Nora Bossong: 36,9°. Berlin, München: Hanser 2015. 318 Seit­en.

bossong, 36,9°Das ist in meinen Augen ein sehr schwach­er Roman, der mich sehr ent­täuscht hat. Schon Gesellschaft mit beschränk­ter Haf­tung hat mich zwar auch nicht großar­tig begeis­tert, war aber doch deut­lich bess­er, was etwa die Kon­struk­tion und die stilis­tis­che Ausar­beitung ange­ht — bei­de Romane bestärken eigentlich nur meinen Wun­sch, von Bossong (wieder) mehr Lyrik zu lesen …

Der Text von 36,9° wirkt merk­würdig müde und erschöpft. Vielle­icht ist das ja eine beab­sichtigte Par­al­lele von Inhalt und Form (schließlich geht es um das aufzehrende, schwierige, harte Leben des Anto­nio Gram­c­si), aber mich hat das trotz­dem aus Grün­den, die ich nicht so genau benen­nen kann, eher abgestoßen. Erzählt wird in zwei Per­spek­tiv­en in zwei (groben) Zeit­ebe­nen das Leben Gram­c­sis und eine Art Forschungsaufen­thalt des Gram­c­si-Spezial­is­ten Anton Stöver, der in Rom nach einem ver­schol­lenen Manuskript sucht. Wieso es diese Dop­pelung von Erzäh­ler und Zeit­en eigentlich gibt, ist mir nicht so ganz klar gewor­den — nur um die Überzeitlichkeit zu beto­nen? Um nicht in den Ver­dacht zu ger­at­en, eine Gram­c­si-Biogra­phie zu schreiben? Und wozu ist dann der Man­skript-Kri­mi (der ja als solch­er über­haupt nicht funk­tion­iert, weil er nicht richtig erzählt wird, son­dern nur als Hil­f­s­mit­tel dient und ab und an her­vorge­holt wird …) gut? Oder sollen die Zeit­ebe­nen nur sig­nal­isieren, dass dies kein „nor­maler“ his­torisch­er Roman ist? (Der in den Gram­sci-Kapiteln als solch­er auch eher schlecht funk­tion­iert, aber das ja wiederum auch gar nicht sein will …)

Zur Poli­tik bleibt der Text dabei merk­würdig dis­tanziert, die Lei­den­schaft etwa Gram­c­si (im wahrsten Sinne, näm­lich mit all den Lei­den) wird vor allem behauptet, aber nicht eigentlich erzählt. Und das pri­vate fühlt sich oft auf­dringlich, etwas schmierig an (wie Boule­vard­jour­nal­is­mus). Das erschien mir oft als eine Art unge­wollte Nähe, ein intimes Stochern, von deren Notwendigkeit die Erzäh­ler selb­st nicht so ganz überzeugt schienen. Zumal Stöver ist ja auch ein aus­ge­sproch­en­er Unsym­pa­th — und auch Gram­c­si bleibt eine selt­same Fig­ur. Bei­de Charak­tere sind dabei selt­sam rück­sicht­s­los gegen sich selb­st und ihr pri­vates Umfeld. Und ger­ade das, was ja der Kern des Romans zu sein scheint, bleibt extrem blass, kaum motiviert — weil die Ideen, die diese Rück­sicht­slosigkeit erfordern, höch­stens angeris­sen wer­den.

Wenn die Ver­lagswer­bung das Ziel des Buch­es richtig beschreibt: „Nora Bossong erzählt vom Kon­flikt zwis­chen den großen Gefühlen und dem Kampf für die ganze Men­schheit“, dann funk­tion­iert 36,9° über­haupt nicht. Und das liegt unter anderem eben daran, dass der “Kampf für die ganze Men­schheit”, die Weltverbesserung eigentlich gar nicht vorkommt, der Text bleibt viel zu sehr im indi­vidu­ellen, biographis­chen Klein-klein steck­en. Dazu kommt dann noch eine für mich unklare Struk­tur — die Rei­hen­folge der Kapi­tel mit den Vor- und Rück­blenden sowie die Erzäh­ler­wech­sel erschließen sich mir ein­fach nicht. Ab und an funkelt mal ein schön­er Satz, ein gelun­gener Abschnitt. Aber der Rest ist ein grau zer­fließend Textbrei, der mich wed­er faszinieren noch überzeu­gen kann.

