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bücherstapel

Aus-Lese #55

Ernst Bau­man: In die Berge! Alpine Fotografie der 1920er und 1930er Jahre. Her­aus­gegeben von Alfred Bülles­bach udn Rudolf Schicht. München: morisel 2019. 125 Seit­en. ISBN 978–3‑943915–37‑2.

baumann, in die berge (cover)Eine Rezen­sion in der Süd­deutschen Zeitung hat mich auf dieses schöne und span­nende Foto­buch aufmerk­sam gemacht. Die Geschichte der Fotografie ist ja nun nicht ger­ade ein Gebi­et, mit dem ich mich auskenne oder über­haupt irgend­wie beschäftigt habe. Trotz­dem (oder deshalb) macht das Buch viel Spaß. Dazu trägt auch nicht uner­he­blich die sehr infor­ma­tive (und selb­st schon reich bebilderte) Ein­führung von Alfred Bülles­bach bei, die es schafft, auch Laien der Fotografiegeschichte wie mir die Zusam­men­hänge, in den Bau­mann in den 20er und 30er Jahrend (und auch noch nach dem Zweit­en Weltkrieg) arbeit­ete, aufzuzeigen. Dazu gehört nicht nur die wirtschaftliche SIt­u­a­tion freier Fotografen, son­dern auch die Verbindung der Fotografie mit den Bergen, die zunehmende, zu dieser Zeit ja ger­ade in Schwung kom­mende touris­tis­che Erschließung der Alpen (durch den Bau von entsprechen­der Infra­struk­tur, durch den Urlaub­sanspruch der Angestell­ten und natür­lich auch durch die ökonomis­chen Möglichkeit­en bre­it­er­er Bevölkerungss­chicht­en, entsprechende Fahrten und Urlaube zu unternehmen), die als Hin­ter­grund für Bau­manns Fotos unab­d­ing­bar sind. Auch gefall­en hat mir, die Beto­nung der Rel­e­vanz der Bergfilme für die Zeit — nicht nur für das Bild der Berge in der Bevölkerung, son­dern auch als wirtschaftlich­es Stand­bein für nicht wenige Beteiligte

Die Fotos selb­st scheinen mir dann dur­chaus einen eige­nen Blick von Bau­mann zu ver­rat­en (mit dem bere­its erwäh­n­ten caveat, dass ich da über wenig Hin­ter­grund ver­füge): Ganz eigen, vor allem vor dem Hin­ter­grund der gegen­wär­ti­gen Extrem-Ver­mark­tung der Berge als spek­takulärster Spielplatz der Welt, ist die stille Ruhe und Gelassen­heit der Schön­heit der Berge (und auch ihrer Besuch­er, möchte ich sage, Besteiger oder Bezwinger wäre für die hier abge­bilde­ten Men­schen und ihre Hal­tung wohl der falsche Aus­druck, viel zu entspan­nt und zurück­hal­tend-freudi­ge treten sie mir vors Auge).

Ger­ade im Ver­gle­ich zu heuti­gen bildlichen Darstel­lung von Bergen und den Men­schen auf ihnen sieht das hier zahm aus. Auch, weil das eigentliche Erschließen der und das Bewe­gen in den Bergen eher ein Randthe­ma bleibt. Und weil es ver­gle­ich­sweise harm­lose Gipfel der Alpen sidn — aber, und das ist eben der Witz, den­noch unvergesslich in Szene geset­zt. Wahrschein­lich spielt auch die Schwarz-Weiß-Fotografie eine Rolle, wohl ger­ade bei den auf­tauchen­den Per­son­e­nen, die dadurch eine andere Schärfe und Kon­turierung zu haben scheinen als in den späteren Farb­fo­tografien (so ist zumin­d­est mein eigen­er Ein­druck …).

Chris­t­ian Neuhäuser: Wie reich darf man sein? Über Gier, Neid und Gerechtigkeit. 3. Auflage. Ditzin­gen: Reclam 2019 (Was bedeutet das alles?). 89 Seit­en. ISBN 978–3‑15–019602‑1

Neuhäuser, Wie reich darf man sein? (Cover)Neuhäuser betra­chtet Reich­tum und damit zusam­men­hän­gende Tugen­den und Prob­leme wie Gier, Gerechtigkeit, und Neid — der Titel ist hier tat­säch­lich sehr genau. Er argu­men­tiert dabei vor allem moral­philosophisch. Ökonomis­che, poli­tis­che und/oder soziale Kri­te­rien spie­len nur am Rand eine Rolle. Und den­noch ist das natür­lich — das bleibt bei dem The­ma und auch bei seinem Zugang gar nicht aus — natür­lich ein poli­tis­ches Buch, dass vor allem Super­re­iche für ihn unter moralis­chen, philosophis­chen und gesellschaftlichen (und damit ja auch poli­tis­chen) Aspek­ten dur­chaus kri­tisch zu betra­chen sind. Dabei geht es ihm aber über­haupt nicht um die Per­so­n­en, son­dern um die sich an ihnen man­i­festieren­den Reichtümer — und damit auch die Unter­schiede, die Gren­zen. Und das hängt eben oft mit Ungerechtigkeit­en zusam­men. Eines sein­er Kernar­gu­mente ist, dass Super­re­ich­tum — im Gegen­satz zu Wohl­stand und Reich­tum — nicht (mehr) ver­di­ent sein kann und damit moral­philosophisch ein Prob­lem ist.

Ein biss­chen schade ist, dass Neuhäuser dabei oft nicht sehr in die Tiefe geht: Das ist manch­mal etwas plaud­ernd ger­at­en — was nicht heißt, dass Neuhäuser mit sein­er Argu­men­ta­tion falsch läge. Aber manch­es scheint mir nicht zu ende gedacht/geschrieben, zumin­d­est in diesem Büch­lein (es ist ja nun nicht die einzige Auseinan­der­set­zung des Autors mit diesem The­ma).

Björn Kuh­ligk: Die Sprache von Gibral­tar. Gedichte. München: Hanser Berlin 2016. 85 Seit­en. ISBN 978–3‑446–25291‑2.

kuhligk, sprache von gibraltar (cover)Kuh­ligk habe ich bish­er eher am Rande wahrgenom­men: Dur­chaus offen­bar ansprechende Qual­itäten im lit­er­arischen Schreiben, aber nicht mein drin­gen­ster Lek­türewun­sch. Die Sprache von Gibral­tar kön­nte das ändern. Das ist näm­lich ein feines Buch.

