Das ist in meinen Augen ein sehr schwacher Roman, der mich sehr enttäuscht hat. Schon Gesellschaft mit beschränkter Haftung hat mich zwar auch nicht großartig begeistert, war aber doch deutlich besser, was etwa die Konstruktion und die stilistische Ausarbeitung angeht — beide Romane bestärken eigentlich nur meinen Wunsch, von Bossong (wieder) mehr Lyrik zu lesen …
Der Text von 36,9° wirkt merkwürdig müde und erschöpft. Vielleicht ist das ja eine beabsichtigte Parallele von Inhalt und Form (schließlich geht es um das aufzehrende, schwierige, harte Leben des Antonio Gramcsi), aber mich hat das trotzdem aus Gründen, die ich nicht so genau benennen kann, eher abgestoßen. Erzählt wird in zwei Perspektiven in zwei (groben) Zeitebenen das Leben Gramcsis und eine Art Forschungsaufenthalt des Gramcsi-Spezialisten Anton Stöver, der in Rom nach einem verschollenen Manuskript sucht. Wieso es diese Doppelung von Erzähler und Zeiten eigentlich gibt, ist mir nicht so ganz klar geworden — nur um die Überzeitlichkeit zu betonen? Um nicht in den Verdacht zu geraten, eine Gramcsi-Biographie zu schreiben? Und wozu ist dann der Manskript-Krimi (der ja als solcher überhaupt nicht funktioniert, weil er nicht richtig erzählt wird, sondern nur als Hilfsmittel dient und ab und an hervorgeholt wird …) gut? Oder sollen die Zeitebenen nur signalisieren, dass dies kein „normaler“ historischer Roman ist? (Der in den Gramsci-Kapiteln als solcher auch eher schlecht funktioniert, aber das ja wiederum auch gar nicht sein will …)
Zur Politik bleibt der Text dabei merkwürdig distanziert, die Leidenschaft etwa Gramcsi (im wahrsten Sinne, nämlich mit all den Leiden) wird vor allem behauptet, aber nicht eigentlich erzählt. Und das private fühlt sich oft aufdringlich, etwas schmierig an (wie Boulevardjournalismus). Das erschien mir oft als eine Art ungewollte Nähe, ein intimes Stochern, von deren Notwendigkeit die Erzähler selbst nicht so ganz überzeugt schienen. Zumal Stöver ist ja auch ein ausgesprochener Unsympath — und auch Gramcsi bleibt eine seltsame Figur. Beide Charaktere sind dabei seltsam rücksichtslos gegen sich selbst und ihr privates Umfeld. Und gerade das, was ja der Kern des Romans zu sein scheint, bleibt extrem blass, kaum motiviert — weil die Ideen, die diese Rücksichtslosigkeit erfordern, höchstens angerissen werden.
Wenn die Verlagswerbung das Ziel des Buches richtig beschreibt: „Nora Bossong erzählt vom Konflikt zwischen den großen Gefühlen und dem Kampf für die ganze Menschheit“, dann funktioniert 36,9° überhaupt nicht. Und das liegt unter anderem eben daran, dass der “Kampf für die ganze Menschheit”, die Weltverbesserung eigentlich gar nicht vorkommt, der Text bleibt viel zu sehr im individuellen, biographischen Klein-klein stecken. Dazu kommt dann noch eine für mich unklare Struktur — die Reihenfolge der Kapitel mit den Vor- und Rückblenden sowie die Erzählerwechsel erschließen sich mir einfach nicht. Ab und an funkelt mal ein schöner Satz, ein gelungener Abschnitt. Aber der Rest ist ein grau zerfließend Textbrei, der mich weder faszinieren noch überzeugen kann.
[…] ich wollte die Dinger nicht mehr bis zum Grund durchschauen, denn was lag dort? Nur Steine und Kiesel, nur Fußnoten und Quellenangaben. (25)
Der Titel der Münchner Rede zur Poesie von Ulf Stolterfoht, dem Autor so vorzüglicher Zyklen wie den Fachsprachen und jetzt Verleger der Brueterich-Press (der selbst viel zu wenig veröffentlicht …) sagt eigentlich schon alles: „Über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte“ spricht er. Stolterfoht, der sich als „Experte für Euphorie“ (7) vorstellt und „Ahnung“ von „der“ Lyrik erst einmal kategorisch verneint, führt anhand einer reihe Gedichte exemplarisch vor, was Lyrik ist und kann, was Sprache im Gedicht ausmacht und natürlich auch, was „schwierige Lyrik“ (heutzutage ja fast ein Pejorativum) eigentlich ist. Und er betont, dass das „Nicht-verstehen-müssen“ dieser Gedichte eine großartige Erfahrung ist — für Leser und Schreiber. Für beide Seiten ist das eine Befreiung, die einen unerschöpflichen Reigen an Möglichkeiten eröffnet.
