s han­di­cap is that each con­cert is the last one ever. It’s never going to get any bet­ter than it is today. The con­cert is ‚do or die‘ time. This moment is your truth and the groups truth. (65)

Die Räu­me, Publi­ka und auch die bespiel­ten Instru­men­te wer­den immer wie­der beschrie­ben und bewer­ten. Demierre führt zum Bei­spiel genau Buch, wel­che Kla­vie­re und Flü­gel er bespielt, bis hin zur Seri­en­num­mer der Instru­men­te. Und da ist vom Stein­way-Kon­zert­flü­gel der D‑Reihe bis zum abge­wrack­ten „upright“ alles dabei … Leim­gru­ber inter­es­siert sich mehr für die Städ­te und Orga­ni­sa­ti­ons­zu­sam­men­hän­ge, in denen die Kon­zer­te statt­fin­den. Und natür­lich immer wie­der die Musik: Wie sie ent­steht und was dabei her­aus­kommt, wenn man in ver­trau­ter Beset­zung Tag für Tag woan­ders neu und immer wie­der frei impro­vi­siert. Und wie die Reak­tio­nen sind. Da fin­den sich, im Text des Tour­ta­ge­buch ver­teilt, immer wie­der inter­es­san­te Refle­xio­nen des Impro­vi­sie­rens und Selbst­po­si­tio­nie­run­gen, die ja bei sol­cher, in gewis­ser Wei­se mar­gi­na­ler, Musik immer auch Selbst­ver­ge­wis­se­run­gen sind. Nur geübt wird eigent­lich über­haupt nicht (außer Bar­re Phil­lips, der sich nach mona­te­lan­ger Abs­ti­nenz aus Krank­heits­grün­den wie­der neu mit sei­nem Bass ver­traut machen muss). Und im Trio gibt’s immer­hin kur­ze Sound­checks, die aber wohl vor allem der Erpro­bung und Anpas­sung an die jewei­li­ge Raum­akus­tik die­nen. Und nicht zuletzt bie­tet der Band noch vie­le schö­ne Fotos von Jac­ques Demierre.

Kon­zen­trier­tes Hören, Ver­ant­wor­tung, mate­ri­el­le Vor­aus­set­zun­gen und spon­ta­ne Ein­ga­ben bil­den die Basis der Musik. Wir agie­ren, inten­si­vie­ren, dekon­stru­ie­ren, eli­mi­nie­ren, addie­ren und mul­ti­pli­zie­ren… Wir prak­ti­zie­ren Musik in Echt­zeit, sie ent­steht, indem sie ent­steht. Ges­ten und Spiel­wei­sen ver­mi­schen sich und lösen sich ab. Wir hal­ten nichts fest. Das Aus­ge­las­se­ne zählt genau­so wie das Ein­ge­füg­te. Jedes Kon­zert ist auf sei­ne Art ein Ori­gi­nal. Jede Situa­ti­on ist anders. Der akus­ti­sche Raum, das Publi­kum, die gesam­te Stim­mung im Hier und Jetzt. (134f.)

Hubert Fich­te: Ich bei­ße Dich zum Abschied ganz zart. Brie­fe an Leo­no­re Mau. Hrsg. von Peter Braun. Frank­furt am Main: S. Fischer 2016. 256 Sei­ten. ISBN 978−3−10−002515−9.

fichte, briefe (umschlag)Zusam­men­ge­rech­net sind es knapp 60 Sei­ten Brie­fe, für die man 26 Euro bezahlt. Und vie­le der Brie­fe Hubert Fich­tes an sei­ne Lebens­ge­fähr­tin Leo­no­re Mau sind (sehr) knap­pe, kur­ze Mit­tei­lun­gen, die oft in ers­ter Linie die Bana­li­tä­ten des (Zusammen-)Lebens zum Inhalt haben. 

Ich will: kei­ner­lei fami­liä­re Bin­dun­gen. Ich will frei leben – als Sohn Pans – wenn Du willst und ich will schrei­ben. (28)