Ganz beson­ders der erste Teil, der titel­gebende Zyk­lus über Gibral­tar und die europäis­che Enklave dort, ist richtig gut. Das ist keine über­mäßige Betrof­fen­heit­slit­er­atur, der man die Bemühtheit an jedem Wort anmerkt. Aber es ist ein genaues Hin­schauen (was an sich schon dur­chaus eine lohnenswerte Leis­tung wäre). Und es ist vor allem die Fähigkeit, aus dem Hin­schauen, aus der Absur­dität und auch der Grausamkeit der Welt in diesem kleinen Ort eine poet­is­che Sprache zu find­en und zu bilden. Damit lässt Kuh­ligk auch immer wieder die zwei Wel­ten aufeinan­der prallen und sich nicht nur heftig aneinan­der reiben, son­dern krachend miteinan­der Ver­hak­en.

Sehr passend scheint mir auch das (son­st bei Kuh­ligk meines Wis­sens nicht vorherrschend, sog­ar sehr sel­ten einge­set­zte) Mit­tel der lan­gen, erschöpfend­en, ermü­den­den Rei­hung in diesem Zyk­lus einge­set­zt zu wein — etwa die sehr ein­drück­lich wirk­ende und genaue Litanei “wenn man …”.

Und dann gibt es auch noch in den restlichen Abschnit­ten, in der zweit­en Hälfte des Ban­des, gute und schöne Gedichte, die etwa sehr gelun­gen die Trost­losigkeit des Landlebens im “Dor­fkrug” (47) ein­fan­gen oder in der Dopplung von “Was wir haben” (50) und “Was fehlt” (51) beina­he so etwas wie eine unsen­ti­men­tale Land­schaft­slyrik entwick­eln.

wenn man das Wort „Kap­i­tal­is­mus“ ausspricht, ist im Mund viel los / wenn man Kohle hochträgt, trägt man Asche runter (35)

Jür­gen Kaube: Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder? 2. Auflage. Berlin: Rowohlt Berlin 2019. 335 Seit­en. ISBN 978–3‑7371–0053‑3.

Kaube, Ist die Schule zu blöd (Cover)Nun ja. Das war eine eher ent­täuschende Lek­türe. Kaube beobachtet das Bil­dungssys­tem im weit­eren Sinne schon länger und hat sich auch immer wieder darüber geäußert, dur­chaus auch jen­seits der tae­sak­tuellen Anlässe. Seine kleine Schrift Im Reformhaus habe ich damals dur­chaus mit Gewinn gele­sen. Bei Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder? ist das aber lei­der anders. Der Titel hätte ja schon eine War­nung sein kön­nen. Schon die ersten Seit­en und die anfänglichen Kapi­tel zeigen schnell ein Haupt­manko des Buch­es: viel Gerede, viel schöne Beispiele, aber eher wenig Sub­stanz.

Vor allem hat mich sehr schnell und recht nach­haltig gen­ervt, wie selek­tiv er liest/wahrnimmt und dann lei­der auch argu­men­tiert. Das wird zum Beispiel in Bezug auf Bil­dungsem­pirik­er (für ihn ja fast ein Schimpf­wort) sehr deut­lich, aber auch in seinen aus­g­wählten Bezü­gen auf Bil­dung­sun­gle­ich­heit und Chan­ce­nun­gle­ich­heit im Bil­dungs­bere­ich. Das ist ja eines sein­er Haup­tar­gu­mente hier: Dass die Schule nicht dafür da ist, Ungle­ich­heit zu beseit­i­gen, dass sie von Politiker*innen zunehmend dazu “benutzt” wird, soziale Prob­leme zu lösen. Ich kann ihm ja dur­chaus darin (cum gra­no salis) zus­tim­men, dass die Schule das kaum leis­ten kann. Ich bin mir aber nicht so sich­er, ob das wirk­lich ein so bes­tim­mendes Motiv der Bil­dungspoli­tik und so sehr ein wirk­lich­es Prob­lem ist. Jeden­falls haben diese Nach­läs­sigkeit­en mir es dann aus­ge­sprochen schw­er gemacht, die pos­i­tiv­en Aspek­te wirk­lich zu würdi­gen (die aber dur­chaus vorhan­den sind, nur lei­der eben etwas begraben unter dem ein­seit­i­gen, schimpfend­en Gewet­ter Kaubes).

außer­dem gele­sen:

  • Lüt­fiye Güzel: sans trophée. Duis­burg, Berlin: go-güzel-pub­lish­ing 2019.
  • Siegfried Völl­ger: (so viel zeit hat nie­mand). Gedichte. München: Allit­era 2018 (Lyrikedi­tion 2000). 105 Seit­en. ISBN 978–3‑96233–075‑0.
  • Philipp Hübl: Bull­shit-Resistenz. 2. Auflage. Berlin: Nico­lai 2019 (Tugen­den für das 21. Jahrhun­dert). 109 154 Seit­en. ISBN 978–3‑96476–009‑8.

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  • Was lesen Buch­blog­ger: Eine neue Analyse mit Visu­al­isierun­gen und Sta­tis­tiken | lesestunden.de → tobi hat ver­sucht zu analysieren (und visu­al­isieren), was buch­blog­gerin­nen (er hat ein fast auss­chließlich weib­lich­es sam­ple) eigentlich lesen. die daten­grund­lage ist aber zumin­d­est in teilen schwierig, die genre-ein­teilung zum beispiel nahe an der gren­ze zum absur­den (wie er selb­st auch anmerkt)
  • Inte­gra­tive Obstar­beit | Draußen nur Kän­nchen → wun­der­bare “integrations”-begegnung, aufgeschrieben von frau nessy
  • The Peo­ple Who Craft World-Class Stein­way Pianos → schöne foto­strecke (anlässlich eines entsprechen­den buchs …) über die arbeiter/innen in stein­ways fab­riken
  • Besuch bei Ver­leger Jochen Jung: “Du bist ein Schmarotzer! Nutznießer, eine Zecke” | Welt → aus­nahm­sweise mal eine empfehlung zur springer-presse: man­fred reb­han­dl hat näm­lich ein schönes stück über den ver­leger jochen jung geschrieben
  • Zum Ethos der Tech-Szene in der dig­i­tal­en Ökonomie: Zwis­chen Anspruch und Wirk­lichkeit | netzpolitik.org → Maciej Cegłows­ki über pro­gram­mier­er und ihren zugriff auf die wirk­lichkeit und die daraus resul­tieren­den fra­gen und prob­leme

    Unsere Ziele sind ein­fach und klar. Zuerst wer­den wir messen, dann analysieren, dann opti­mieren. Und man wird uns dankbar sein.

    Aber die reale Welt ist eigensin­nig. Sie ist so kom­plex, dass sie Abstrak­tion und Mod­el­lierung wider­ste­ht. Sie erken­nt unsere Ver­suche sie zu bee­in­flussen und reagiert darauf. Genau­so wenig, wie wir aus unser­er eige­nen Haut kön­nen, kön­nen wir hof­fen, die Welt von außen objek­tiv zu erfassen.

