Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: drama

spinnennetz in der sonne

Ins Netz gegangen (29.6.)

Ins Netz gegan­gen am 29.6.:

  • Nachruf: Botschaf­terin der Com­mu­ni­ty | NZZ → die ziem­lich großar­tige pianis­tein ger­ri allen ist gestor­ben.
  • Mit dem Schreck­lich­sten ist zu rech­nen | FR → arno wid­mann preist ror wolf

    Ror Wolf, das hat sich längst herumge­sprochen, ist ein­er der bedeu­tend­sten leben­den deutschen Autoren. Er ist einzi­gar­tig. Kein­er schreibt wie er, kein­er erzählt wie er. […] Er ist der Neil Arm­strong unser­er Text­träume.

  • 85. Geburt­stag des Schrift­stellers Ror Wolf: Das sind die Worte, das ist die Lage | taz → tim cas­par boehme grat­uliert ror wolf zum 85. geburt­stag — und wirbt für seine lyrik

    Für ihn lässt sich schlecht wer­ben. Die Begeis­terung, die Freude an Ror Wolfs Worten kann man eigentlich nur weit­ergeben wie einen Staffel­stab. Es muss schon jemand bere­it­ste­hen, der ihn nehmen will.

  • Dra­ma, Baby! | SZ → moritz rinke über das (aktuelle) dra­ma (auf/in dem the­ater …)

    Nein, es gibt beim The­ater­pub­likum wie bei den Schaus­piel­ern in Wahrheit eine große Sehn­sucht nach Stück­en, nach Geschicht­en, nach Leben und Repräsen­tanz und Darstel­lung. Nach Schaus­piel­ern als Men­schen­darsteller. Ja, Men­schen­darsteller! […] Aber die Repräsen­tanz im Dra­ma und im The­ater ist eine andere als in der bilden­den Kun­st. Wir schauen nicht auf einen leblosen Gegen­stand, der irgen­det­was abbildet, son­dern auf Men­schen, die das Vornotierte ver­wan­deln. Wir sehen im Dra­ma zuerst diejeni­gen, die es real­isieren und erst danach das, was es zeigen und erzählen kön­nte.

schiller, ach schiller

warum hast du nur so lange dra­men geschrieben? aber da muss man ja erst ein­mal drauf kom­men: schillers “räu­ber” am stück und voll­ständig, von der “unter­drück­ten vorrede” bis zum “dem mann kann geholfen wer­den” sich gegen­seit­ig vor­lesen. daniel hat­te die idee und hat heute dazu neun leute in seinem wohnz­im­mer ver­sam­melt — und vorzüglich bewirtet. um die schnö­den leib­lichen begier­den braucht­en wir uns also nicht küm­mern, son­dern kon­nten uns ganz dem heili­gen text von schillers ersten dra­ma zuwen­den. die idee, das ein­fach mal laut und mit verteil­ten rollen zu lesen, ist ja schon ein wenig spleenig — und natür­lich typ­isch für daniel… beson­ders schön fand ich ja auch die idee der aus­lo­sung der rollen, und zwar für jede szene neu: so kam es gar nicht erst zu iden­ti­fika­tio­nen, der abstand zum text blieb immer gewahrt und ermöglichte ihm ger­ade dadurch eine beson­dere eigen­ständigkeit. denn eigentlich ist es nur eine schwund­form sein­er eigentlich gestalt, der auf­führung auf der bühne. dafür aber voll­ständig, um kein wort gekürzt — und auch entsprechend lang. mit eini­gen kleinen pausen haben wir immer­hin so etwa sechs stun­den gebraucht — das macht im the­ater ja kaum noch ein pub­likum heute mit. über­haupt ist es inter­es­sant und mir hier wieder ein­mal sehr deut­lich gewor­den, wie sehr sich das zeit­ge­fühl um 1800 von dem heuti­gen unter­schieden haben muss. inzwis­chen sind ja auch viele the­ater dem dik­tat des kinos und sein­er neun­zig­minüti­gen stan­dard­länge für jedes the­ma gefol­gt und fordern die aus­dauer des pub­likums, sich über mehrere stun­den zu konzen­tri­eren und sich so ganz und gar ein­er erfahrung eines kunst­werkes, und zwar nur eines einzi­gen, nicht eines ganzen reigens ver­schieden­er, hinzugeben. das stück selb­st enthüllt, wenn man es so stur und unver­drossen liest, dur­chaus einige unge­wollte komik. vor allem dann näm­lich, wenn das hier manch­mal noch etwas über­schüs­sige, noch nicht so fein (wie es schiller später ver­stand) aus­ge­formte pathos der rede mit dem zwang des vom-blatt-lesens kol­li­diert, wenn die hohen worte nur eine beiläu­fige stimm­liche verkör­pe­rung efahren — dann offen­bart sich doch einiges an witz und humor. über­haupt hat mich erstaunt, wie frisch und lebendig der text allein durch seine sprach­liche mate­ri­al­i­sa­tion noch heute, immer­hin mehr als zwei­hun­dert jahre nach sein­er nieder­schrift, sein kann. gut, im fün­ften akt wurde es dann ab und an etwas hol­prig, die konzen­tra­tion ließ am trüben, ver­reg­neten novem­ber­nach­mit­tag spür­bar nach — da kon­nte auch der prompt servierte kaf­fee nicht mehr viel helfen. aber trotz­dem: das ist eine angehme erfahrung gewe­sen. umso mehr, als ich zunächst dur­chaus skep­tisch (wenn auch sofort wil­lens, das wag­nis auszupro­bieren) war, was die real­isierung von daniels plan anging und vor allem zweifel hat­te, ob der und ger­ade dieser text so etwas über­haupt sin­nvoll zulässt. doch er lässt es nicht nur zu, es macht auch nicht nur spaß, son­dern fördert auch gute ein­drücke (vielle­icht nicht so tiefge­hend wie die ein­er wirk­lich guten insze­nierung), aber auf jeden fall bleibende ein­drücke. und jet­zt — wom­öglich machen wir das noch öfter, vielle­icht aber doch mit ten­den­ziell kürz­eren tex­ten.…

