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Schlagwort: angst

einsam (unsplash.com)

Angst

Es klingt viel zynis­ch­er, als es gemeint: Aber (inzwis­chen) habe ich mehr Angst vor den poli­tis­chen und gesellschaftlichen Diskus­sio­nen (und natür­lich den entsprechen­den Geset­zesän­derun­gen) nach Gewalt­tat­en als vor der Gewalt selb­st.

Sozusagen aus psy­chosozialer Hygiene verordne ich mir inzwis­chen regelmäßig beim Bekan­ntwer­den von gewalt­täti­gen Ereignis­sen eine gewisse Medi­en­ab­sti­nenz. Sobald klar und abse­hbar ist, dass es mich nicht unmit­tel­bar bet­rifft — weil ich zum Beispiel nicht in München bin und auch nie­mand, der mir nahe ste­ht, ger­ade dort weilt — mei­de ich den Blick auf Twit­ter, Red­dit, die Nachricht­en­seit­en etc. Denn dort wird es gefühlt immer schlim­mer und rit­u­al­isiert­er. Noch während sich ein Ereig­nis ent­fal­tet, noch während Men­schen ster­ben und die meis­ten ganz und gar keine genauen Infor­ma­tio­nen haben (und ja auch nicht unmit­tel­bar und sofort benöti­gen), tauchen die Leute auf, die es schon immer gewusst haben. Und dann auch die Leute, die schon immer wussten, dass jet­zt die Leute, dies es schon immer gewusst haben, auf­tauchen. Und so weit­er — das spi­ral­isiert sich ganz schnell und ganz unan­genehm.

Und natür­lich gibt es immer wieder die gle­ichen Reflexe: Noch mehr Polizei, noch mehr Überwachung, noch mehr Geheim­di­enst, jet­zt neu: noch mehr bewaffnete Stre­itkräfte im Inneren (also zwangsläu­fig, denn dafür sind sie ja da: Noch mehr Tote.). Und die Metadiskus­sion läuft auch gle­ich noch mit, ohne wahrnehm­bare Zeitverzögerung. Das ganze wirkt auch mich inzwis­chen regel­recht sur­re­al, weil es von den tat­säch­lichen Ereignis­sen (und vor allem: dem Wis­sen darüber, das in großen Teilen der Diskus­sion zwangsläu­fig ein Nichtwissen ist) so abgekop­pelt und beina­he unberührt erscheint. Da helfen dann auch die rit­u­al­isierten Mitlei­ds­bekun­dun­gen nicht mehr. Die wer­den ja auch immer mon­u­men­taler — jet­zt leuchtet der Eif­fel­turm in den Far­ben der deutschen Flagge (nach­dem Hol­lande sich am Woch­enende ja mit seinen abseit­i­gen Speku­la­tio­nen nicht ger­ade mit Ruhm bek­leck­erte …). Aber ist das, was in München passierte, wirk­lich unbe­d­ingt eine nationale Tragödie? Wie viele Men­schen müssen gewalt­sam ster­ben, damit die Beleuch­tung eingeschal­tet wird? Und wo müssen sie ster­ben? Natür­lich ist es trau­rig und aus der Ferne kaum fass­bar, wie viel Leid ein Men­sch so schnell anricht­en kann. Aber stim­men unsere Mitlei­ds­maßstäbe? Sind die acht bis zehn Men­schen, die Tag für Tag durch den motorisierten Verkehr in Deutsch­land umge­bracht wer­den, weniger Mitleid wert? Von den Toten in anderen Län­dern, anderen Kriegen, anderen Kon­ti­nen­ten gar nicht zu reden (natür­lich spielt Nähe immer eine Rolle). Mir geht es nicht darum, die Toten gegeneinan­der aufzurech­nen. Mir geht es darum, Ver­nun­ft zu wal­ten lassen — Ver­nun­ft und ratio­nale Abwä­gung bei den Gefahren, denen wir aus­ge­set­zt sind. Und natür­lich auch bei den Maß­nah­men, die zur Gefahren­ab­wehr (wie es so schön tech­nokratisch heißt) notwendig oder möglicher­weise zu ergreifen sind.