    Die ver­net­zte Welt, die wir erschaf­fen, mag Com­put­er­sys­te­men ähneln, aber es bleibt den­noch die gle­iche alte Welt wie vorher, nur mit ein paar Mikro­fo­nen und Tas­taturen und Flatscreens, die hier und dort her­aus­ra­gen. Und sie hat immer noch die gle­ichen alten Prob­leme.

  • „Ein­fach nur pri­vatis­tisch Intim­itäten aus­plaud­ern, kann nicht zielführend sein.“ | fem­i­nis­tis­che stu­di­en → inter­es­santes inter­view mit car­olin emcke über sub­jek­tiv­ität, intim­ität und spreche & sprache

    Ein­fach nur „ich“ sagen, ein­fach nur pri­vatis­tisch Intim­itäten aus­plaud­ern, kann nicht zielführend sein. Die sub­jek­tive Form, das Reflek­tieren auf eigene Erfahrun­gen oder Wahrnehmungen braucht, mein­er Ansicht nach, immer einen Grund, warum sie in einem bes­timmten argu­men­ta­tiv­en, diskur­siv­en Kon­text einge­set­zt wird.

    Als Pub­lizistin füh­le ich mich verpflichtet, mit sprach­lichen Mit­teln jene ide­ol­o­gisch aufge­lade­nen Bilder und Begriffe, jene Assozi­a­tions­ket­ten und Vorstel­lun­gen aufzubrechen, die Ressen­ti­ments gegenüber Frauen oder Homo­sex­uellen, Gehör­losen oder Jüdin­nen, Linkshän­dern oder Schalke-Fans trans­portieren. Und dazu gehört dann, dass wir nor­ma­tive Begriffe in Erfahrun­gen über­set­zen, dass wir das, was uns wütend oder verzweifelt zurück lässt, ver­ste­hbar machen für diejeni­gen, die diese Erfahrun­gen nicht teilen.

  • Fetisch Effizienz | Mar­cel Häng­gi → markus häng­gi hat für “zeit wis­sen” die geschichte und the­o­rie der energieef­fizienz schön aufgeschrieben.

    Die unter dem Gesicht­spunkt der Energieef­fizienz bemerkenswerteste Erfind­ung der Mod­erne war das Fahrrad

    Es gibt keinen Grund, Energi­eträger, deren Nutzung die men­schliche Zivil­i­sa­tion bedro­hen, über­haupt auf den Markt zu lassen.

  • Inter­view: „Ich bin kein Fotoro­bot­er“ | der Fre­itag → inter­es­santes inter­view mit dem fotografen christoph bangert (der mit “war porn” ein her­vor­ra­gen­des foto­buch über den krieg veröf­fentlichte) über krieg, gewalt, absur­dität, ver­ste­hen und ver­ar­beit­en
  • Aut­o­fahren in Deutsch­land: Die Strafen für Ras­er und Verkehrssün­der sind lächer­lich — Poli­tik — Tagesspiegel Mobil → hein­rich schmitz hat wort­ge­waltig und fak­tengesät­tig genug von der ver­harm­lo­sung der ras­er und der mitlei­d­slosen inkauf­nahme der tödlichen verkehrsun­fälle

    Bei „bereiften Mördern“ – so wer­den hier in der Region scherzhaft Aut­o­fahrer mit einem BM-Kennze­ichen aus Bergheim genan­nt – packt die Poli­tik die Samthand­schuhe aus. Aut­o­fahrer sind halt Wäh­ler und nicht mal wenige. Da wer­den selb­st die in der son­st für ihre Poli­tik so heiß geliebten Schweiz gel­tenden Regeln nicht einge­führt.

  • Zu Besuch Friederike Mayröck­er: Eine Gle­ichung von math­e­ma­tis­ch­er Ele­ganz | FAZ → der bald-büch­n­er-preisträger mar­cel bey­er über einen besuch bei büch­n­er-preisträgerin friederike mayröck­er

    Leben = Schreiben: Mir fiele nie­mand ein, für den diese Gle­ichung so wenig antast­bar, so pro­duk­tiv, schlicht unum­stößlich wahr wäre wie für Friederike Mayröck­er. Eine Gle­ichung von math­e­ma­tis­ch­er Ele­ganz.

  • Mar­tin Vogel: Anmerkung zu einem richti­gen Urteil | perlentaucher.de → mar­tin vogel legt noch ein­mal seine/die sicht der urhe­berin­nen zur vg wort, ihren auss­chüt­tun­gen und ihrer krachen­den nieder­lage vor dem bgh dar. sehr lesenswert
  • Diedrich Diederich­sen im Gespräch über poli­tis­che Kor­rek­theit in öffentlichen Debat­ten | jungle-world.com → span­nen­des, langes inter­view mit diedrich diederich­sen über poli­tis­che kor­rek­theit, kul­turkampf, (neue) rechte und die entwick­lun­gen in der (deutschen) diskurs­ge­sellschaft der let­zten jahre/jahrzehnte

    Mit der soge­nan­nten PC kam der Ärg­er auf ein­er unge­wohn­ten Ebene zurück, als Debat­te um Sprache. Let­ztlich war der dann fol­gende Auf­schrei in der kon­ser­v­a­tiv­en bis reak­tionären Mitte vor allem ein Symp­tom der Ent­täuschung. Man hat­te gehofft, ganz demarkiert Poli­tik und Geschäfte machen zu kön­nen, und wollte mit inhaltlichen Auseinan­der­set­zun­gen, die dann auch noch auf poli­tis­chen oder ethis­chen Grundüberzeu­gun­gen – Beze­ich­nun­gen wie Ras­sis­mus waren ja wichtig, wir woll­ten Ras­sis­mus Ras­sis­mus nen­nen, die anderen Frem­den­feindlichkeit – nichts mehr zu tun haben.

    Das ist eine schlimme Entwick­lung, die die strate­gisch berechtigte Idee, Orte zu schaf­fen, in denen man zum Beispiel vor trans- und homo­phober Ver­fol­gung sich­er ist, in eine völ­lig bescheuerte Rich­tung ver­schoben haben. Safe Spaces sind jet­zt Sem­i­nare, die als so eine Art erweit­ertes Kinderz­im­mer mit Kuschelkul­tur nur über Dinge sprechen, die die behüteten Mit­telschicht­skinder nicht erschreck­en. »Trig­ger Warn­ings« sollen helfen, dass man das Böse gar nicht erst zur Ken­nt­nis nimmt. Von Verge­wal­ti­gung und Ras­sis­mus darf man dann gar nicht mehr sprechen.