strauss und das musiktheater — ein weites, aber sehr verholztes und ausgelaugtes feld

sam­mel­bände zu besprechen ist meist keine beson­ders dankbare auf­gabe — das edi­tieren allerd­ings oft auch nicht. die regelmäßig über­große zahl der beiträge, ihre method­is­che und the­ma­tis­che vielfalt und oft auch noch ihre stark divergierende qual­ität machen ein ein­heitlich­es urteil fast unmöglich. das gilt auch für den band “richard strauss und das musik­the­ater”, der die vorträge der gle­ich­nami­gen inter­na­tionalen fachkon­ferenz in bochum 2001 ver­sam­melt. schon der titel zeigt ja an, wie umfassend das spek­trum sein wird. zwei dutzend beiträge unter­schiedlich­sten umfangs und erken­nt­nis­dichte füllen dann auch gut vier­hun­dert seit­en. und die her­aus­ge­berin julia lieb­sch­er betont auch aus­drück­lich, das richard strauss aus allen möglichen blick­winkeln betra­chtet wer­den soll, im vere­in mit the­ater- und filmwis­senschaft, mit der libret­to­forschung und der dra­maturgie. den angestrebten “method­ol­o­gis­chen plu­ral­is­mus” hebt sie zudem beson­ders her­vor.

ein zweit­er leitgedanke, der die meis­ten arbeit­en prägt, ist die überzeu­gung von der moder­nität und fortschrit­tlichkeit sowie der “uni­ver­sal­ität” des strauss’schen oeu­vre: “zweifel­los ist strauss als let­zter musik­er der europäis­chen muikgeschichte zu würdi­gen, der jene uni­ver­sal­ität der musikalis­chen kul­tur repräsen­tierte, die in den plu­ralen kun­st­strö­mungen und spezial­isierun­gen des 20. jahrhun­derts endgültig zer­brochen ist” heißt es in der ein­führung von lieb­sch­er. den anhal­tenden ruhm strauss’ auf diese fak­toren zurück­zuführen, hat sich ja in den let­zten jahren — gegen etwa adornos früh­es verdikt — zunehmend durchge­set­zt.

