Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: freie musik

Wochenblog 5/​2023

Kaum hat das Jahr ange­fan­gen, ist auch schon der ers­te Monat rum. Die­se Woche hat­te vor allem ekli­ges Wet­ter im Gepäck. Vor allem der Don­ners­tag war schlimm wie sel­ten, bei solch ver­rück­tem Wet­ter bin ich ver­mut­lich noch nie mit dem Rad zur Arbeit gefah­ren: Mor­gens ist ein­fach Schnee­matsch vom Him­mel gefal­len, in rau­en Men­gen. Der sam­mel­te sich schön auf den Stra­ßen, schmolz dort wei­ter zu Was­ser und bil­de­te rie­si­ge Seen. Die konn­ten die Auto­fah­rer natür­lich nicht auf­hal­ten, die sind da mun­ter durch­ge­bret­ter ohne Rück­sicht auf Ver­lus­te bei (eher weni­gen) Rad­fah­ren­den und den zu Fuß Gehen­den. Dabei hat das Rad­fah­ren auch so schon wenig Spaß gemacht, von allen Sei­ten Dreck und Näs­se sind kei­ne Freu­de.
Und dann noch die schö­nen Win­ter­diens­te, die zu blöd sind, Rad­we­ge (auch die benut­zungs­pflich­ti­gen) ver­nünf­tig zu räu­men: Da ist dann plötz­lich mit­ten drin nicht geräumt, weil der Schnee­pflug auf den Bür­ge­steig gefah­ren ist. Und spä­tes­tens an jeder Kreu­zung lie­gen wie­der hohe Wäl­le quer auf dem Rad­weg, weil die Stra­ßen ja unbe­dingt sau­ber sein müs­sen.
Der Schnee­matsch hat­te dann noch eine Beson­der­heit: Er setzt sich in den Rit­zeln fest – am Ende mei­nes Arbeits­we­ges muss­te ich auf die drei größ­ten Gän­ge ver­zich­ten, da flupp­te die Ket­te gera­de so drü­ber weg. Und genau die Gän­ge brau­che ich eigent­lich ;-). Zum Glück wur­de es im Lau­fe des Tages ein wenig wär­mer, so dass der Heim­weg etwas unpro­ble­ma­ti­scher war.
Am Frei­tag dann hat­te sich das gan­ze wie­der etwas beru­higt, dafür bin ich am Abend fast vom Sturm beim Heim­fah­ren gehin­dert wor­den. Ver­rückt, das alles …
Dafür war das Wochen­en­de wet­ter­tech­nisch viel net­ter, sogar mit etwas Son­nen­schein – und viel Entspannung.

Text: Die­se Woche habe ich nicht viel gele­sen, vor allem wei­ter in Phil­ipp Sara­sins „1977“. Das ist ein sehr klu­ges Buch, das viel zu mei­nem Ver­ständ­nis der Welt bei­tra­gen wird, schät­ze ich momentan.

Ton: Freie Musik vom Feins­ten: „Ten­der Music“ von Joël­le Léand­re und Eli­sa­beth Har­nik, schon 2018 bei Trost erschie­nen, aber erst jetzt bei mir erst­mals erklun­gen.
Und natür­lich berich­tens­wert: Die „Win­ter­rei­se“ mit Ben­ja­min Appl und James Bail­leou im Aure­li­um Lap­pers­dorf. Das war ein ech­tes sic-​et-​non-​Erlebnis: Auf der einen Sei­te die groß­ar­ti­ge, meis­ter­haf­te Beherr­schung des Details, die vie­len Klang­far­ben (auch wenn Appls e‑s und i‑s durch­weg arg dun­kel waren), die enor­me Dyna­mik: Wahn­sin­nig gut. Auf der ande­ren Sei­te: Jedes Lied wird hier aus­ein­an­der­ge­nom­men, die Tem­pi und die Ago­gik schwankt in einer ver­rück­ten Band­brei­te (das klappt auch nicht immer per­fekt im Zusam­men­spiel), die Win­ter­rei­se als Zyklus funk­tio­niert nicht mehr, das sind nur ein­zel­ne (in sich immer wie­der über­ra­gend fes­seln­de) Momen­te der exzes­si­ven Expres­si­vi­tät – noch deut­li­cher und oft über­trie­be­ner als auf der Aufnahme.