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  • Das MoMa New York erwirbt Alvin Luciers “I am sit­ting in a room” « Kul­turtech­no
  • Hochschwarzwald: Ab ins gemachte Nest! | ZEIT ONLINE — die zeit macht ein biss­chen wer­bung für mod­ernisierte (teure) ferien­woh­nung im schwarzwald, die mit schick­em design über­nach­tungs­gäste anlock­en wollen, dafür aber die wertschöp­fung schön zen­tral­isieren und konzen­tri­eren (und eben nur noch einen bruchteil bei den besitzern vor ort lassen)

    Im Hochschwarzwald hat die Touris­mus GmbH vorhan­dene Ferien­woh­nun­gen mod­ernisiert. Ein Gewinn für alle Seit­en?

  • If Our Sons Were Treat­ed Like Our Daugh­ters | Lori Day — sehr schönes gedanken­spiel …

    Come with me. Let’s open the door to a par­al­lel uni­verse. Here in this par­al­lel world, the rules are dif­fer­ent because gen­der roles are flipped. Lov­ing par­ents and teach­ers accept this strange cul­ture as if it’s not so bad, or per­haps even good.…

  • Edi­tion: Hitlers “Mein Kampf” kommt 2016 rund 2000 Seit­en dick — DIE WELT — sven felix keller­hoff war bei der vorstel­lung der kom­men­tierten aus­gabe von hitlers “mein kampf”, die er sehr begrüßt:

    Das IfZ und sein Vizechef Mag­nus Brechtken jeden­falls sind den richti­gen Weg in ein­er offe­nen Gesellschaft gegan­gen: Sie suchen gegen den offen­sichtlich beschränk­ten Hor­i­zont von Beamten und (eini­gen) Poli­tik­ern in München die Unter­stützung der Öffentlichkeit. Denn jede Fort­set­zung des absur­den Tanzes um Hitlers “Mein Kampf” führt nur in die Irre.

  • Ver­bot für Brechts Stück „Baal“: In Grabesruhe — taz.de — es ist ganz ein­fach mit dem brecht-the­ater:

    Es zählt zur pos­tu­men Ironie von Brechts Leben, dass der große Zertrüm­mer­er des Klas­sik­erthe­aters schlussendlich selb­st zum Klas­sik­er gewor­den ist. Pos­tum wer­den Brechts Ideen in Stein gemeißelt, wofür sie der Autor nie vorge­se­hen hat­te.

  • Kiel­er Matrose­nauf­s­tand 1918 : Berühmtes Foto ent­pup­pt sich nach fast 100 Jahren als Irrtum — quel­lenkri­tik bei fotografien ist eine schwierige und aufwändi­ge sache:

    Erstaunlich­er Erken­nt­nis im Bun­des­bil­darchiv: Das bekan­nteste Foto, mit dem seit fast 100 Jahren der Kiel­er Matrose­nauf­s­tand von 1918 illus­tri­ert wurde, ist in Wahrheit in Berlin ent­standen.

    hier war es die “orig­i­nalvor­lage” (was auch immer das genau ist …), die durch ihre beschrif­tung eine kor­rek­tur erzwang

  • Alte Schriften — wahnsin­nig umfan­gre­ich, auch mit eini­gen ttf-fonts für aus­ge­fal­l­enes wie die merowingis­che minuskel …

    Auf diesen Seit­en find­en Sie eine Samm­lung alter Schriftze­ichen aller Völk­er und Kul­turen von Abur bis Zapotekisch.

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  • Zeit­genös­sis­che Oper: “Aua, aua – Schme-e-erzen!” | ZEIT ONLINE — christi­nen lemke-matwey reka­pit­uliert die opern-urauf­führun­gen der let­zten monate — und die sit­u­a­tion des zeit­genös­sis­chen musik­the­aters über­haupt:

    Die Oper bleibt, was sie immer war, träge, kuli­nar­isch, teuer, selb­stver­liebt – und die Kom­pon­is­ten, auch die, die ihr abgeschworen haben, ver­sam­meln sich halb reumütig, halb blauäugig in ihrem war­men Schoß.

    nicht ohne hoff­nung, aber so richtig begeis­tert scheint sie auch nicht zu sein — und auch keine idee zu haben, was eine (neue) begeis­terung aus­lösen kön­nte:

    Man mag es schlimm find­en oder nicht, wenn die Men­schen nicht mehr in Mozarts Zauber­flöte oder Bizets Car­men gin­gen; richtig schlimm, ja ver­heerend wäre es, wenn es keine rit­uellen Orte mehr gäbe, an denen sich eine Gemein­schaft über ihre Emo­tio­nen und Affek­te ver­ständigte, ohne immer gle­ich darüber reden zu müssen, ein­er Sek­te beizutreten oder ins näch­ste Fußball­sta­dion zu ren­nen. Orte für Musik, Orte für Augen, Ohren und Sinne, Opern­häuser eben.

    (ich wüsste ja nur gern ein­mal, ob das wirk­lich stimmt, dass “derzeit so viele [neue Stücke] wie noch nie” entste­hen — zahlen und ver­gle­iche nen­nt sie lei­der keine …)

  • Uwe John­son: Daheim in der Par­al­lel­welt | ZEIT ONLINE — jan brandt schießt in sein­er begeis­terung für uwe john­son, der gestern 80 jahre alt gewor­den wäre, ein wenig übers ziel hin­aus:

    Dabei war John­son der inno­v­a­tivste, radikalste, man­is­chste deutsche Nachkriegsautor.

    trotz­dem aber eine gelun­gene und richtige und notwendi­ge hom­mage an einen großen autor

  • Klas­sen­ge­sellschaft: Standes­gemäß | Kar­riere | ZEIT ONLINE — die “Zeit” zeigt schöne und inter­es­sante (porträt-)fotos aus der weimar­er repub­lik:

    Der Fotograf August Sander hat die Stän­dege­sellschaft der Weimar­er Repub­lik porträtiert. Er fotografierte die Men­schen in ihrer typ­is­chen Umge­bung, mit charak­ter­is­tis­ch­er Klei­dung oder in typ­is­ch­er Hal­tung.

    (von “Stän­dege­sellschaft” würde ich zwar nicht sprechen, aber seis drum …)

  • IASLon­line NetArt: Geschichte der Com­put­erkun­st Inhaltsverze­ich­nis — thomas dreher hat eine “Geschichte der Com­put­erkun­st” geschrieben und passend im netz veröf­fentlicht:

    Nach fünf Jahrzehn­ten Com­put­erkun­st sind aus­führlichere Rekon­struk­tio­nen der his­torischen Entwick­lungslin­ien des Ein­satzes von Rech­n­ern und Rechen­prozessen in kün­st­lerischen Pro­jek­ten fäl­lig, um Com­put­erkun­st als eigen­ständi­gen Bere­ich der Medi­enkun­st erken­nen zu kön­nen.

