Kaum hat das Jahr angefangen, ist auch schon der erste Monat rum. Diese Woche hatte vor allem ekliges Wetter im Gepäck. Vor allem der Donnerstag war schlimm wie selten, bei solch verrücktem Wetter bin ich vermutlich noch nie mit dem Rad zur Arbeit gefahren: Morgens ist einfach Schneematsch vom Himmel gefallen, in rauen Mengen. Der sammelte sich schön auf den Straßen, schmolz dort weiter zu Wasser und bildete riesige Seen. Die konnten die Autofahrer natürlich nicht aufhalten, die sind da munter durchgebretter ohne Rücksicht auf Verluste bei (eher wenigen) Radfahrenden und den zu Fuß Gehenden. Dabei hat das Radfahren auch so schon wenig Spaß gemacht, von allen Seiten Dreck und Nässe sind keine Freude. Und dann noch die schönen Winterdienste, die zu blöd sind, Radwege (auch die benutzungspflichtigen) vernünftig zu räumen: Da ist dann plötzlich mitten drin nicht geräumt, weil der Schneepflug auf den Bürgesteig gefahren ist. Und spätestens an jeder Kreuzung liegen wieder hohe Wälle quer auf dem Radweg, weil die Straßen ja unbedingt sauber sein müssen. Der Schneematsch hatte dann noch eine Besonderheit: Er setzt sich in den Ritzeln fest — am Ende meines Arbeitsweges musste ich auf die drei größten Gänge verzichten, da fluppte die Kette gerade so drüber weg. Und genau die Gänge brauche ich eigentlich ;-). Zum Glück wurde es im Laufe des Tages ein wenig wärmer, so dass der Heimweg etwas unproblematischer war. Am Freitag dann hatte sich das ganze wieder etwas beruhigt, dafür bin ich am Abend fast vom Sturm beim Heimfahren gehindert worden. Verrückt, das alles … Dafür war das Wochenende wettertechnisch viel netter, sogar mit etwas Sonnenschein — und viel Entspannung.
Text: Diese Woche habe ich nicht viel gelesen, vor allem weiter in Philipp Sarasins “1977”. Das ist ein sehr kluges Buch, das viel zu meinem Verständnis der Welt beitragen wird, schätze ich momentan.
Ton: Freie Musik vom Feinsten: “Tender Music” von Joëlle Léandre und Elisabeth Harnik, schon 2018 bei Trost erschienen, aber erst jetzt bei mir erstmals erklungen. Und natürlich berichtenswert: Die “Winterreise” mit Benjamin Appl und James Bailleou im Aurelium Lappersdorf. Das war ein echtes sic-et-non-Erlebnis: Auf der einen Seite die großartige, meisterhafte Beherrschung des Details, die vielen Klangfarben (auch wenn Appls e‑s und i‑s durchweg arg dunkel waren), die enorme Dynamik: Wahnsinnig gut. Auf der anderen Seite: Jedes Lied wird hier auseinandergenommen, die Tempi und die Agogik schwankt in einer verrückten Bandbreite (das klappt auch nicht immer perfekt im Zusammenspiel), die Winterreise als Zyklus funktioniert nicht mehr, das sind nur einzelne (in sich immer wieder überragend fesselnde) Momente der exzessiven Expressivität — noch deutlicher und oft übertriebener als auf der Aufnahme.
Draußen: Brav weiter gelaufen, ohne besondere Vorkommnisse.
Der Listener’s Guide von John Corbett ist eine tolle Einführung ins Hören von freier Improvisation — und natürlich auch in die Musik selbst. Das kleine Buch ist in drei große Teile gegliedert. Einer Einleitung folgen die (sehr konkreten) Grundlagen des Hörens frei improvisierter Musik, denen sich dann die fortgeschrittene Techniken (die oft recht abstrakt und stärker subjektiv als der Hauptteil bleiben) anschließen.
In den Grundlagen versucht Corbett — meines Erachtens ziemlich schlüssig und erfolgreich, aber ich bin ja nicht (mehr) ganz in der Zielgruppe — über verschiedene Aspekte der Musik und des Hörens einen Zugang zur improvisierten Musik zu schaffen. Dafür erklärt er die Besonderheit von Rhythmus und Dauer, geht der Frage nach, wer was macht und welche Interaktionen passieren sowie welche Übergänge und welche Strukturen sich beim Hören erkennen lassen. Für “Fortgeschrittene” geht es dann, wiederum in konzentrierten, übersichtlichen Kapiteln, um das gleichzeitige Sehen und Hören, um die Frage “live oder Aufnahme?”, um die der freien Improvisation innewohnenden Geheimnisse genau wie um ihre Ambiguitäten und Unabgeschlossenheiten sowie in einem Abstecher auch um die “poly-free-music” — also Musik, die nur noch teilweise frei improvisiert ist, die zumindest zeitweise auf genaueren Absprachen oder Komposition beruht. Außerdem gibt es noch knappe Überlegungen zum Schlaf und anderen Ablenkungen während dem Musik hören (Corbett ist dem nicht abgeneigt, weil das periphere Hören neue Entdeckungen ermöglicht …), zur Rolle des Publikums bei der Entstehung freier Musik und auch zur moralischen Überlegenheit dieser Musik — die Corbett klar verneint.