[…] ich wollte die Dinger nicht mehr bis zum Grund durch­schauen, denn was lag dort? Nur Steine und Kiesel, nur Fußnoten und Quel­lenangaben. (25)
Ulf Stolter­fo­ht: Wurl­itzer Juke­box Lyric FL — über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte. München: Stiftung Lyrik Kabi­nett 2015. 32 Seit­en.

stolterfoht, wurlitzer jukebox lyric flDer Titel der Münch­n­er Rede zur Poe­sie von Ulf Stolter­fo­ht, dem Autor so vorzüglich­er Zyklen wie den Fach­sprachen und jet­zt Ver­leger der Brue­terich-Press (der selb­st viel zu wenig veröf­fentlicht …) sagt eigentlich schon alles: „Über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte“ spricht er. Stolter­fo­ht, der sich als „Experte für Euphorie“ (7) vorstellt und „Ahnung“ von „der“ Lyrik erst ein­mal kat­e­gorisch verneint, führt anhand ein­er rei­he Gedichte exem­plar­isch vor, was Lyrik ist und kann, was Sprache im Gedicht aus­macht und natür­lich auch, was „schwierige Lyrik“ (heutzu­tage ja fast ein Pejo­ra­tivum) eigentlich ist. Und er betont, dass das „Nicht-ver­ste­hen-müssen“ dieser Gedichte eine großar­tige Erfahrung ist — für Leser und Schreiber. Für bei­de Seit­en ist das eine Befreiung, die einen uner­schöpflichen Reigen an Möglichkeit­en eröffnet.

Neben­bei weist er darauf hin, dass das — heute vielle­icht mehr als je zuvor vorhan­dene — Wis­sen und Kön­nen im Umgang mit Sprache und Gedicht­en noch lange keine Exper­i­men­tier­freudigkeit ist. Stolter­fo­ht bedauert aus­drück­lich, dass „die Bere­itschaft stark abgenom­men hat, ein höheres ästhetis­ches Risiko einzuge­hen“ (29). Auch wenn er dann das Gelin­gen eines Gedicht­es eher tra­di­tionell als „Regel“-Erfüllung beschreibt, oder bess­er als: „dass ein zuvor gefasster Plan, sei er for­maler und / oder inhaltlich­er Art, glück­haft erfüllt wurde“ (29), sollte für Stolter­fo­ht, das macht er unter anderem mit mehrfachen Bezü­gen auf Diedrich Diederich­sen deut­lich, aber zumin­d­est ergänzt wer­den um so etwas wie Authen­tiz­ität, einen Moment des Kairos vielle­icht. Trotz des deut­lich beton­ten Emphatik­er-Stand­punk­tes (Lyrik kann alles und ermöglicht Leben erst!) ste­ht dahin­ter aber genaueste Lek­türe und Analyse fremder und eigen­er Gedichte, ohne die Euphorie des erken­nen­den (und iden­ti­fizieren­den) Lesens dadurch zu verneinen oder auszuschal­ten, son­dern ger­adezu zu ver­stärken.

Und wie kon­nte es sein, dass ich kein Wort, keinen Satz ver­stand, und doch genau wusste, dass ich genau das immer hat­te lesen wollen, und dass ich es jet­zt gefun­den hat­te, und dass ich nie mehr etwas anderes würde lesen wollen. Das Gefühl, eine Mauer durch­brochen zu haben, ein­fach so, ganz leicht, ohne jede Anstren­gung, und hin­ter dieser Mauer tat sich etwas auf, ein Raum, ein wirk­lich­er Raum, in dem man würde leben kön­nen. (11)

Franz Richard Behrens: Erschossenes Licht. Her­aus­gegeben von Michael Lentz. Wiesen­burg: hochroth 2015. 36 Seit­en.

Es ist für mich immer wieder erstaunlich, welch große und großar­tige Gedichte die Expres­sion­is­ten in den Jahre während und um den Ersten Weltkrieg schrieben. Und ich ent­decke immer wieder, dass ich viel zu wenige davon kenne. Auch Franz Richard Behrens gehört zu diesen Dichtern. Er war eigentlich genau nur in dieser engen Zeitspanne über­haupt dich­ter­isch tätig: Ein einziger Band Lyrik — Blut­blüte — ist von ihm 1917 erschienen. Während des Nation­al­sozial­is­mus kann man ihn vielle­icht zur „Inneren Emi­gra­tion“ zählen, 1961 über­siedelte er dann nach Ost­ber­lin. Aber die ganzen Jahre bis zu seinem Tod 1977 blieben ohne weit­ere lit­er­arische Veröf­fentlichun­gen. Offenkundig war der Weltkrieg da so eine Art Katalysator, der die Lyrikpro­duk­tion auslösten/vorantrieb.