  • Kolumne Luft und Liebe: So crazy wie gold­ene Leg­gins — taz.de -

    Nein, ver­mut­lich hil­ft die „x“-Endung nicht im Nahostkon­flikt. Vielle­icht löst sie über­haupt ganz wenig und wird schon bald durch irgend­was mit „y“ abgelöst. Men­schen, die sich an Babyspinat-Man­gold-Smooth­ies gewöh­nen, wer­den sich mit der Zeit auch an neue Sprach­for­men gewöh­nen. Men­schen, die ver­suchen, ein­er Wis­senschaft­lerin zu erk­lären, was sie vor geschätzten 37 Jahren in der Schule gel­ernt haben, von jeman­dem, der 20 Jahre vorher Biolo­gie auf Lehramt studiert hat: schwierig.

  • Sym­bol­ge­halt ǀ Wir sind wieder wer anders — der Fre­itag — georg seeßlen über fußball, poli­tik, nation, sym­bol und ver­w­er­tungszusam­men­hänge:

    Ein Fußball­spiel hat keine poli­tis­che Botschaft, so wenig wie die Frisur eines Bun­de­strain­ers einen kul­turgeschichtlichen Wen­depunkt markiert. Die poli­tis­che Metaphorik wird erst danach pro­duziert. Je nach Bedarf. Je nach Inter­esse. Je nach Ein­fluss. Wie schön wäre es, wieder ein­mal sagen zu kön­nen, gewon­nen hät­ten ein­fach diejeni­gen, die an dem ein oder anderen Tag am besten Fußball gespielt haben. Ein schönes Spiel sei ein schönes Spiel. Und son­st nichts. Aber das ist eben das Kreuz mit den Real­itätsmod­ellen. Sie ver­lieren ihre eigene Real­ität. Wie viel Wahrheit ist noch auf dem Platz, wenn die Macht der Inszena­toren und Prof­i­teure ins Uner­messliche geht?

  • Berlin­er Phil­har­moniker Record­ings: Im Leinen-Schmuck­pack samt Blu-ray | Musik — Berlin­er Zeitung — Inter­es­sant, wie tiefge­hend man Klas­sikkri­tik­er mit ein­er außergewöhn­lichen CD-Ver­pack­ung irri­tieren & ver­stören kann

Aus-Lese #33

Es wird mal wieder höch­ste Zeit für die näch­ste Aus-Lese …

Ben­jamin Stein: Das Alpha­bet des Rab­bi Löw. Berlin: Ver­brech­er 2014. 286 Seit­en.

stein, alphabetDas Alpha­bet, ganz frisch vom Ver­lag, ist den­noch schon einige Jahre alt: Denn Stein legt hier ein Über­ar­beitung seines Erstlings vor. Das ist eine sehr aufwändig kon­stru­ierte, ver­track­te Geschichte, die ich jet­zt gar nicht rekon­stru­ieren (oder gar nacherzählen) möchte — und wohl auch kaum noch kön­nte. Was mich wieder ein­mal überzeugt und beein­druckt hat, ist das Erzählen des Erzäh­lens als The­ma selb­st, mit dem fast schon oblig­a­torischen Ver­wis­chen von Erzähltem und Real­ität, bei dem die Gren­zen zwis­chen erzäh­len­dem und erzählten Ich schnell über­wun­den (bzw. unken­ntnlich gemacht) wer­den. Wo das Wirk­liche unwirk­lich wird (zu wer­den scheint) — und die Phan­tasie auf ein­mal real: Da ist man in einem Text von Bejamin Stein. Seraphin mit See­len aus Feuer tauchen hier auf, Selb­stentzün­dun­gen der untreuen Lieb­haber — über­haupt bren­nt hier ziem­lich viel -: Engel, Golem und Rab­bis, Worte und Namen und ähn­lich­es bevölk­eren dieses amüsante Ver­wirspiel auf vie­len Ebe­nen der Erzäh­lung und der Wirk­lichkeit (aber ist eine Wirk­lichkeit, in der es Engel gibt, Men­schen, die selb­st entzün­den, Wiederge­burt/-erscheinen nach mehreren hun­dert Jahren als iden­tis­che Per­son, ist so eine Wirk­lichkeit über­haupt „wirk­lich“?), angere­ichert mit religiösen The­men (und eini­gen Kuriosa, zumin­d­est für mich, der ich mich in der jüdis­chen Reli­gion so gar nicht auskenne). Und wie in Agen­ten­thrillern/-fil­men/-serien wird sozusagen im nach­hinein immer noch eine Ebene der Täuschung/Illusion/Erzählung/Fiktion einge­baut, die jew­eils erst sicht­bar wird, in dem sie zer­stört wird, aufgelöst wird — und entsprechend rück­wirk­end den ganzen Text auflöst, entk­ernt, … Das ist ein alter Erzäh­ler­trick, gewiss, den Stein hier aber dur­chaus nett umset­zt. Manche Pas­sagen sind für meinen Geschmack etwas krim­i­haft, manch­mal auch etwas argl plaud­erend erzählt, zu sehr darauf angelegt, gemein­same sache mit dem Leser machen. Mit Ratio­nal­ität allein wird man diesem Buch über Engel, das zugle­ich ein ver­track­ter Mehrgenerationen-Familiengeschichte(n) im 20. Jahrhun­dert ist, in der alle mit allen zusam­men­hän­gen, kaum gerecht. Und sehr schön ist es übri­gens auch, mal wieder ein in Leinen gebun­denes Buch in der Hand zu haben — das liegt da gle­ich ganz anders …

Was weißt du schon? erwiderte die Stimme. Und das war der Satz, den er von nun an immer wieder hören sollte: Was weißt du schon? Sei nicht dumm. Es gibt ein Bild hin­ter dem Spiegel und eine Stadt tief unter dir. Es gibt Engel, die wer­den als Men­schen geboren, und Men­schen, die gehen in Flam­men auf, weil die Buch­staben keck ihre Plätze tauschen und die Welt auf den Kopf stellen, nicht mehr als ein Spiel. (201f.)