Drau­ßen: Brav wei­ter gelau­fen, ohne beson­de­re Vorkommnisse.

livemusic (unsplash.com)

Wie hört man frei improvisierte Musik? John Corbett verrät es

corbett, guide (cover)Der Listener’s Gui­de von John Cor­bett ist eine tol­le Ein­füh­rung ins Hören von frei­er Impro­vi­sa­ti­on – und natür­lich auch in die Musik selbst. Das klei­ne Buch ist in drei gro­ße Tei­le geglie­dert. Einer Ein­lei­tung fol­gen die (sehr kon­kre­ten) Grund­la­gen des Hörens frei impro­vi­sier­ter Musik, denen sich dann die fort­ge­schrit­te­ne Tech­ni­ken (die oft recht abs­trakt und stär­ker sub­jek­tiv als der Haupt­teil blei­ben) anschließen.

In den Grund­la­gen ver­sucht Cor­bett – mei­nes Erach­tens ziem­lich schlüs­sig und erfolg­reich, aber ich bin ja nicht (mehr) ganz in der Ziel­grup­pe – über ver­schie­de­ne Aspek­te der Musik und des Hörens einen Zugang zur impro­vi­sier­ten Musik zu schaf­fen. Dafür erklärt er die Beson­der­heit von Rhyth­mus und Dau­er, geht der Fra­ge nach, wer was macht und wel­che Inter­ak­tio­nen pas­sie­ren sowie wel­che Über­gän­ge und wel­che Struk­tu­ren sich beim Hören erken­nen las­sen. Für „Fort­ge­schrit­te­ne“ geht es dann, wie­der­um in kon­zen­trier­ten, über­sicht­li­chen Kapi­teln, um das gleich­zei­ti­ge Sehen und Hören, um die Fra­ge „live oder Auf­nah­me?“, um die der frei­en Impro­vi­sa­ti­on inne­woh­nen­den Geheim­nis­se genau wie um ihre Ambi­gui­tä­ten und Unab­ge­schlos­sen­hei­ten sowie in einem Abste­cher auch um die „poly-​free-​music“ – also Musik, die nur noch teil­wei­se frei impro­vi­siert ist, die zumin­dest zeit­wei­se auf genaue­ren Abspra­chen oder Kom­po­si­ti­on beruht. Außer­dem gibt es noch knap­pe Über­le­gun­gen zum Schlaf und ande­ren Ablen­kun­gen wäh­rend dem Musik hören (Cor­bett ist dem nicht abge­neigt, weil das peri­phe­re Hören neue Ent­de­ckun­gen ermög­licht …), zur Rol­le des Publi­kums bei der Ent­ste­hung frei­er Musik und auch zur mora­li­schen Über­le­gen­heit die­ser Musik – die Cor­bett klar verneint.

Das alles ist sehr direkt und prä­gnant geschrie­ben. Man merkt durch­gän­gig, wie sehr der Autor vom Gegen­stand und der Ver­mitt­lung der Freu­de an die­ser Musik begeis­tert ist. Und mir gefielt der tro­cke­ne Witz und die inter­es­san­ten Meta­phern, die Cor­bett findet:

Impro­vi­sed music is like a bal­loon, it needs some ten­si­on to keep it taut; lose the ten­si­on, and the music farts around and falls limp on the flo­or. (65)
Lis­tening to moment-​form impro­vi­sing is like sur­fing. (76f.)

Dabei ist das nicht musikologisch-​akademisch, auch wenn sich erkenn­bar eine ziem­lich genaue Kennt­nis und gro­ße Ver­traut­heit mit der frei impro­vi­sier­ten Musik hin­ter dem Text ver­birgt. Schon die Defi­ni­ti­on, was denn „Free Impro­vi­sa­ti­on“ über­haupt sei, ist sehr prag­ma­tisch und durch­aus typisch für Cor­bett: „Impro­vi­sed music is music made using impro­vi­sa­ti­on. Simp­le enough.“ (XII) Genau, was muss man mehr sagen? Zur Abgren­zung von ande­ren impro­vi­sier­ten Musi­ken fügt er noch hin­zu, dass hier eben wirk­lich alle Fixie­rung fehlt, alle Abspra­che (die über äußerst Basa­les hin­aus geht) unter­bleibt und nur die Frei­heit des Moments bleibt.