Das alles ist sehr direkt und prägnant geschrieben. Man merkt durchgängig, wie sehr der Autor vom Gegenstand und der Vermittlung der Freude an dieser Musik begeistert ist. Und mir gefielt der trockene Witz und die interessanten Metaphern, die Corbett findet:
Improvised music is like a balloon, it needs some tension to keep it taut; lose the tension, and the music farts around and falls limp on the floor. (65) Listening to moment-form improvising is like surfing. (76f.)
Dabei ist das nicht musikologisch-akademisch, auch wenn sich erkennbar eine ziemlich genaue Kenntnis und große Vertrautheit mit der frei improvisierten Musik hinter dem Text verbirgt. Schon die Definition, was denn “Free Improvisation” überhaupt sei, ist sehr pragmatisch und durchaus typisch für Corbett: “Improvised music is music made using improvisation. Simple enough.” (XII) Genau, was muss man mehr sagen? Zur Abgrenzung von anderen improvisierten Musiken fügt er noch hinzu, dass hier eben wirklich alle Fixierung fehlt, alle Absprache (die über äußerst Basales hinaus geht) unterbleibt und nur die Freiheit des Moments bleibt.
Verpackt ist das alles nicht als eine Erkundung der Musik selbst, sondern als eine Art Anleitung zum genussvollen Hören. Deshalb gibt es immer viele Hinweise und Tipps zum möglichst ergiebigen (nicht richtigen!) Hören (oder besser: zum Genießen der Freiheit in dieser Musik). Denn es geht ihm nicht um richtig oder falsch, um die wahre Musik und ihr einzig wahres Verständnis, sondern darum, Zugänge zu schaffen — und damit Begeisterung zu wecken: Begeisterung für die “Fremdheit” dieser Musik, also für eine Befreiung (von Beschränkungen), für das Schaffen von ungeahnten, großartigen, unzähligen Möglichkeiten. Viele der Möglichkeiten der Improvisierten Musik stecken für Corbett in der Interaktion. Sie ist für ihn ganz klar der Kern, das eigentliche feature der freien Improvisation. Und entsprechen stark auf diesen Prozess bezogen sind auch seine Hörtipps. Und deswegen ist er auch eher skeptisch gegenüber Soli (und großen Ensembles): “Improvisation is social music.” (56)
Im Ganzen lernt man beim Lesen fast so viel wie beim Hören, Corbett gibt viele gute, fast großartige Ratschläge, die den interessierten Leser oder die Leserin mit einem Werkzeugsatz, einer Art Besteck zum Hören, Beschreiben und Analysieren der improvisierten Musik ausstatten und das Hören somit interessanter und ertragreicher machen.. Schön ist, dass er dabei — trotz des grundlegend analytischen Zugangs — in seinem emphatischen Werben für die Musik auch Platz für deren Geheimnisse. Und hervorzuheben ist auch, dass er immer wieder einräumt und klar macht, dass Freie Improvisationen nicht die bessere, beste oder einzig wahre Musik sind. Und dass sie auch nicht im ethischen Sinn besser sind oder besser machen. Mir scheint aber, dass er dabei auslässt, dass das Hören (bzw. das Goutieren) dieser Musik durchaus soziale/ethische Qualitäten fördert, die man (wenn man möchte — und ich tue das) durchaus bewerten und hochschätzen kann. Insbesondere das “Aushalten” (das ja mehr ein Wertschätzen als ein Tolerieren ist) von Freiheit, d.h. von Ungewissheit, das positive, erwartungsvolle Erfahren von Neuem, Unbekanntem ist schon, so meine ich, eine wertvolle Sache. Deshalb müssen free-improvisations-Anhängerinnen natürlich nicht zwangsläufig bessere Menschen sein — aber sie tendieren dazu, unter anderem offen für eine Gesellschaft zu sein, die sich (auch) verändert — zumindest ist das meine Erfahrung.
Ergänzt wird Corbetts Text übrigens noch um ein paar Listen — nämlich drei sehr kurze und damit sehr angreifbar konzentrierte Auflistungen den grundlegenden/wichigen Aufnahmen der freien Improvisation sowie einer zweiten Liste der „poly-free-music“ und schließlich dem Hinweis auf einige Bücher zum Thema. Und im Anhang findet sich noch eine deutlich ausführlichere Liste wichtiger/bekannter Musiker und Musikerinnen der Improvisations-Szene, die alle zusammen zugleich den Rest des Buches in einer angenehmen Weise vom namedropping entlasten. So macht nämlich nicht nur das Hören, sondern auch das Lesen Spaß. Vor allem, wenn man dazu die passende Musik hört — bei mir waren es Wadada Leo Smiths CDs “Kabell Years: 1971–1979”.
Our duty, as listeners, is to be restlessly curious, to root around this big globe and dig up new things to fill our ears and minds. It’s more a matter of being inquisitive than of being eclectic. (162)