Fried­helm Rath­jen: Arno Schmidt lesen! Ori­en­tierung­shil­fe für Erstleser und Weg­weis­er im Lit­er­aturd­schun­gel. Süd­west­hörn: Edi­tion ReJOYCE 2014. 168 Seit­en.

rathjen, schmidt lesenEin schön­er, kurz­er und knack­iger Überblick aus der Rath­jen-Werk­statt: Zugle­ich eine ganz kurze Ein­führung in die Biogra­phie Schmidts und ein Überblick über sein Schaf­fen. Das geschieht vor allem im Modus der Kurzcharak­ter­is­tik aller Werke, die Rath­jen chro­nol­o­gisch abhan­delt und so zugle­ich auch ein biss­chen Rezep­tion­s­geschichte — vor allem für die nachge­lasse­nen Pub­lika­tio­nen und Edi­tion — bietet. Dazu gehört, den jew­eili­gen Werken zuge­ord­net, ein doch recht aus­führlich­es Verze­ich­nis der (wichti­gen?) Sekundär­lit­er­atur — lei­der ohne Kom­men­tar und deshalb also ein doch nicht ganz so poten­ter „Weg­weis­er“. Als Hil­f­s­mit­tel und Anre­gung für den (noch) nicht voll­ständi­gen Schmid­tian­er ist Arno Schmdit lesen! aber trotz­dem nüt­zlich, auch wenn für meinen Geschmack die Textlein zu den Werken manch­mal doch arg kurz ger­at­en sind. Doch weil Rath­jen ein guter Ken­ner des Schmidtschen-Kos­mos ist, hat das Büch­lein dur­chaus seinen Wert, der naturgemäß für Schmidt-Ken­ner geringer ist als für Novizen.

Ilma Rakusa: Ein­samkeit mit rol­len­dem »r«. Erzäh­lun­gen. Graz: Droschl 2014. 158 Seit­en.

rakusa, einsamkeitIn Kürze: Ganz tolle Erzäh­lun­gen sind hier zu find­en, unbe­d­ingt empfehlenswert — wenn man kleine Geschicht­en zwis­chen Reportage und Momen­tauf­nahme aus der Fremde Europas mit einem Hang zu leichter Melan­cholie und Trau­rigkeit mag. Meist geben sie kurze Ein­blicke in Leben und Charak­ter ein­er Per­son (die den Titel der jew­eili­gen Geschichte bildet), oft durch eine nah­es­tende Erzäh­lerin, einen Fre­und etwa. Das hat oft etwas von ein­er Pseu­do-Reportage, wie es etwa eingear­beit­ete Zitate der Pro­tag­o­nis­ten ein­er Erzäh­lung zur Darstel­lung ihres Hin­ter­grunds, ihrer Geschichte nutzt, als stammten sie aus einem Gespräch. Dazu passt auch die Schlichtheit der Sätze — zumin­d­est syn­tak­tisch, lexikalisch ist das dur­chaus kun­stvoll: Daher kommt auch der lyrische, oft leicht schwebende Ton der Erzäh­lerin­nen aus der Fed­er Rakusas.

Immer wieder wer­den beschädigte Leben erzählen: Heimatver­lust oder über­haupt Heimat­losigkeit, das (ewige) Weit­erziehen, die Suche nach einem Platz/Ort (nicht nur, aber auch geo­graphisch) im Leben bes­tim­men den Weg der Pro­tag­o­nis­ten, die ganz über­wiegend suchend sind, sich auf dem Weg bein­den, immer unter­wegs — nach Leben, Sinn etc., auch nach Erleuch­tung (mehrmals suchen sie die ganz plaka­tiv in Indi­en): entwurzelte Men­schen der Mod­erne zeigt Rakusa uns. Momen­tan oder zeitweise, vorüberge­hend kann die Ein­samkeit aufge­hoben oder sus­pendiert wer­den — in Freundschaft(en) und Liebe etwa, wobei die Enthe­bung aus der Ein­samkeit immer als solche, als nicht dauernde Erle­ichterung, auch wahrgenom­men und erkan­nt wird: Das Bewusst­sein der Endlichkeit der „Gesel­ligkeit“ ist immer vorhan­den, ihre Fragilität gewusst. So spie­len sich in den Fig­uren Dra­ma und Trau­ma der Gegen­wart ab: Kap­i­tal­is­mus, Krieg und Krankheit­en als Verur­sach­er der „Störung“. Und: Europa außer­halb Deutschlands/Mitteleuropa wird gezeigt, mit Krieg und Kriegs­fol­gen, Armut, Leere, Verzwei­flung, Leid, Trauer und Trau­rigkeit — ohne deshalb total schwarz zu sein, grundiert diese dun­kle Erfahrung doch nicht nur das Leben der Pro­tag­o­nistin­nen, son­dern auch den Ton der meis­ten Erzäh­lun­gen: dunkel, aber nicht depres­siv; hart, aber nicht verzweifelt. Auch die Orte sind keineswegs alles Idyllen: Kol­jan­sk etwa wird als rein­er Höl­lenort erzählt: Trost­los, aus­sicht­s­los, ret­tungs­los: „Ein Punkt, der bald ver­schwun­den sein wird. Dort.“ (158) — das sind zugle­ich die let­zten Worte des Buch­es — die dem Ganzen noch eine­mal einen etwas über­raschend düster­nen, trost­los-grauen Dreh geben

Wie geht das: im Leben eine Seite umwen­den? Aussteigen, wegge­hen, auf nichts hof­fen als auf die Richtigkeit der Entschei­dung. (73)

Wir waren kurz sehr lange weg gewe­sen. (79)

Tim B. Müller: Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensver­suche mod­ern­er Demokra­tien. Ham­burg: Ham­burg­er Edi­tion 2014. 174 Seit­en.

müller, demokratienDemokra­tien sind labile Gebilde, Dauer­haftigkeit gibt es nicht, die Demokratie muss immer neu hergestellt wer­den. Deswe­gen benöti­gen sie Entschei­dun­gen, Reagieren — und Entwick­lung, sie verzei­hen aber auch Fehler. Ganz beson­ders gilt das für Momente der Krise. Müller zeigt das anhand “der” Krise der mod­er­nen Demokra­tien nach dem Ersten Weltkrieg am Ende der 1920er Jahre, im Umfeld der Wirtschaft­skrise. Dabei zeigt Müller auch, wie eng soziale Demokratie (mit ihrer Umverteilung (die aus dem Gle­ich­heit­spos­tu­lat resul­tiert), also der „Wohlfahrtsstaat“ und demokratis­che Organ­i­sa­tion sowie Gesin­nung (der Bevölkerung) im 20. Jahrhun­dert in Europa (und den USA) zusam­men­hän­gen.