Ver­packt ist das alles nicht als eine Erkun­dung der Musik selbst, son­dern als eine Art Anlei­tung zum genuss­vol­len Hören. Des­halb gibt es immer vie­le Hin­wei­se und Tipps zum mög­lichst ergie­bi­gen (nicht rich­ti­gen!) Hören (oder bes­ser: zum Genie­ßen der Frei­heit in die­ser Musik). Denn es geht ihm nicht um rich­tig oder falsch, um die wah­re Musik und ihr ein­zig wah­res Ver­ständ­nis, son­dern dar­um, Zugän­ge zu schaf­fen – und damit Begeis­te­rung zu wecken: Begeis­te­rung für die „Fremd­heit“ die­ser Musik, also für eine Befrei­ung (von Beschrän­kun­gen), für das Schaf­fen von unge­ahn­ten, groß­ar­ti­gen, unzäh­li­gen Mög­lich­kei­ten. Vie­le der Mög­lich­kei­ten der Impro­vi­sier­ten Musik ste­cken für Cor­bett in der Inter­ak­ti­on. Sie ist für ihn ganz klar der Kern, das eigent­li­che fea­ture der frei­en Impro­vi­sa­ti­on. Und ent­spre­chen stark auf die­sen Pro­zess bezo­gen sind auch sei­ne Hör­tipps. Und des­we­gen ist er auch eher skep­tisch gegen­über Soli (und gro­ßen Ensem­bles): „Impro­vi­sa­ti­on is social music.“ (56)

Im Gan­zen lernt man beim Lesen fast so viel wie beim Hören, Cor­bett gibt vie­le gute, fast groß­ar­ti­ge Rat­schlä­ge, die den inter­es­sier­ten Leser oder die Lese­rin mit einem Werk­zeug­satz, einer Art Besteck zum Hören, Beschrei­ben und Ana­ly­sie­ren der impro­vi­sier­ten Musik aus­stat­ten und das Hören somit inter­es­san­ter und ertrag­rei­cher machen.. Schön ist, dass er dabei – trotz des grund­le­gend ana­ly­ti­schen Zugangs – in sei­nem empha­ti­schen Wer­ben für die Musik auch Platz für deren Geheim­nis­se. Und her­vor­zu­he­ben ist auch, dass er immer wie­der ein­räumt und klar macht, dass Freie Impro­vi­sa­tio­nen nicht die bes­se­re, bes­te oder ein­zig wah­re Musik sind. Und dass sie auch nicht im ethi­schen Sinn bes­ser sind oder bes­ser machen. Mir scheint aber, dass er dabei aus­lässt, dass das Hören (bzw. das Gou­tie­ren) die­ser Musik durch­aus soziale/​ethische Qua­li­tä­ten för­dert, die man (wenn man möch­te – und ich tue das) durch­aus bewer­ten und hoch­schät­zen kann. Ins­be­son­de­re das „Aus­hal­ten“ (das ja mehr ein Wert­schät­zen als ein Tole­rie­ren ist) von Frei­heit, d.h. von Unge­wiss­heit, das posi­ti­ve, erwar­tungs­vol­le Erfah­ren von Neu­em, Unbe­kann­tem ist schon, so mei­ne ich, eine wert­vol­le Sache. Des­halb müs­sen free-​improvisations-​Anhängerinnen natür­lich nicht zwangs­läu­fig bes­se­re Men­schen sein – aber sie ten­die­ren dazu, unter ande­rem offen für eine Gesell­schaft zu sein, die sich (auch) ver­än­dert – zumin­dest ist das mei­ne Erfahrung. 

Ergänzt wird Cor­betts Text übri­gens noch um ein paar Lis­ten – näm­lich drei sehr kur­ze und damit sehr angreif­bar kon­zen­trier­te Auf­lis­tun­gen den grundlegenden/​wichigen Auf­nah­men der frei­en Impro­vi­sa­ti­on sowie einer zwei­ten Lis­te der „poly-​free-​music“ und schließ­lich dem Hin­weis auf eini­ge Bücher zum The­ma. Und im Anhang fin­det sich noch eine deut­lich aus­führ­li­che­re Lis­te wichtiger/​bekannter Musi­ker und Musi­ke­rin­nen der Improvisations-​Szene, die alle zusam­men zugleich den Rest des Buches in einer ange­neh­men Wei­se vom name­drop­ping ent­las­ten. So macht näm­lich nicht nur das Hören, son­dern auch das Lesen Spaß. Vor allem, wenn man dazu die pas­sen­de Musik hört – bei mir waren es Wada­da Leo Smit­hs CDs „Kabell Years: 1971–1979“.

Our duty, as lis­ten­ers, is to be rest­less­ly curious, to root around this big glo­be and dig up new things to fill our ears and minds. It’s more a mat­ter of being inqui­si­ti­ve than of being eclec­tic. (162)

John Cor­bett: A Listener’s Gui­de to Free Impro­vi­sa­ti­on. Chi­ca­go, Lon­don: The Uni­ver­si­ty of Chi­ca­go Press 2016. 172 Sei­ten. ISBN 978–0‑226–35380‑7.

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