Irgend­wie gehen Erre­gungs- Mitlei­ds- und Ver­nun­ft­maßstäbe Stück für Stück, Schritt für Schritt, Inter­view für Inter­view immer mehr ver­loren (und das ist beileibe nicht nur ein Prob­lem der AfD oder ander­er rechts(radikaler) Parteien, son­dern nahezu des gesamten poli­tis­chen Sys­tems) und verän­dern so unsere Gesellschaft mehr und nach­haltiger, als Gewalt und Gewalt­täter — seien sie extrem­istis­che Ter­ror­is­ten oder psy­chisch Kranke — es bish­er ver­mö­gen.

Und es bleibt die Angst, dass diese Gesellschaft vor lauter Hys­terie und Sicher­heitswahn bald nicht mehr meine ist. Und die Rat­losigkeit, was dage­gen zu tun wäre …

Nach­trag: Der kluge Georg Seeßlen hat bei der “Zeit” einige inter­es­sante Über­legun­gen zu Gewalt, Medi­en und Gesellschaft aufgeschrieben. Er schließt mit dem aufk­lärerischen Appell:

Es ist nötig, was an aufk­lärerisch­er Energie noch vorhan­den ist, zu bün­deln, um eine offene, an keine Ver­drän­gungs­ge­bote oder soziale Tak­tiken gebun­dene The­o­rie der Sub­jek­te des Ter­rors zu entwick­eln, die nicht anders kann, als auch eine The­o­rie der Gesellschaft und ihrer Ero­sion und eine The­o­rie der Medi­en und ihrer Ent­fes­selung zu enthal­ten. Nie­mand kann eine Katas­tro­phe ver­hin­dern, denn es gibt kein Sys­tem, das immun gegen Angriffe und immun gegen innere Wider­sprüche sei. Eines der großen Ver­sprechen der Demokratie allerd­ings war es, dass es nicht nur ein anpas­sungs­fähiges, son­dern auch ein ler­nen­des Sys­tem sei, eines, das immer mehr Bewusst­sein von sich und der Welt hat, kurzum, dass es zugle­ich Garant von Frei­heit­en und Instru­ment der Aufk­lärung sei.

Zum Pro­jekt der Aufk­lärung zurück zu find­en ist eine schwere Auf­gabe, umso mehr, als auch sie sich in ein­er para­dox­en Falle befind­et: Jed­er Ter­ro­ran­schlag und jed­er Amok­lauf ist auch ein Anschlag auf die Möglichkeit von Aufk­lärung. Jed­er Ter­ro­ran­schlag und jed­er Amok­lauf ist auch eine Forderung, Aufk­lärung zu ver­wirk­lichen. Insofern wären wir schon einen Schritt weit­er, wenn wir nicht länger so geban­nt der Dra­maturgie von Hys­ter­isierung und Vergessen fol­gten.

Wir kön­nen nicht ver­hin­dern, dass soziale, poli­tis­che und men­schliche Katas­tro­phen geschehen. Aber wir kön­nen ver­hin­dern, dass sie zum unaufgek­lärten, unver­stande­nen, medi­al­isierten, ide­ol­o­gisch manip­ulierten, poli­tisch und ökonomisch miss­braucht­en Nor­mal­fall wer­den.

Und auch Mario Six­tus weist auf einen inter­es­san­ten Punkt hin, der eventuell einen Ausweg aus dem immer­gle­ichen Reflex böte:

Wenn man Tat­en wie die in München ver­hin­dern will, muss man den müh­samen Per­spek­tivwech­sel nach innen vornehmen, in die eigene Gesellschaft hinein­blick­en, auf die eige­nen Leute, auf die eige­nen Werte.

Ins Netz gegangen (26.3.)

Ins Netz gegan­gen am 26.3.:

  • Fahrrad­boom und Fahrradin­dus­trie — Vom Draht­e­sel zum “Bike” — ein sehr schön­er, langer, vielfältiger, bre­it­er und inten­siv­er text von gün­ter brey­er zur sit­u­a­tion des fahrrads als pro­dukt in deutsch­land: her­stel­lung, ver­trieb, verkauf in deutsch­land, europa und asien — mit allem, was (ökonomisch) dazu gehört …
  • Geset­zge­bung: Unsinn im Strafge­set­zbuch | ZEIT ONLINE — thomas fis­ch­er legt in sein­er zeit-kolumne unter dem titel “Unsinn im Strafge­set­zbuch” sehr aus­führlich dar, warum es im deutschen recht ein­fach schlechte, d.h. handw­erk­lich verp­fuschte, para­graphen gibt und fordert, in dieser hin­sicht auch mal aufzuräu­men