Die Brie­fe zeich­nen nicht unbe­dingt ein neu­es Fich­te-Bild – aber als Fan muss man das natür­lich lesen. Auch wenn ich mit schlech­tem Gewis­sen lese, weil es dem Autor­wil­len aus­drück­lich wider­spricht, denn der woll­te die­se Doku­men­te ver­nich­tet haben (was Leo­no­re Mau in Bezug auf sei­nen sons­ti­gen schrift­li­chen Nach­lass auch weit­ge­hend befolg­te, bei den Brie­fen (zumin­dest die­sen) aber unter­ließ, so dass sie nach ihrem Tod jetzt sozu­sa­gen gegen bei­der wil­len doch öffent­lich wer­den kön­nen und das Pri­va­te der bei­den Künst­ler­per­so­nen also der Öffent­lich­keit ein­ver­leibt wer­den kann …) Vor allem bin ich mir nicht sicher, ob sich – wie Her­aus­ge­ber Peter Braun im Nach­wort breit aus­führt – dar­aus wirk­lich ein „Reli­ef“ im Zusam­men­spiel mit den Wer­ken bil­det. Und wie immer bin ich mir ziem­lich unsi­cher, ob das den Wer­ken (es geht ja vor allem um die unfer­ti­ge „Geschich­te der Emp­find­lich­keit“) wirk­lich gut tut (bzw. der Lek­tü­re), wenn man sie mit den Brie­fen – und damit mit ihrem Autor – so eng ver­schränkt. Und ob es in irgend einer Wei­se not­wen­dig ist, scheint mir auch zwei­fel­haft. Ja, man erkennt die auto­bio­gra­phi­sche Grun­die­rung man­cher Jäcki-Züge und auch der Irma-Figur nach der Lek­tü­re der Brie­fe noch ein­mal. Aber ver­lei­tet das Brie­fe-Lesen dann nicht doch dazu, aus Jäcki Hubert und aus Irm Leo­no­re zu machen und damit wie­der am Text der Wer­ke vor­bei zu lesen? Ande­rer­seits: ein wirk­lich neu­es Bild, eine unent­deck­te Les­art der Glos­sen oder der Alten Welt scheint sich dann selbst für Braun doch nicht zu ergeben.

Ich will Frei­heit, Frei­heit – und dazu bedarfs Wit­zes und Lachens. (42)

Selbst Wil­li Wink­ler, durch­aus enthu­si­as­ti­scher Fich­teaner, befin­det in der Süd­deut­schen Zei­tung: „Die­se Brie­fe, ein­mal muss es doch her­aus, sind näm­lich von sen­sa­tio­nel­ler Belang­lo­sig­keit“ und schießt dann noch recht böse gegen die tat­säch­lich manch­mal auf­fal­len­den Bana­li­tä­ten des Kom­men­tars (mein Lieb­lings­kom­men­tar: „Darm­ge­räu­sche: Darm­ge­räu­sche sind ein Aus­druck der Peris­tal­tik von Magen und Darm und inso­fern Anzei­chen für deren nor­ma­le oder gestör­te Tätig­keit.“ (167)) und das etwas hoch­tra­ben­de Nach­wort von Her­aus­ge­ber Braun. Über­haupt macht das Drum­her­um, das ja eine gan­ze Men­ge Raum ein­nimmt, eher wenig Spaß. Das liegt auch an der eher unschö­nen, lieb­lo­se Gestal­tung. Und den – wie man es bei Fich­te und Fischer ja lei­der gewöhnt ist – vagen, unge­nau­en Edi­ti­ons­richt­li­ni­en. Der Titel müss­te eigent­lich auch anders hei­ßen, das Zitat geht näm­lich noch ein Wort wei­ter und heißt dann: „Ich bei­ße dich zum Abschied ganz zart /​wohin.“ So steht es zumin­dest im ent­spre­chen­den Brief, war dem Ver­lag aber wohl zu hei­kel. Und das ist dann doch schade …

Aber für uns ist ja nur das Unvor­sich­ti­ge das rich­ti­ge. (141)

außer­dem gelesen:

  • T. E. Law­rence: Wüs­ten-Gue­ril­la. Über­setzt von Flo­ri­an Trem­ba. Her­aus­ge­ge­ben von Rei­ner Nie­hoff. Ber­lin: blau­wer­ke 2015 (= split­ter 05/​06). 98 Sei­ten. ISBN 9783945002056.
  • Björn Kuhl­igk: Ich habe den Tag zer­schnit­ten. Riga: hoch­roth 2013. 26 Sei­ten. ISBN 97839934838309.
  • Chris­ti­an Mei­er­ho­fer: Georg Phil­ipp Hars­dörf­fer. Han­no­ver: Wehr­hahn 2014 (Meteo­re 15). 134 Sei­ten. ISBN 978−3−86525−418−4.
  • Edit #66
  • Müt­ze #12 & #13 (mit inter­es­san­ten Gedich­ten von Kurt Aeb­li und Rai­ner René Mueller)
livemusic (unsplash.com)

Wie hört man frei improvisierte Musik? John Corbett verrät es

corbett, guide (cover)Der Listener’s Gui­de von John Cor­bett ist eine tol­le Ein­füh­rung ins Hören von frei­er Impro­vi­sa­ti­on – und natür­lich auch in die Musik selbst. Das klei­ne Buch ist in drei gro­ße Tei­le geglie­dert. Einer Ein­lei­tung fol­gen die (sehr kon­kre­ten) Grund­la­gen des Hörens frei impro­vi­sier­ter Musik, denen sich dann die fort­ge­schrit­te­ne Tech­ni­ken (die oft recht abs­trakt und stär­ker sub­jek­tiv als der Haupt­teil blei­ben) anschließen.