Demokratie will Müller ver­standen wis­sen als Prozess, ständi­ge Diskus­sion, Vergewis­serung und Anpas­sung sind notwendig und wesen­haft. Das geschieht nicht in allen Län­dern und Gesellschaften gle­ichzeit­ig und auf gle­iche Weise. Für Deutsch­land stellt er etwa fest:

Demokratie als Kul­tur und Lebensweise musste in Deutsch­land mit beson­derem Nach­druck ver­ankert wer­den, weil Kriegsver­lauf und Nieder­lage eine schwierige Aus­gangslage geschaf­fen hat­ten: Die Kriegsnieder­lage führte zur Demokratie, was die Demokratie belastete. (81)

Und später heißt es:

Es bedurfte ein­er gewalti­gen Erschüt­terung, um dieses Gefüge ins Wanken zu brin­gen. Die Weltwirtschaft­skrise ließ die Entwick­lung, die den Zeitgenossen seit dem Ersten Weltkrieg unaufhalt­sam erschienen war, still­ste­hen. Das war nicht der Unter­gang. Aber die Rou­ti­nen und Kon­ven­tio­nen der Demokra­tien, die auch unter großem Druck so lange so gut funk­tion­iert hat­ten, geri­eten ins Stot­tern. Jet­zt kam es auf kluges Regieren an, jet­zt kon­nte jed­er falsche Schritt in den Abgrund führen, jet­zt waren anti­demokratis­che Kräfte und Tra­di­tio­nen imstande, zur Bedro­hung zu wer­den. Die lib­erale und soziale Demokratie war nicht am Ende. Sie ging sog­ar gestärkt aus der großen Krise her­vor. Nur nicht in Deutsch­land. (112f.)

Das ist genau der Punkt, um den dieser Essay kreist: Die Entwick­lung der Geschichte war — auch in Deutsch­land — keine zwangsläu­fige, der Weg aus der Krise hätte auch anders ausse­hen kön­nen. Ver­sagen sieht Müller hier vor allem bei Brün­ing, dem er bescheinigt:

Vom Blick­winkel der Geschichte der Demokratie aus war es nicht diese oder jene Maß­nahme der Brün­ing-Regierung, die den Unter­gang der Demokratie ein­leit­ete, nicht das Sparen selb­st, son­dern ein fun­da­men­tales intellek­tuelles Ver­sagen, die Unfähigkeit, Poli­tik in ein­er der Demokratie angemesse­nen Kom­plex­ität zu denken. (120)

Die Modi, Lösun­gen oder Strate­gien zur Bewäl­ti­gung der Krise der Demokratie, darauf weist Müller aus­drück­lich hin, hät­ten aber ger­ade das zur Bedin­gung gehabt: Die Beherrschung des „The­aters der Demokratie“ (127) — das scheint für Müller nicht nur der/ein wesentlich­er Unter­scheid zwis­chen Brün­ing und Roo­sevelt zu sein, son­dern ein wesentlich­es Ele­ment erfol­gre­ich­er Krisen­be­wäl­ti­gung. Zumin­d­est kann man sein Lob von Roo­sevelts „demokratische[m] Exper­i­men­tieren“ (129), das Müller wohl als angemessen­stes Ver­fahren, die Krise zu be-/über­wälti­gen, ansieht, so sehen.

Im Grunde ist das auch schon ein wesentlich­er Teil des Haup­tar­gu­ments: „Wirtschaftswach­s­tum, Wohlfahrtsstaat und Demokratie waren unau­flös­lich miteinan­der ver­woben.“ (138f.). Und da sind, ger­ade in Krisen­zeit­en, für Müller han­del­nde Per­so­n­en gefragt, Indi­viduen (hier eben Poli­tik­er (& Keynes ;-))), die diese Kom­plex­ität erken­nen und zugle­ich im demokratis­chen Diskurs (dem “The­ater”) angemessen argu­men­tieren kön­nen. In allen seinen Beispie­len macht Müller Aktive aus, die die Demokratie „ret­ten“ (oder im falle Brün­ings, eben nicht). Angelegt ist das dabei dur­chaus in Struk­turen, aber die Notwendigkeit der/einer Entschei­dung und — das ist im demokratis­chen Han­deln eben immer genau­so wichtig — des Überzeu­gens bleibt (als vornehm­lich indi­vidu­elle Leis­tung!).

Als konkrete Über­lebensstrate­gien von Demokra­tien iden­ti­fiziert Müller dann vor allem drei Momente: Erstens die „soziale Sta­bil­isierung durch Sozialpoli­tik“ (das heißt auch, in wirtschaftlichen Krisen­zeit­en die staatlichen Investi­tio­nen auszuweit­en statt blind zu sparen), zweit­ens die „poli­tis­che Inte­gra­tion durch demokratis­ches Pathos, durch Par­tizipa­tion und Mobil­isierung der Bürg­er“ und drit­tens eine Wirtschaft­spoli­tik mit inten­sivem ein­greifen in ökonomis­che Struk­turen, „ohne Rück­sicht auf ökonomis­che Effizienz“, d.h. hier v.a. Arbeits­beschaf­fungs­maß­nah­men (152). Das kann man übri­gens, so deutet Müller sehr vor­sichtig an, dur­chaus auch für die gegen­wär­tige Krise als Lösungs­fak­toren annehmen … Über alle Krisen hin­aus aber gilt:

Demokra­tien mussten sich ihrer ständi­gen Gefährdung auch in guten Zeit­en bewusst bleiben. Unter allen Umstän­den galt es, ihr zivil­isatorischen Min­i­mum zu bewahren. (152)

Alexan­der Gumz: aus­rück­en mit mod­ellen. Berlin: kook­books 2011. 88 Seit­en.

gumz, modelleSelt­sam: das fes­selt oder berührt mich so gar nicht — ohne dass ich sagen kön­nte, warum. Irgend­wie zün­den die Bilder nicht, die Sprache (Stil und Form) set­zt sich nicht fest, die Inhalte inter­essieren mich nicht. Die Form­losigkeit (gerne in lan­gen Zweizeil­er) ist zwar irgend­wie gefühlt kook­books-typ­isch, aber ich erkenne nichts, was die Texte für mich inter­es­sant machte. Vielle­icht braucht’s nochmal eine Re-Lek­türe in ein paar Wochen — wer weiß, möglicher­weise sieht der Leseein­druck dann schon ganz anders aus …

Nette Momente hat das näm­lich schon — zum Beispiel im ersten Zyk­lus, „zer­beultes gelände“: Der Wald, der wie auf Dro­gen scheint. Über­haupt spie­len Zeichen (in) der Natur eine Rolle: das heißt nicht zufäl­lig „zer­beultes gelände“, geht es doch immer wieder um die Ein­wirkung und die Ein­griffe der Men­schen in die Natur bzw. den Wald. Aber dann lese ich eben auch vieles, was mir nur selt­sam und gewollt erscheint: wie gesagt, die Res­o­nanz fehlt bei mir (was dur­chaus an diesem spez­i­fis­chen Leser liegen kann): das sind nur lose gerei­hte gewollte Bilder für mich, nach den ersten Seit­en ist aber auch dieser Reiz weg.

wir lehnen an der gren­ze zum gewit­ter,
schüt­teln die köpfe.

unter unseren füßen
dehnt sich der steg. (11, zer­beultes gelände)

Christoph Bangert: War Porn. Hei­del­berg, Berlin: Kehrer 2014. 189 Seit­en.