Nebenbei weist er darauf hin, dass das — heute vielleicht mehr als je zuvor vorhandene — Wissen und Können im Umgang mit Sprache und Gedichten noch lange keine Experimentierfreudigkeit ist. Stolterfoht bedauert ausdrücklich, dass „die Bereitschaft stark abgenommen hat, ein höheres ästhetisches Risiko einzugehen“ (29). Auch wenn er dann das Gelingen eines Gedichtes eher traditionell als „Regel“-Erfüllung beschreibt, oder besser als: „dass ein zuvor gefasster Plan, sei er formaler und / oder inhaltlicher Art, glückhaft erfüllt wurde“ (29), sollte für Stolterfoht, das macht er unter anderem mit mehrfachen Bezügen auf Diedrich Diederichsen deutlich, aber zumindest ergänzt werden um so etwas wie Authentizität, einen Moment des Kairos vielleicht. Trotz des deutlich betonten Emphatiker-Standpunktes (Lyrik kann alles und ermöglicht Leben erst!) steht dahinter aber genaueste Lektüre und Analyse fremder und eigener Gedichte, ohne die Euphorie des erkennenden (und identifizierenden) Lesens dadurch zu verneinen oder auszuschalten, sondern geradezu zu verstärken.
Und wie konnte es sein, dass ich kein Wort, keinen Satz verstand, und doch genau wusste, dass ich genau das immer hatte lesen wollen, und dass ich es jetzt gefunden hatte, und dass ich nie mehr etwas anderes würde lesen wollen. Das Gefühl, eine Mauer durchbrochen zu haben, einfach so, ganz leicht, ohne jede Anstrengung, und hinter dieser Mauer tat sich etwas auf, ein Raum, ein wirklicher Raum, in dem man würde leben können. (11)
Es ist für mich immer wieder erstaunlich, welch große und großartige Gedichte die Expressionisten in den Jahre während und um den Ersten Weltkrieg schrieben. Und ich entdecke immer wieder, dass ich viel zu wenige davon kenne. Auch Franz Richard Behrens gehört zu diesen Dichtern. Er war eigentlich genau nur in dieser engen Zeitspanne überhaupt dichterisch tätig: Ein einziger Band Lyrik — Blutblüte — ist von ihm 1917 erschienen. Während des Nationalsozialismus kann man ihn vielleicht zur „Inneren Emigration“ zählen, 1961 übersiedelte er dann nach Ostberlin. Aber die ganzen Jahre bis zu seinem Tod 1977 blieben ohne weitere literarische Veröffentlichungen. Offenkundig war der Weltkrieg da so eine Art Katalysator, der die Lyrikproduktion auslösten/vorantrieb.
Auffällig ist nun, finde ich, wie avanciert diese wenigen Gedichte waren und sind — und wie zeitgemäß und zeitgenössisch sie heute noch erscheinen. Aus allen Gedichten, die Michael Lentz in dieser kleinen Auswahlausgabe für den feinen hochroth-Verlag zusammengestellt hat, spricht eine beeindruckende Intensität und auch eine große Freiheit: Sie sind frei von formalen Zwängen und Traditionen, lassen so ziemlich alle Konventionen hinter sich. Hier erscheint Sprache als reiner Ausdruck, hier spürt man, wie ein Dichter um Ausdrucksmöglichkeit für ganz neue und neuartige Erlebnisse — vor allem die Gewalt und Sinnlosigkeit eines mechanisierten Krieges — ringt. Und wie er sie auch findet und den Vollzug des Erlebens am und im Wort fixiert und nachvollzieht. Ein Moment der Seriatlität gehört dazu, mit minimalistischen Elementen, etwa in „Preußisch“ oder „Quer durch Ostpreußen“. Aber auch gleich das eröffnende „Expressionist Artillerist“ zeigt das, mit der Verschränkung einzelner Gedichtzeilen und einem kontinuierlichen Zählen (ich lese das “Ein-und-zwanzig” etc. als das Abzählen von Sekunden, etwa bis zum Einschlag der Granate …), das ganz geschickt ins Hinken gerät bzw. einzelne Zahlen überspringt, wenn die geschilderte Wahrnehmungsdichte sozusagen steigt und das nicht mehr in einen Vers passt:
[…] Neun-und-zwanzig
die Luft stinkt Millionen Schwefel, Kohle
Blutabsinth
die Luft ist stahl und rein
Ein-und-dreissig
die Granattrichter tüpfeln garnich harmonisch
Zwei-und-dreissig
[…]
Die kunstvoll hergestellte Unmittelbarkeit dieser Lyrik ist, denke ich, kaum zu übersehen. Ein anderes, von Behrens bevorzugtes Element, ist etwa die verbale Nutzung von Adjektiven. Bei aller Direktheit und Lebensnähe sind die Gedichte, das zeigt etwa das titelgebende „Erschossenes Licht“ oder das wunderbare „Italien“, sowohl inhaltlich als auch stilistisch und formal sehr sorgsam konstruiert. (Und außerdem ist das wieder hochroth-typisch ein sehr fein und schön gemachtes Heftlein …)
[…] Schneiden das
Land
in
Streifen.