der erste teil des ban­des ist “musikalis­che dra­maturgie” über­schrieben und wid­met sich vor allem den ver­schiede­nen for­men der über­führung des (theater-)textes in musik­the­ater. und obwohl er damit auf eine lange forschungstra­di­tion auf­bauen kann, ist er doch ins­ge­samt der schwäch­ste teil des ban­des. die meis­ten auf­sätze kauen näm­lich bloß — teil­weise sehr minu­tiös — die entste­hungs­geschicht­en, die prozesse der zusam­me­nar­beit zwis­chen libret­tist und kom­pon­ist, also die trans­for­ma­tio­nen von the­ater in oper bzw. musik­the­ater, durch. beson­dere erken­nt­nisse erwach­sen daraus nicht oder zumin­d­est arg sel­ten. eine deut­liche aus­nahme ist allerd­ings jür­gen mae­hders gekon­nte studie zur “klang­far­benkom­po­si­tion und drama­tis­chen instru­men­ta­tion­skun­st in den opern von richard strauss”. diese grundle­gende arbeit, eine instru­men­ta­tion­s­analyse in der nach­folge von egon wellesz, macht sich die “inter­de­pen­denz von klang­farbe und orch­ester­satz” mit der dra­matur­gis­chen aktion zu ihrem the­ma. und genau in dieser schnittmenge beg­ibt er sich auf die suche nach der werk­in­ten­tion — eine müh­same auf­gabe. vor allem die ein­führung neuer instru­mente, die erweiterung und verdich­tung des appa­rates lassen mae­hder dann strauss als nach­fol­ger und fort­set­zer der bemühun­gen richard wag­n­ers erken­nen — ein nach­fol­ger, der allerd­ings weit über seinen vorgänger hin­aus­re­icht. das vor­drin­gen in und aus­loten von grenzbere­ichen orches­traler klang­far­ben wie dem ton­höhen­losen akko­rd und dem über­gang zum geräusch, dem umschwung des ver­schmelzungsklanges in die ver­schleierung beto­nen die fortschrit­tlichkeit des opernkom­pon­is­ten: “durch wech­sel­seit­ige dena­turierung der einzel­nen töne erzeugte der kom­pon­ist das erste »syn­thetis­che geräusch« der musikgeschichte, den gren­z­fall extremen instru­men­ta­torischen raf­fine­ments.” und mit der hil­fe ein­er detail­lierten situ­ierung der strauss’schen tech­niken in der orches­tra­tionstech­nik des fin de siè­cle kann mae­hder zu dem schluss kom­men, dass mit strauss der abschied von der epig­o­nalen nach­folge des musik­dra­mas aus der “ein­sicht in das inner­ste sein­er musikalis­chen sprache” vol­l­zo­gen wor­den sei.

der zweite teil, “insze­nierung — darstel­lung — gesang” vesam­melt einige über­legun­gen zur auf­führung­sprax­is. joachim herz als prak­tik­er propagiert den begriff der “werkgerechtigkeit” anstelle der für ihn unmöglichen “werk­treue” und legt anhand der “frau ohne schat­ten” die beweg­gründe sein­er insze­nierung dar. dabei kreist er in erster lin­ie um das prob­lem der ver­ständlichkeit — eine insze­nierung solle, so herz, sich darum bemühen, text, musik und vor allem die bühne, d.h. let­ztlich die ganze insze­nierung beson­ders zur “exp­lika­tion der fabel” zu nutzen — im falle sein­er “frau ohne schat­ten” wäre das für ihn ein “hohe­lied von der verän­der­barkeit des men­schen”.

peter-michael fis­ch­er liefert eine sehr grundle­gende und tech­nisch solide arbeit zu den “anforderun­gen an die pro­fes­sionelle sänger­stimme” und reflek­tiert dabei vor allem das prob­lem des “opern­mu­se­ums”: jede zeit­epoche hat nicht nur ein anderes stim­mide­al, son­dern auch andere stimmtech­nis­chen fähigkeit­en und möglichkeit­en, die es heute sowohl bei der beset­zung als auch bei der inter­pre­ta­tion entsprechend zu berück­sichti­gen gilt. im falle strauss sieht er das beson­dere in der etablierung eines neuen, aus dem natür­lichen sprach­duk­tus entwick­el­ten gesangsstil durch den kom­pon­is­ten, der den bel­can­to um neue anforderun­gen — bed­ingt durch die erweit­erte ver­to­nung von sprache — ergänzt. thomas see­dorf ver­voll­ständigt diese aus­führun­gen mit seinem beitrag “kom­pos­i­torische rol­lenkonzep­tion und sän­gerische real­isierung” im wesentlich details. see­dorf kann näm­lich anhand der vor­bere­itung der urauf­führun­gen zeigen, dass strauss, immer der the­ater­re­al­ität verpflichtet, “im prag­ma­tis­chen umgang mit dem eige­nen werk” zu großen konzes­sio­nen hin­sichtlich der details der stimm­führung bere­it war, um aus darstel­lerisch und musikalis­chen grün­den gewün­scht­en sän­gerin­nen die entsprechen­den par­tien zu ermöglichen und fol­gert daraus: “strauss hat auf seinem ursprünglichen ide­al nicht bestanden, son­dern andere inter­pre­ta­tio­nen zuge­lassen.” eine solche, näm­lich die ari­adne-insze­nierung von jos­si wiel­er und ser­gio mora­bito, nimmt sich robert braun­müller zum gegen­stand. er liefert eine aus­führliche auf­führungs­analyse und ver­gle­icht dabei die konkrete insze­nierung­sprax­is mit den vor­gaben von strauss — mit ernüchtern­dem ergeb­nis. “seit jahren erschöpfen sich die meis­ten insze­nierun­gen in der kon­tinuier­lichen fort­führung ein­er tra­di­tion.”