Auf­fäl­lig ist nun, finde ich, wie avanciert diese weni­gen Gedichte waren und sind — und wie zeit­gemäß und zeit­genös­sisch sie heute noch erscheinen. Aus allen Gedicht­en, die Michael Lentz in dieser kleinen Auswahlaus­gabe für den feinen hochroth-Ver­lag zusam­mengestellt hat, spricht eine beein­druck­ende Inten­sität und auch eine große Frei­heit: Sie sind frei von for­malen Zwän­gen und Tra­di­tio­nen, lassen so ziem­lich alle Kon­ven­tio­nen hin­ter sich. Hier erscheint Sprache als rein­er Aus­druck, hier spürt man, wie ein Dichter um Aus­drucksmöglichkeit für ganz neue und neuar­tige Erleb­nisse — vor allem die Gewalt und Sinnlosigkeit eines mech­a­nisierten Krieges — ringt. Und wie er sie auch find­et und den Vol­lzug des Erlebens am und im Wort fix­iert und nachvol­lzieht. Ein Moment der Seri­atl­ität gehört dazu, mit min­i­mal­is­tis­chen Ele­menten, etwa in „Preußisch“ oder „Quer durch Ost­preußen“. Aber auch gle­ich das eröff­nende „Expres­sion­ist Artillerist“ zeigt das, mit der Ver­schränkung einzel­ner Gedichtzeilen und einem kon­tinuier­lichen Zählen (ich lese das “Ein-und-zwanzig” etc. als das Abzählen von Sekun­den, etwa bis zum Ein­schlag der Granate …), das ganz geschickt ins Hinken gerät bzw. einzelne Zahlen über­springt, wenn die geschilderte Wahrnehmungs­dichte sozusagen steigt und das nicht mehr in einen Vers passt:

[…] Neun-und-zwanzig
die Luft stinkt Mil­lio­nen Schwe­fel, Kohle
Blutab­sinth
die Luft ist stahl und rein
Ein-und-dreis­sig
die Granat­trichter tüpfeln gar­nich har­monisch
Zwei-und-dreis­sig
[…]

Die kun­stvoll hergestellte Unmit­tel­barkeit dieser Lyrik ist, denke ich, kaum zu überse­hen. Ein anderes, von Behrens bevorzugtes Ele­ment, ist etwa die ver­bale Nutzung von Adjek­tiv­en. Bei aller Direk­theit und Leben­snähe sind die Gedichte, das zeigt etwa das titel­gebende „Erschossenes Licht“ oder das wun­der­bare „Ital­ien“, sowohl inhaltlich als auch stilis­tisch und for­mal sehr sorgsam kon­stru­iert. (Und außer­dem ist das wieder hochroth-typ­isch ein sehr fein und schön gemacht­es Heftlein …)

[…] Schnei­den das
Land
in
Streifen.
Begreifen kann das mal
Die Gen­er­al­stab­skarte. Vor­marsch im Regen (14)

Geor­gi Gospodi­nov: 8 Minuten und 19 Sekun­den. Graz, Wien: Droschl 2016. 143 Seit­en.

Hier wäre der Ort, zu sagen, dass ich vol­lkom­men nor­mal bin, auch wenn ich Erzäh­lun­gen schreibe. Ich weiß, dass dies die Dinge erschw­ert, aber alles andere an mir ist abso­lut in Ord­nung. (78f.)