In den Grund­la­gen ver­sucht Cor­bett – mei­nes Erach­tens ziem­lich schlüs­sig und erfolg­reich, aber ich bin ja nicht (mehr) ganz in der Ziel­grup­pe – über ver­schie­de­ne Aspek­te der Musik und des Hörens einen Zugang zur impro­vi­sier­ten Musik zu schaf­fen. Dafür erklärt er die Beson­der­heit von Rhyth­mus und Dau­er, geht der Fra­ge nach, wer was macht und wel­che Inter­ak­tio­nen pas­sie­ren sowie wel­che Über­gän­ge und wel­che Struk­tu­ren sich beim Hören erken­nen las­sen. Für „Fort­ge­schrit­te­ne“ geht es dann, wie­der­um in kon­zen­trier­ten, über­sicht­li­chen Kapi­teln, um das gleich­zei­ti­ge Sehen und Hören, um die Fra­ge „live oder Auf­nah­me?“, um die der frei­en Impro­vi­sa­ti­on inne­woh­nen­den Geheim­nis­se genau wie um ihre Ambi­gui­tä­ten und Unab­ge­schlos­sen­hei­ten sowie in einem Abste­cher auch um die „poly-free-music“ – also Musik, die nur noch teil­wei­se frei impro­vi­siert ist, die zumin­dest zeit­wei­se auf genaue­ren Abspra­chen oder Kom­po­si­ti­on beruht. Außer­dem gibt es noch knap­pe Über­le­gun­gen zum Schlaf und ande­ren Ablen­kun­gen wäh­rend dem Musik hören (Cor­bett ist dem nicht abge­neigt, weil das peri­phe­re Hören neue Ent­de­ckun­gen ermög­licht …), zur Rol­le des Publi­kums bei der Ent­ste­hung frei­er Musik und auch zur mora­li­schen Über­le­gen­heit die­ser Musik – die Cor­bett klar verneint.

Das alles ist sehr direkt und prä­gnant geschrie­ben. Man merkt durch­gän­gig, wie sehr der Autor vom Gegen­stand und der Ver­mitt­lung der Freu­de an die­ser Musik begeis­tert ist. Und mir gefielt der tro­cke­ne Witz und die inter­es­san­ten Meta­phern, die Cor­bett findet:

Impro­vi­sed music is like a bal­loon, it needs some ten­si­on to keep it taut; lose the ten­si­on, and the music farts around and falls limp on the flo­or. (65)
Lis­tening to moment-form impro­vi­sing is like sur­fing. (76f.)

Dabei ist das nicht musi­ko­lo­gisch-aka­de­misch, auch wenn sich erkenn­bar eine ziem­lich genaue Kennt­nis und gro­ße Ver­traut­heit mit der frei impro­vi­sier­ten Musik hin­ter dem Text ver­birgt. Schon die Defi­ni­ti­on, was denn „Free Impro­vi­sa­ti­on“ über­haupt sei, ist sehr prag­ma­tisch und durch­aus typisch für Cor­bett: „Impro­vi­sed music is music made using impro­vi­sa­ti­on. Simp­le enough.“ (XII) Genau, was muss man mehr sagen? Zur Abgren­zung von ande­ren impro­vi­sier­ten Musi­ken fügt er noch hin­zu, dass hier eben wirk­lich alle Fixie­rung fehlt, alle Abspra­che (die über äußerst Basa­les hin­aus geht) unter­bleibt und nur die Frei­heit des Moments bleibt.