bangert, war pornEin hartes, sehr hartes und grausames Buch. War Porn sam­melt Kriegs­fo­tografie aus Irak und Afghanistan vor allem, die in Zeitun­gen und Zeitschriften nicht gedruckt wird. Sie zeigt näm­lich vor allem die Opfer, die Reste, die von Men­schen manch­mal nur noch übrig bleiben, nach dem der Krieg über sie hin­weg gegan­gen ist. Aber das ist eben auch emi­nent wichtig, so etwas zu sehen, sich selb­st zuzu­muten — Krieg, Gewalt passiert ja nicht ein­fach, son­dern wird gemacht. Von Men­schen. Über­all und immer wieder. Daran muss man erin­nern: wie das aussieht — abseits der schick­en Kampf­jets oder der harm­los verniedlicht­en “Drohnen”. Klug ist das insofern, als Bangert sehr wohl um die „Nor­mal­ität“ sein­er Bilder weiß: Die sind — und das gilt eben lei­der auch für das dargestellte — keineswegs außergewöhn­lich. Ungewöhn­lich ist nur, dass sie gezeigt wer­den. Das — als Buch — zu loben, hat einen bit­teren Beigeschmack: Denn das ist zwar dur­chaus ein schönes Buch, schön­er wäre es aber, wenn es War Porn gar nicht gäbe.

What you see in this book is my per­son­al expe­ri­ence. And in a way it’s yours, too, because these things hap­pened in your life­time. You as a view­er are com­plic­it. (3)

außer­dem:

  • Peter Weiss, Ästhetik des Wider­stands — großar­tig und erschla­gend, fes­sel­nd und lang­weilend ohne Ende (je nach dem, wo man ger­ade ist — im 2. Buch hat­te ich ganz schöne Durch­hänger …)
  • Johann Beer (das “Tage­buch”, Jucun­di Jucundis­si­mi wun­der­liche Lebens-Beschrei­bung u.a.)
  • Chris­t­ian Reuter, Schmel­muff­skys wahrhafftige curiöse und sehr gefährliche Reisebeschrei­bung zu Wass­er und Lande
  • Joseph Roth, Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eich­meis­ters
  • Max Frisch, Tage­buch 1966–1971

Ins Netz gegangen (2.5.)

Ins Netz gegan­gen am 2.5.:

Ins Netz gegangen (18.2.)

Ins Netz gegan­gen am 18.2.:

  • Chris Board­man: “Hel­mets not even in top 10 of things that keep cycling safe” | road.cc — Chris Board­man berät die britis­che Regierung in Sachen Fahrrad­verkehr. Und er ver­tritt die Posi­tion: Helme brin­gen wenig. Die Dat­en leg­en näm­lich nahe, dass nicht so sehr Helme vor Ver­let­zun­gen schützen, son­dern vor allem Infra­struk­tur.
    Board­man “likened the cul­ture of hel­met use among keen cyclists to peo­ple wear­ing body armour because they have got used to being shot at.”
  • Fotografie: Krieg ist fotografisch nicht darstell­bar | Kul­tur — Berlin­er Zeitung — Ger­hard Paul ver­tritt im Inter­view die These, dass (mod­erne) Kriege fotografisch nicht abzu­bilden sind:

    …, dass der Krieg das Unmod­el­lier­bare schlechthin ist. Er ist viel zu kom­plex, um ihn durch Fotografie oder Film sicht­bar zu machen. Der mod­erne Krieg ist raum­greifend. Er ist mit fotografis­chen oder filmis­chen Mit­teln nicht darstell­bar.

    Aber da es natür­lich trotz­dem Bilder (und Filme) von Kriegen gibt, gilt immer­hin:

    Jed­er Krieg hat seine eigene ästhetis­che Ken­nung und seine eige­nen Bilder.

  • kul­tur & geschlecht — Das online­jour­nal kul­tur & geschlecht ist ein trans­diszi­plinäres Forum für Nach­wuchs-wis­senschaftler/in­nen der Ruhr-Uni­ver­sität Bochum, die zu Geschlechter­fra­gen und ihren Kon­tex­ten forschen. Es wird am Lehrstuhl für Medi­enöf­fentlichkeit und Medi­en­ak­teure mit beson­der­er Berück­sich­ti­gung von Gen­der des Insti­tuts für Medi­en­wis­senschaft der Ruhr-Uni­ver­sität Bochum von Astrid Deu­ber-Mankowsky und Anja Michaelsen her­aus­gegeben, gefördert von der Fakultät für Philolo­gie und dem Rek­torat der RUB.

    Ziel ist, Pro­jek­te, umfassendere Hausar­beit­en, Bach­e­lor- und Mas­ter­ar­beit­en, Tagun­gen und Work­shops, mit inno­v­a­tiv­en Ansätzen und Fragestel­lun­gen der Geschlechter­forschung ein­er größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der Schw­er­punkt liegt auf aktuellen kul­tur-wis­senschaftlichen Gen­der Stud­ies. Dabei ist uns beson­ders wichtig, über ‚klas­sis­che’ The­men und Zugänge hin­aus­ge­hend Bezüge herzustellen. Dadurch hof­fen wir, rela­tionale Beziehun­gen sicht­bar zu machen, und um eine Per­spek­tive, die den Gen­der Stud­ies von Beginn an eigen ist: dass Geschlech­ter­dif­ferenz nicht als isoliertes Phänomen zu begreifen ist, son­dern nur durch umfassendes, trans­diszi­plinäres Befra­gen kom­plex­er kul­tureller Prozesse.

  • Sin­gen auf dem Rad­weg « Velophil — huch:

    An drei Stellen in Ams­ter­damer Parks hängte sie Schilder mit der Auf­schrift “Zang­fi­etspad” auf, was so viel heißt wie Gesangsrad­weg. Zudem war auf dem Schild ein sin­gen­der Rad­fahrer abge­bildet, und unter ihm stand die Auf­forderung: Hier kön­nen Sie offiziell auf dem Rad sin­gen.

  • Georg Diez über Homo­pho­bie — SPIEGEL ONLINE — Georg Diez in sein­er Spiegel-Kolumne:

    Man kann die Räder ja kaum noch zählen, die da alle zurückge­dreht wer­den sollen, mit solch biol­o­gis­tis­chem, fun­da­men­tal­is­tis­chem, bedrück­en­dem Unsinn — und das Trüb­sin­nig­ste daran ist, dass das alles im halb­sei­de­nen Gewand eines Kon­ser­vatismus geschieht, der seine eigene Über­lebtheit mit der Vertei­di­gung von ange­blich christlichen Werten cam­ou­fliert.

Netzfunde der letzten Tage (1.5.–6.5.)

Meine Net­z­funde für die Zeit vom 1.5. zum 6.5.:

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