von dort aus ist der weg nicht weit zur unter­suchung der rezeption(sgeschichte): die im drit­ten teil ver­sam­melten beiträge beto­nen durch­weg die flex­i­bil­ität des kom­pon­is­ten hin­sichtlich der werk­treue — solange die “inten­tion” gewahrt blieb oder ihr damit gar gedi­ent wurde, war strauss zu kürzun­gen und umstel­lun­gen, in guten augen­blick­en sog­ar zur umar­beitung fähig.

während roswitha schlöt­ter­er-traimer bei ihrer unter­suchung der “muster­auf­führun­gen” unter clemens krauss in münchen immer­hin noch so etwas wie eine grund­ten­denz der insze­nieren­den inter­pre­ta­tion, näm­lich das “streben nach größt­möglich­er deut­lichkeit” find­et, beg­nügt sich gün­ther lesnig gle­ich mit ein­er reinen daten­samm­lung zu den salome-auf­führun­gen in wien, mai­land und new york. son­st glänzt der dritte, mit “rezep­tion” über­schriebene teil vor allem durch seine glan­zlosigkeit. hans-ulrich fuss kann in sein­er unter­suchung ver­schied­ner auf­nah­men der salome immer­hin zeigen, dass es bei strauss nicht immer sin­nvoll ist, möglichst exakt zu spie­len: bes­timmte tex­turen fordern die undeut­lichkeit als eigen­ständi­ges ästhetis­ches attrib­ut über­haupt erst her­aus. und mar­tin elste macht sich einige gedanken über den unter­schied ein­er oper als tonauf­nahme oder als the­ater: grund­ver­schiedene tem­pi-notwendigkeit­en für entsprechende dra­matur­gis­che effek­te fordert er etwa. vor allem aber: “das bloße hören ein­er oper kommt dem ein­tauchen in eine traum‑, in eine schein­welt gle­ich” — und kon­stantiert dann noch wenig über­raschend: “oper von schallplat­te wird primär als absolute musik gehört.” das verbindet er — ein wenig para­dox — mit der qua­si-natür­lichen bevorzu­gung der sprache, d.h. der gesangsstim­men bei tonauf­nah­men. er sieht dann darin auch eine nahezu ide­ale rezep­tion­sweise der oper — befre­it von allen neben­säch­lichkeit­en, als pur­er akustis­ch­er traum. das scheint mir aber dann doch ein arg­er fehlschluss, der viel zu stark von der per­sön­lichen fasz­i­na­tion des autors durch oper­nauf­nah­men aus­ge­ht — es gibt ja dur­chaus auch rezip­i­en­ten, die opern mehr oder weniger auss­chließlich in der kom­bi­na­tion aus akustis­chen und visuellen reizen genießen kön­nen.

anderes schließlich sam­melt sich unter der rubrik “triv­ia”: richard strauss’ leben und werke sind ja nicht ganz uner­forscht. da kann man sich also auch dur­chaus mal auf neben­schau­plätzen tum­meln und dort nach inter­es­san­tem mate­r­i­al suchen. der ertrag lässt freilich wiederum meist zu wün­schen übrig. und den­noch, schließlich ist strauss’ werk auch noch nicht wirk­lich umfassend und detail­liert unter­sucht — da böten sich dur­chaus noch möglichkeit­en für inter­es­sante analy­sen — die allerd­ings auch zeit­gemäße meth­o­d­en erforderten. aber damit hat, und das zeigt dieser band in sein­er gesamtheit eben auch, die musik­wis­senschaft nicht immer die glück­lich­ste hand: das meiste hier vesam­melte ist in dieser hin­sicht vor allem hochgr­a­dig unspek­takulär, unbe­darft bis unre­flek­tiert und arbeit­et mit alt­modis­ch­er, teil­weise auch ein­fach unzure­ichen­der methodik. dass etwa die musik strauss “an der lebendi­gen auf­führung ori­en­tiert” und “auf unmit­tel­bar sinnliche gegen­wart” aus­gerichtet ist (hans-ulrich fuss), wird zwar wieder­holt ange­merkt, schlägt sich in den analy­sen aber erstaunlich wenig nieder. ver­mut­lich ist genau das ein­er gründe, warum die erforschung der musik­the­ater­pro­duk­tion richard strauss’, wie sie dieser band präsen­tiert, oft so bieder und alt­back­en wirkt.

julia lieb­sch­er (hrsg.): richard strauss und das musik­the­ater. bericht über die inter­na­tionale fachkon­feren­ze bochum, 14. bis 17. novem­ber 2001. berlin: hen­schel 2005.

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