    Ein Beispiel für miss­glück­te Geset­zge­bung und insti­tu­tion­al­isierte Ver­ant­wor­tungslosigkeit – und ein Aufruf zur Reparatur

  • Anti­semitismus: Was heißt “N.soz”? | ZEIT ONLINE — adam soboczyn­s­ki über den ver­dacht (der sich bis­lang nicht erhärten oder wider­legen lässt), dass die hei­deg­ger-aus­gabe möglicher­weise philol­o­gisch nicht sauber erstellt wurde (was insofern prob­lema­tisch ist, als der zugang zum nach­lass nur eingeschränkt möglich ist und die hei­deg­ger-aus­gabe eh’ schon keine kri­tis­che ist — was bei einem philosophen dieses ranges & ein­flusses eigentlich notwendig wäre)

    Hätte der mas­sive Anti­semitismus des Philosophen Mar­tin Hei­deg­ger früher belegt wer­den kön­nen? Das fragt sich mit­tler­weile auch der Ver­lag der umstrit­te­nen Gesam­taus­gabe und ver­langt jet­zt den Her­aus­ge­bern Rechen­schaft ab.

  • Musik — Der vol­lkommene Musik­er — Süddeutsche.de — rein­hard brem­beck würdigt zum 90. geburt­stag pierre boulez und seine eigentlich irren leis­tun­gen:

    Boulez, der an diesem Don­ner­stag seinen 90.Geburtstag feiert, ist der vol­lkommene Musik­er. Er ist Kom­pon­ist, Diri­gent, Forsch­er, Intellek­tueller, Pro­voka­teur, Päd­a­goge, Ensem­ble- und Insti­tutsgrün­der in Per­son­alu­nion. Und das alles nicht nur im Neben‑, son­dern im Haupt­beruf. Damit ste­ht er heute zwar allein da, er knüpft aber an ein bis in die Roman­tik dur­chaus gängiges Berufs­bild an, das Musik­er nur gel­ten lässt, wenn sie möglichst all diese Tätigkeit­en gle­icher­weise ausüben.
    Boulez ist von Anfang an ein Prak­tik­er gewe­sen. Aber ein­er, der sich nie seine Träume durch die Ein­schränkun­gen und faulen Kom­pro­misse der Prax­is kor­rumpieren ließ.

  • Pierre Boulez: “Sprengt die Opern­häuser!” | ZEIT ONLINE — eine geburt­stagswürdi­gung für pierre boulez von felix schmidt, die sich stel­len­weise schon fast wie ein nachruf liest …

    Boulez hat dem Musik­be­trieb einen gewalti­gen Stoß ver­set­zt und ihm viel von sein­er Gedanken­leere aus­getrieben. Die Langzeit­fol­gen sind unüber­hör­bar.

  • Ille­gale Down­loads machen dem E‑Book-Markt Sor­gen — ein etwas selt­samer artikel von clemens voigt zur pira­terie bei ebooks: eigentlich will er gerne etwas panik ver­bre­it­en (und pira­terie mit dem dieb­stahl physich­er gegen­stände gle­ich­set­zen) und lässt deshalb aus­führlich die abmah­nan­wälte wal­dorf-from­mer zu wort kom­men und anbi­eter von pira­terie-bekämp­fungs-soft­ware. ander­er­seits wollen die ver­leger diese panikmache wohl nicht so ganz mit­machen … — deswe­gen bleibt das etwas ein­seit­ig …
  • Selb­st­bild ein­er Uni­ver­sität « erlebt — françois bry über das prob­lema­tis­che ver­ständ­nis von wis­senschaft & uni­ver­sität, dass “kinderu­nis” ver­mit­teln kön­nen:

    Die Fam­i­lien­vor­lesung war unter­halt­sam. Lehrre­ich war sie insofern, dass sie ein paar Vorstel­lun­gen auf den Punkt brachte:
    Ein Pro­fes­sor ist ein Star.
    Eine Vor­lesung ist eine ein­drucksvolle Schau.
    Ver­ste­hen, worum es bei ein­er Vor­lesung geht, tut man wenn über­haupt außer­halb des Hör­saals.