Begreifen kann das mal
Die Generalstabskarte. Vormarsch im Regen (14)
Hier wäre der Ort, zu sagen, dass ich vollkommen normal bin, auch wenn ich Erzählungen schreibe. Ich weiß, dass dies die Dinge erschwert, aber alles andere an mir ist absolut in Ordnung. (78f.)
„Verspielt, elegant und mit allen Wassern der Postmoderne gewaschen“ behauptet der Klappentext — und hat tatsächlich mal recht. Denn Gospodinov ist ein wahrer Geschichtenerzähler: Es geht ihm wirklich darum, „Geschichten“ zu erzählen, nicht Erzählungen zu schreiben. Der Band ist dann auch richtig interessant und kurzweilig-unterhaltsam, weil Gospodinov dabei ein vielseitiger und vielfältiger, technisch sehr versierter Erzähler ist, was die Figuren und die Storys angeht.
Abwechslungsreich pendeln die meist sehr kurzen Texte (auf den 140 Seiten finden sich immerhin 19 Erzählungen) zwischen einer sympathischen Weltoffenheit, die sich ausdrücklich auch aufs Phantastische, das eigentlich sowieso normal ist, erstreckt, und einer spürbaren Leichtigkeit — einer Lockerheit des Erzählens, des Lebens, des Wahrnehmens. Gospodinov, der sich bzw. seine Erzähler gerne als Geschichtensammler bzw. ‑aufschreiber, nicht als Geschichtenerfinder inszeniert — vom „Anlocken von Geschichten“ (84) schreibt er an einer Stelle — schafft es dabei, zugleich kosmopolitisch und heimatverbunden zu wirken, zugleich witzig (im Sinne von komisch) und traurig (im Sinne von tiefernst) zu sein. Immer wieder spielen die letzten Tage, die letzten Momente, das endgültige Ende, die Apokalypse als eigentlich ganz schelmisches, gewitztes Unternehmen eine große Rolle in seinen Erzählungen. Das ist schon in der eröffnenden (und titelgebenden) Geschichte „8 Minuten und 19 Sekunden“ so, die die Zeit, die das Licht von der Sonne zur Erde braucht beschreibt — also die Zeit, die bleibt, bis die Erde nach dem Ende der Sonne im Dunkel versinkt. Immer, wenn das nicht passiert, weiß man also, dass noch 8 Minuten 19 Sekunden bleiben … Die Implikationen dieser gleitenden Apokalypse spielt die Geschichte sehr schön und dabei durchaus knapp durch.
Außerdem ist auch eine der „schönsten“ Geschichten zum 11. September hier zu finden: „Do not disturb“. Die erzählt von einem just für diesen Moment als Sprung aus dem Hochhausfenster eines New Yorker Hotels geplanten Selbstmord. Und da Gospodinov ein schwarzer Erzähler ist, gibt es natürlich kein Happy End — der Selbstmord findet dann zwar nicht statt, wird aber natürlich später nachgeholt. Das klingt in der knappen Nacherzählung etwas banal — aber darum geht es Gospodinov ja nicht nur. Zwar sind seine Erzählungen ohne ihre Handlung nicht zu denken, ihre Wirkung erlangen sie aber nicht zuletzt durch die geschickte und gelassen-verspielte erzählerische Inszenierung, die das zu einer sehr kurzweiligen Lektüre werden lässt.
Außerdem kam es mir so vor, als finge Z. an, die Geschichte zu ruinieren, indem er ihr mehr Pathos und Literarizität verlieh als notwendig. Und ich war immerhin der Käufer dieser Erzählung. (54)
außerdem gelesen:
- Judith Zander: Manual numerale. München: dtv 2014.
- Michael Braun, Michael Buselmeier: Der gelbe Akrobat 2. 50 deutsche Gedichte der Gegenwart, kommentiert. Neue Folge (2009–2014). Leipzig: Poetenladen 2016. 18 Seiten.
- Roland Barthes: Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977–1978, hrsg. v. Eric Marty, übers. von. Horst Brühmann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. 346 Seiten.
- Dieter Hein: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. München: Beck 2015. 132 Seiten.
- Christoph Kleßmann: Arbeiter im ‘Arbeiterstaat’ DDR. Erfurt: Landeszentrale für politische Bildung Thüringen 2014. 141 Seiten.