Ver­packt ist das alles nicht als eine Erkun­dung der Musik selbst, son­dern als eine Art Anlei­tung zum genuss­vol­len Hören. Des­halb gibt es immer vie­le Hin­wei­se und Tipps zum mög­lichst ergie­bi­gen (nicht rich­ti­gen!) Hören (oder bes­ser: zum Genie­ßen der Frei­heit in die­ser Musik). Denn es geht ihm nicht um rich­tig oder falsch, um die wah­re Musik und ihr ein­zig wah­res Ver­ständ­nis, son­dern dar­um, Zugän­ge zu schaf­fen – und damit Begeis­te­rung zu wecken: Begeis­te­rung für die „Fremd­heit“ die­ser Musik, also für eine Befrei­ung (von Beschrän­kun­gen), für das Schaf­fen von unge­ahn­ten, groß­ar­ti­gen, unzäh­li­gen Mög­lich­kei­ten. Vie­le der Mög­lich­kei­ten der Impro­vi­sier­ten Musik ste­cken für Cor­bett in der Inter­ak­ti­on. Sie ist für ihn ganz klar der Kern, das eigent­li­che fea­ture der frei­en Impro­vi­sa­ti­on. Und ent­spre­chen stark auf die­sen Pro­zess bezo­gen sind auch sei­ne Hör­tipps. Und des­we­gen ist er auch eher skep­tisch gegen­über Soli (und gro­ßen Ensem­bles): „Impro­vi­sa­ti­on is social music.“ (56)

Im Gan­zen lernt man beim Lesen fast so viel wie beim Hören, Cor­bett gibt vie­le gute, fast groß­ar­ti­ge Rat­schlä­ge, die den inter­es­sier­ten Leser oder die Lese­rin mit einem Werk­zeug­satz, einer Art Besteck zum Hören, Beschrei­ben und Ana­ly­sie­ren der impro­vi­sier­ten Musik aus­stat­ten und das Hören somit inter­es­san­ter und ertrag­rei­cher machen.. Schön ist, dass er dabei – trotz des grund­le­gend ana­ly­ti­schen Zugangs – in sei­nem empha­ti­schen Wer­ben für die Musik auch Platz für deren Geheim­nis­se. Und her­vor­zu­he­ben ist auch, dass er immer wie­der ein­räumt und klar macht, dass Freie Impro­vi­sa­tio­nen nicht die bes­se­re, bes­te oder ein­zig wah­re Musik sind. Und dass sie auch nicht im ethi­schen Sinn bes­ser sind oder bes­ser machen. Mir scheint aber, dass er dabei aus­lässt, dass das Hören (bzw. das Gou­tie­ren) die­ser Musik durch­aus soziale/​ethische Qua­li­tä­ten för­dert, die man (wenn man möch­te – und ich tue das) durch­aus bewer­ten und hoch­schät­zen kann. Ins­be­son­de­re das „Aus­hal­ten“ (das ja mehr ein Wert­schät­zen als ein Tole­rie­ren ist) von Frei­heit, d.h. von Unge­wiss­heit, das posi­ti­ve, erwar­tungs­vol­le Erfah­ren von Neu­em, Unbe­kann­tem ist schon, so mei­ne ich, eine wert­vol­le Sache. Des­halb müs­sen free-impro­vi­sa­ti­ons-Anhän­ge­rin­nen natür­lich nicht zwangs­läu­fig bes­se­re Men­schen sein – aber sie ten­die­ren dazu, unter ande­rem offen für eine Gesell­schaft zu sein, die sich (auch) ver­än­dert – zumin­dest ist das mei­ne Erfahrung. 

Ergänzt wird Cor­betts Text übri­gens noch um ein paar Lis­ten – näm­lich drei sehr kur­ze und damit sehr angreif­bar kon­zen­trier­te Auf­lis­tun­gen den grundlegenden/​wichigen Auf­nah­men der frei­en Impro­vi­sa­ti­on sowie einer zwei­ten Lis­te der „poly-free-music“ und schließ­lich dem Hin­weis auf eini­ge Bücher zum The­ma. Und im Anhang fin­det sich noch eine deut­lich aus­führ­li­che­re Lis­te wichtiger/​bekannter Musi­ker und Musi­ke­rin­nen der Impro­vi­sa­ti­ons-Sze­ne, die alle zusam­men zugleich den Rest des Buches in einer ange­neh­men Wei­se vom name­drop­ping ent­las­ten. So macht näm­lich nicht nur das Hören, son­dern auch das Lesen Spaß. Vor allem, wenn man dazu die pas­sen­de Musik hört – bei mir waren es Wada­da Leo Smit­hs CDs „Kabell Years: 1971–1979“.

Our duty, as lis­ten­ers, is to be rest­less­ly curious, to root around this big glo­be and dig up new things to fill our ears and minds. It’s more a mat­ter of being inqui­si­ti­ve than of being eclec­tic. (162)

John Cor­bett: A Listener’s Gui­de to Free Impro­vi­sa­ti­on. Chi­ca­go, Lon­don: The Uni­ver­si­ty of Chi­ca­go Press 2016. 172 Sei­ten. ISBN 978−0−226−35380−7.

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