Manche Musik ist bes ser als jeder Film. Bachs Matthäuspassion ist so ein Fall: Obwohl es nichts zu sehen gibt außer einer großen Menge klösterlich schwarz gekleideter Musiker erzählt sie unheimlich viel. Eigentlich steckt sogar alles darin: Niedertracht, Opferbereitschaft, Heldentum, Schmerz, Trauer, Verzweiflung und Erlösung, aber auch Dankbarkeit, Versenkung, Liebe und Hoffnung – kaum eine Emotion, die sich hier nicht findet. Und bei Mathias Breitschaft im Dom darf man das quasi in 3D miterleben, auf einer riesigen Leinwand, mit großem Überwältigungspotenzial spüren und erfahren. Groß und mächtig entwickelt der Domkapellmeister mit Domchor, Domkantorei und dem Mainzer Kammerorchester nämlich die bekannteste Vertonung der Passionsgeschichte, richtig massiv und bedeutsam wirkt alles hier. Aufgeladen mit dem Bewusstsein ihrer heilsgeschichtlichen Bedeutung bekommt jede Handlung, jedes Rezitativ und jede Arie ein ungeheuere Theatralität. Die Details an sich sind dabei nicht so wichtig, worauf es ankommt, ist die Idee, das große Ganze.
Überhaupt geht es nicht so sehr darum, dass hier die Geschichte einer Kreuzigung musikalisch erzählt wird. Sondern um die Bedeutung dieses Opfers für die Menschheit – mit weniger gibt sich Breitschaft nicht zufrieden. Das merkt man schon im Eingangschor, dieser enge Verknüpfung dreier Chöre mit dem Orchester. Und dann auch ganz deutlich immer wieder gerade in den Chorälen. Breitschaft reizt hier das Potenzial des gewohnt stabilen, harmonisch weichen Chorklangs des Domchors und der Domkantorei weit aus. Aber auch die Solisten lassen sich nicht groß bitten. Der technisch ungemein souveräne Evangelist Thomas Dewald lässt seine Rezitative fast unetwegt vor Bedeutung vibrieren. Das hat große dramatische Stärken – manchmal aber sogar zu viel davon, weil die dauerhafte Dramatisierung vergleichsweise wenig Abwechslung bietet. Daniel Pohnert singt die Christusworte als Gegenpol dazu: klar, kraftvoll und zugleich großartig gelassen. Auch die anderen Solisten bemühen sich um individuelle Lesarten. Alsion Browner gefällt mit prägnanter und präziser Tongebung, während Claudia von Tilzer eher die weiche Klanglichkeit bevorzugt.
Und doch fügt sich diese Vielfalt recht gut zusammen: Mathias Breitschaft vereint das in solider Kapellmeisterkunst, die – mit wenigen Ausnahmen wie den gekürzten Arien – gewissenhaft der Partitur folgt. Das ist mal mehr, mal weniger dramatisch, mal wirklich überwältigend wuchtig und manchmal auch inspirierend intensiv. Vor allem seine Souveräität und Gelassenheit der langen Erfahrung mit diesem komplexen Werk machen sich da positiv bemerkbar: Breitschaft muss sich nichts beweisen, er muss nicht um jeden Preis eine neue, spektakuläre Interpretation finden. Sondern er kann sich ganz unprätentiös auf die großen Zusammenhänge der Passionsgeschichte konzentrieren und sie mit der Musik Bachs erzählen.
(geschrieben für die Mainzer Rhein-Zeitung.)