„Ver­spielt, ele­gant und mit allen Wassern der Post­mod­erne gewaschen“ behauptet der Klap­pen­text — und hat tat­säch­lich mal recht. Denn Gospodi­nov ist ein wahrer Geschicht­en­erzäh­ler: Es geht ihm wirk­lich darum, „Geschicht­en“ zu erzählen, nicht Erzäh­lun­gen zu schreiben. Der Band ist dann auch richtig inter­es­sant und kurzweilig-unter­halt­sam, weil Gospodi­nov dabei ein viel­seit­iger und vielfältiger, tech­nisch sehr ver­siert­er Erzäh­ler ist, was die Fig­uren und die Sto­rys ange­ht.

gosporidov, 8 minuten und 19 sekundenAbwech­slungsre­ich pen­deln die meist sehr kurzen Texte (auf den 140 Seit­en find­en sich immer­hin 19 Erzäh­lun­gen) zwis­chen ein­er sym­pa­this­chen Weltof­fen­heit, die sich aus­drück­lich auch aufs Phan­tastis­che, das eigentlich sowieso nor­mal ist, erstreckt, und ein­er spür­baren Leichtigkeit — ein­er Lock­er­heit des Erzäh­lens, des Lebens, des Wahrnehmens. Gospodi­nov, der sich bzw. seine Erzäh­ler gerne als Geschicht­en­samm­ler bzw. ‑auf­schreiber, nicht als Geschicht­en­erfind­er insze­niert — vom „Anlock­en von Geschicht­en“ (84) schreibt er an ein­er Stelle — schafft es dabei, zugle­ich kos­mopoli­tisch und heimatver­bun­den zu wirken, zugle­ich witzig (im Sinne von komisch) und trau­rig (im Sinne von tiefernst) zu sein. Immer wieder spie­len die let­zten Tage, die let­zten Momente, das endgültige Ende, die Apoka­lypse als eigentlich ganz schelmis­ches, gewitztes Unternehmen eine große Rolle in seinen Erzäh­lun­gen. Das ist schon in der eröff­nen­den (und titel­geben­den) Geschichte „8 Minuten und 19 Sekun­den“ so, die die Zeit, die das Licht von der Sonne zur Erde braucht beschreibt — also die Zeit, die bleibt, bis die Erde nach dem Ende der Sonne im Dunkel versinkt. Immer, wenn das nicht passiert, weiß man also, dass noch 8 Minuten 19 Sekun­den bleiben … Die Imp­lika­tio­nen dieser glei­t­en­den Apoka­lypse spielt die Geschichte sehr schön und dabei dur­chaus knapp durch.

Außer­dem ist auch eine der „schön­sten“ Geschicht­en zum 11. Sep­tem­ber hier zu find­en: „Do not dis­turb“. Die erzählt von einem just für diesen Moment als Sprung aus dem Hochhaus­fen­ster eines New York­er Hotels geplanten Selb­st­mord. Und da Gospodi­nov ein schwarz­er Erzäh­ler ist, gibt es natür­lich kein Hap­py End — der Selb­st­mord find­et dann zwar nicht statt, wird aber natür­lich später nachge­holt. Das klingt in der knap­pen Nacherzäh­lung etwas banal — aber darum geht es Gospodi­nov ja nicht nur. Zwar sind seine Erzäh­lun­gen ohne ihre Hand­lung nicht zu denken, ihre Wirkung erlan­gen sie aber nicht zulet­zt durch die geschick­te und gelassen-ver­spielte erzäh­lerische Insze­nierung, die das zu ein­er sehr kurzweili­gen Lek­türe wer­den lässt.

Außer­dem kam es mir so vor, als fin­ge Z. an, die Geschichte zu ruinieren, indem er ihr mehr Pathos und Lit­er­ariz­ität ver­lieh als notwendig. Und ich war immer­hin der Käufer dieser Erzäh­lung. (54)

außer­dem gele­sen:

  • Judith Zan­der: Man­u­al numerale. München: dtv 2014.
  • Michael Braun, Michael Buselmeier: Der gelbe Akro­bat 2. 50 deutsche Gedichte der Gegen­wart, kom­men­tiert. Neue Folge (2009–2014). Leipzig: Poet­en­laden 2016. 18 Seit­en.
  • Roland Barthes: Das Neu­trum. Vor­lesung am Col­lège de France 1977–1978, hrsg. v. Eric Mar­ty, übers. von. Horst Brüh­mann. Frank­furt am Main: Suhrkamp 2005. 346 Seit­en.
  • Dieter Hein: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhun­dert. München: Beck 2015. 132 Seit­en.
  • Christoph Kleß­mann: Arbeit­er im ‘Arbeit­er­staat’ DDR. Erfurt: Lan­deszen­trale für poli­tis­che Bil­dung Thürin­gen 2014. 141 Seit­en.