Augentrost — das ist mal ein Buchtitel! Dabei ist es gar keine Neuschöpfung, denn Constantijn Huygens schrieb seine Euphrasia schon 1647. Der Titel ist übrigens schnell erklärt: Der Augentrost (Euphrasia officinalis) ist eine Wiesenpflanze, seinen Namen hat er aufgrund seiner angenommenen Heilwirkung. Das muss uns aber nicht weiter beschäftigen, denn hier geht es ja um Literatur. Um ein Trostgedicht, das aus eher privatem Anlass entstand (und zunächst auch noch nicht über 1000 Verse umfasste): Huygens, der selbst (manchmal) eine Brille trug, schrieb es als Trost für eine Freundin (die im Text als “Parthenine” auftaucht) und offenbar den Verlust eines Auges zu beklagen hatte. Aber, wie das Nachwort wiederum ganz richtig bemerkt, es ist mehr als ein Trostgedicht (ich würde sogar sagen: Es ist gar kein Trostgedicht mehr …), es ist ein richtiger Narrenspiegel, der die ganze Gesellschaft — die Dichter übrigens ausdrücklich eingeschlossen — aufspießt.
Huygens, verrät mir das Nachwort des Übersetzers Ard Posthuma, ist “ein Klassiker der niederländischen Literatur” (und auch ein recht produktiver Komponist, neben seinen zahlreichen anderen Tätigkeiten und Berufen), in Deutschland aber wohl eher unbekannt. “Huygens’ Sprachvirtuosität war grenzenlos”. Und das merkt man. Wobei ich das gleich wieder einschränken muss: Denn ich kenne nur die Übersetzung. Die ist aber sehr pfiffig. Inwieweit Posthuma damit der Sprache und dem Text Huygens’ gerecht wird, entzieht sich meiner Beurteilung. Als deutscher Text, der 2016 erschien, ist er aber auf jeden Fall lesenswert. Denn Posthuma liefert einen Text, der nicht nur erstaunlich flüssig zu lesen ist, sondern sich — und das macht das Lesevergnügen deutlich größer — genau an das metrische Vorbild des Originals, die sechshebigen Jamben mit wechselnden Kadenzen und den Paarreim hält. Manchmal wird das sogar richtiggehend salopp und fast flapsig (auch der “Lahmarsch” hat einen Auftritt …).
Nun ist aber immer noch unklar, was dieser Augentrost denn nun eigentlich ist. Kurz gesagt: Ein Langgedicht in 1002 Versen (Alexandrinern) über die Blindheit oder vielleicht besser: über die vielfältigen Formen, in denen Menschen blind sein können. Das organisiert Huygens nach einer kleinen Einführung als einen Katalog von Menschengruppen, die er als blind kategorisiert. Meistens sind sind sie es nicht in wörtlicher Hinsicht, sondern in übertragener, weil sie das Eigentliche des Lebens — und des Glaubens, des christlichen Gottes (da bleibt Huygens ganz und gar ein Kind seiner Zeit) — nicht sehen, d.h. nicht erkennen, sondern gierig, geizig, hastig, müßiggängerisch sind. So haben sie alle einen Auftritt, die Gesunden und Kranken, die Gelehrten und die Eifersüchtigen, die jungen Leute, die Jäger, die Schnatterer, der ganze Hof — man merkt, das ist wirklich eine Art soziologisches Gesellschaftspanorama, das Huygens hier entwirft. Und natürlich sind, darum geht es ja schließlich, alle blind, ihr Sehen der Welt, ihre Sichtweise auf Menschen, Handlungen und Dinge ist eingeschränkt — meistens, weil sie das große Ganze des christlichen Heilsplanes nicht (er)kennen oder nicht im Sinn behalten. Auch das eigene Leid und das Leid der anderen und der Umgang mit dem Leid überhaupt spielen immer wieder eines besondere Rolle. Schließlich ist das insbesondere für Christen ein Punkt der Prüfung (eine Art privates Theodizee-Problem): Warum lässt Gott mich/die Menschen leiden?
Wer klagte da nicht gern, würd’s nachher besser gehn! / Wer aber brächte je des Himmels Lauf zum Stehn? Vers 49–50
Erstaunlich fand ich dabei oft den fast krassen Realismus der Beschreibungen, die er benutzt. Besonders deutlich wird das, wenn er die Liebeslyrik-Konventionen seiner Zeit mit der banalen (und im Vergleich zum Ideal hässlichen) Realität konfrontiert (Verse 360ff.). Und nebenbei findet man auch eine interessante Abwertung der (realistischen) Malerei (460ff.), weil sie doch immer bloß ein unvollkommenes, unfertiges, unvollständiges Abbild der Welt — dieser vollkommenen göttlichen Schöpfung — darstellt. Die Liste ließe sich noch weiter fortsetzen — so ziemlich jeder Leser, jede Leserin dürfte hier auf interessante Beobachtungen und Schilderungen stoßen.
Zum Augentrost gehört auch noch eine kurze Vorrede (im Original lateinisch), voll gestopft mit Topoi der Bescheidenheit. Das fängt schon mit einer Warnung — dieser Text sei nichts für Leser, die die Größe antiker Autoren zu schätzen wissen — an und gipfelt in dem Hinweis: “Sollte das Hauptwerk missfallen / genieße das Beiwerk.” Und natürlich funktioniert es, man möchte dann erst recht weiterlesen. Der Rest der Paratexte (des “Beiwerks”) fehlt in dieser Edition der Übersetzung bei Reinecke & Voß leider zum größten Teil, so dass man Huygens’ Empfehlung gar nicht folgen könnte. Durch Anmerkungen des Übersetzers — die sich aber nur auf die Bibelstellenverweise/-anspielungen beziehen, die wiederum zum großen Teil recht klar & eindeutig sind, wird das wenigstens zum Teil wieder wett gemacht. Die Ausgabe ist sowieso eine, die ihr Licht unter den Scheffel stellt (um auch ein biblisches Bild zu bemühen): das Äußere ist eher zweckmäßig als schön, was etwa das Druckbild (und die recht häufigen Fehler) angeht. Dafür ist sie aber auch recht wohlfeil zu erwerben.
Nur eine Sorte noch: Autoren sind auch Blinde, / besonders die von dir geliebten Dichterfreunde. / Die sind so dicht wie blind; sie sehen nur den Reim / und gehen in der Kunst den Wörtern auf den Leim / … / Das ist Poeten-Art, denn die zu dichten pflegen / sehen kein schöneres Ei als was sie selber legen. / Verprügeln kannst du ihn, doch sagt er unentwegt, / dass kein Poet so schön wie er die Laute schlägt. Verse 913ff., 941ff.
Soll man den Augentrost also lesen? Wenn es nach Huygens selbst geht, gar nicht unbedingt. Er beginnt nämlich gleich in der Vorrede — also direkt mit den allerersten Versen — mit einer Warnung:
Lies mich bitte nicht, / wenn besseres Salz dir zusteht / und dir keine Speise schmeckt, / die fader ist als die der Alten. / Lies mich bitte nicht. Wozu deine Augen / (oder ein Auge nur) peinigen?
Aber wer lässt sich von so etwas denn schon abhalten? Die Lesezeit-Schätzung, die Huygens in seinen Text einflicht (Vers 137: “zum Lesen sind gut zwei, drei Stunden vorgesehen”), stimmt übrigens ziemlich genau: Mehr als zwei, drei Stunden benötigt man dafür nicht. Aber das sind dann doch zwei, drei sehr vergnügliche, unterhaltsame und auch belehrende Stunden.