  • Fehlende Net­zneu­tral­ität für Telekom-Kun­den spür­bar | daniel-weber.eu — daniel weber erk­lärt, wie die telekom den fehlen­den zwang zur net­zneu­tral­ität aus­nutzt und warum das auch für ganz “nor­male” kun­den schlecht ist
  • Autoren nach der Buchmesse — Sibylle-Berg-Kolumne — SPIEGEL ONLINE — sibylle berg ist gemein — zu ihre kol­le­gen schrif­stellern und den vertretern des lit­er­ar­jour­nal­is­mus:

    Auf allen Kanälen wur­den Schrift­steller wieder über ihr Schrift­steller­tum befragt, und sie gaben mit schiefgelegtem Kopf Auskun­ft. Warum Leute, die schreiben, auch noch reden müssen, ist unklar. Aber sie tun es. Es wird erwartet. Da muss irgen­dein Anspruch befriedigt wer­den, von wem auch immer. Da muss es wabern, tief und kapriz­iös sein. Das muss sein, denn das Schreiben ist so ein unge­mein tiefer Beruf, dass jed­er gerne ein wenig von der lei­den­den tiefen Tiefe spüren mag.

    (das beste kann ich nicht zitieren, das muss man selb­st lesen …)

  • Rus­s­land: Was Putin treibt | ZEIT ONLINE — gerd koe­nen als (zeit-)historiker über ukraine, rus­s­land und was putin so umtreibt … (und die kom­mentare explodieren …)
  • Woh­nungs­bau: Es ist zum Klotzen | ZEIT ONLINE — han­no rauter­berg rantet über den ein­fall­slosen woh­nungs­bau in ham­burg — gilt aber so ähn­lich auch für andere städte …

    Häuser wer­den streng rasiert geliefert, oben alles ab. Das alte Spiel mit Trapez- und Trep­pengiebeln, mit Walm‑, Sat­tel- oder Mansard­däch­ern, ein Spiel, das Häusern etwas Gemütvolles ver­lei­ht, auch etwas Behü­ten­des, scheint die meis­ten Architek­ten kaum zu inter­essieren. Es regiert die kalte Logik des Funk­tion­al­is­mus, sie macht aus dem Wohnen eine Ware. Und da kann ma…

  • Ukraine: Frei­heit gibt es nicht umson­st | ZEIT ONLINE — geigerin Lisa Bati­ashvili zur sit­u­a­tion in der ukraine und europa sowie seine werte
  • Son­nen­fin­ster­n­is: Ein Main­stream der Angst­mache — Feuil­leton — FAZ — Main­stream der Angst­mache
  • Amerikanis­ch­er Drohnenkrieg — Was die Regierung unter Aufk­lärung ver­ste­ht — Süddeutsche.de — die süd­deutsche über die unfähigkeit der bun­desregierung, sich ans völk­er­recht zu hal­ten (wollen), hier beim drohnenkrieg der usa:

    Jenen “Frage­bo­gen”, auf dessen Beant­wor­tung die Bun­desregierung ange­blich so gedrun­gen hat, erachteten die Amerikan­er jeden­falls “als beant­wortet”, teilte das Auswär­tige Amt jüngst auf Fra­gen der Linkspartei-Abge­ord­neten Andrej Hunko und Niema Movas­sat mit. Man sehe die Angele­gen­heit damit als “gek­lärt” an, schrieb eine Staatssekretärin. Die Fra­gen bleiben also weit­ge­hend unbeant­wortet. Und die Bun­desregierung nimmt das ein­fach so hin. “Das Auswär­tige Amt will keine Aufk­lärung, inwiefern US-Stan­dorte in Deutsch­land am tödlichen Drohnenkrieg der US-Armee in Afri­ka und Asien beteiligt sind”, kri­tisieren die Par­la­men­tari­er Hunko und Movas­sat. “Das ist nicht nur undemokratisch, son­dern es erfüllt den Tatbe­stand der Strafvere­it­elung.”

  • Deutsch­land: Am Arsch der Welt | ZEIT ONLINE — david hugen­dick haut den deutschen das abend­land um die ohren

    Das Abend­land ist ein deutsch­er Son­der­weg von Kul­tur, Geist, Stolz, Volk und Wein­er­lichkeit. Warum dieses Geis­ter­re­ich der Gefüh­le nicht totzukriegen ist. Eine Polemik

“Wer Angst hat, irrt.”

(Rainald Goetz, Klage, 352)

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