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Schlagwort: frankfurt

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Ins Netz gegangen (13.4.)

Ins Netz gegan­gen am 13.4.:

  • Mär­chen­stun­de am Main | NZZ → jür­gen tietz spart nicht mit deut­li­chen Wor­ten über den Unsinn einer (schein­ba­ren) Rekon­struk­ti­on einer his­to­ri­schen Alt­stadt

    Dort, wo nach den Bom­ben­an­grif­fen des Zwei­ten Welt­kriegs nur noch rau­chen­de Trüm­mer lagen, mani­fes­tiert sich heu­te ein gebau­ter Auf­schrei nach ver­lo­re­ner Hei­me­lig­keit und eins­ti­ger städ­ti­scher Bedeu­tung. Dafür muss­te das zu Beginn der sieb­zi­ger Jah­re gebau­te Tech­ni­sche Rat­haus ver­schwin­den, nach nur 35 Jah­ren. So kurz­at­mig ist die hes­si­sche Geschich­te. Was aber ist der Sinn die­ser gebau­ten Frank­fur­ter Mär­chen­welt? Leis­tet sie einen Bei­trag, um die drän­gen­den Fra­gen der Zukunft der Städ­te zu lösen? Wohl kaum, denn auf dem his­to­ri­sie­ren­den neu­en Herz­stück Frank­furts ent­steht gera­de ein­mal die beschei­de­ne Zahl von sech­zig Woh­nun­gen – mit einer Flä­che von ins­ge­samt 7000 Qua­drat­me­tern. Sonst gibt sich das Quar­tier als archi­tek­to­nisch ver­dich­te­te See­len­mas­sa­ge, ein Gegen­mo­dell zu den Hoch­häu­sern der glo­ba­li­sier­ten Stadt.

    Der gros­se Irr­tum einer der­art fik­tio­na­len Stadt­ar­chi­tek­tur ist es, dass sie wie eine gebau­te Zeit­ma­schi­ne wirkt. Doch sie ist nur ein Abzieh­bild einer deut­schen See­len­land­schaft, in der die Ver­wun­dun­gen der Kriegs- und Nach­kriegs­zeit bis in die nach-nach­fol­gen­de Gene­ra­ti­on andau­ern. So ent­steht eine wei­ner­li­che Mischung aus Ver­lust und Ver­drän­gung, aus roman­ti­scher Sehn­sucht und einer Unfä­hig­keit zu trau­ern.

  • Wer­ben mit Goog­le: Ist die taz Schmud­del­kram? | taz-haus­blog → die taz nut goo­gles adsen­se und berich­tet hier von schwie­rig­kei­ten bei der „richtlinien“-einhaltung und kom­mu­ni­ka­ti­on mit dem unter­neh­men
  • Wol­len alle Autoren sein? Alles schreibt, kei­ner liest | NZZ → jochen hörisch über das sich ver­än­dern­de ver­ständ­nis von schrei­ben und lesen, den zusam­men­hang von sein und schrei­ben, welt und text

    Alles schreibt, aber kaum einer liest mehr so gründ­lich, kon­zen­triert und hin­ge­bungs­voll wie der Leser in Ril­kes gleich­na­mi­gem Gedicht oder der Buch-Enthu­si­ast in Micha­el Endes «Unend­li­cher Geschich­te». … Es ist offen­bar, dass Gott nicht im Sin­ne logi­scher Evi­denz offen­bar ist, dass auch er ein schwä­cheln­der Autor ist, der die Kluft, die die Welt von den Wor­ten trennt, nicht ein für alle Mal über­win­den kann. … Das Wort wird Fleisch, Bits wer­den Ato­me, die Idee der Trans­sub­stan­tia­ti­on ist heu­te mehr als ein fas­zi­nie­ren­des reli­giö­ses Phan­tas­ma, näm­lich ein Schreib­pro­gramm für ambi­tio­nier­te Inge­nieu­re. Wer die­se Wand­lung von Lese- in Schreib­pro­gram­me im Blick hat, wird sowohl das Come­back mili­tan­ter Reli­gio­si­tät als auch die Infla­ti­on der Schreiblust heu­te mit ande­ren Augen sehen. … Man ver­gisst ger­ne, dass die ver­pflich­ten­de Alpha­be­ti­sie­rung ein kul­tu­rel­ler Son­der­weg einer selt­sa­men Welt­ecke in einer exzen­tri­schen Epo­che ist bzw. war. Heu­te kön­nen, wenn sie denn Zugriff auf Zau­ber­wer­ke der Inge­nieurs- und Infor­ma­ti­ker­kunst haben, alle lesen und schrei­ben – para­do­xer­wei­se eben auch die­je­ni­gen, die nicht lesen und schrei­ben kön­nen. Gemein­sam ist ihnen der Wunsch, nicht nur ein Wort mit­zu­re­den, son­dern Autoren zu wer­den, die von der Pflicht dis­pen­siert sind, lesen zu müs­sen.

  • NS-Fil­me: Vor­be­halts­vor­be­hal­te| Frei­tag → dirk alt und frie­de­mann bey­er über die zuneh­mend unnö­ti­ge, aus der zeit gefal­le­ne „vorbehalts“-lösung, die ns-pro­pa­gan­da­fil­me (bzw. man­che davon) unter halb­ver­schluss hält

    Vor die­sem Hin­ter­grund mutet die hie­si­ge Kon­tro­ver­se um eine offi­zi­el­le Zugäng­lich­ma­chung der Vor­be­halts­fil­me kuri­os an, zumal sie nicht nur die längst unwi­der­ruf­li­che Ver­füg­bar­keit der Fil­me igno­riert, son­dern dar­über hin­aus von Dämo­ni­sie­rung und reflex­ar­ti­ger Betrof­fen­heit geprägt ist.

  • Index, A cele­bra­ti­on of the | TLS → ein lob der indi­ces und ihres klugheit/​ihres wis­sens, anläss­lich des sech­zig­jäh­ri­gen bestehens der „Socie­ty of Index­ers“
  • a href=„http://blogs.faz.net/pop-anthologie/2017/03/18/alte-mythen-in-honig-351/“>Genesis: „The Musi­cal Box“ | Pop-Antho­lo­gie → her­vor­ra­gen­de wür­di­gung des groß­ar­ti­gen „the musi­cal box“ (auf „nur­sery cryme“) von gene­sis in der pop-antho­lo­gie der faz:

    Dass die Kar­rie­ren von Coll­ins und Ruther­ford in Hits wie „Dance Into the Light“ oder „All I Need is a Mira­cle“ gip­fel­ten, die von einer erschüt­tern­den Belang­lo­sig­keit sind, ist das trau­ri­ge Ende die­ser Ent­wick­lung. „The Musi­cal Box“ aber darf nicht im Kurio­si­tä­ten­ka­bi­nett der Musik­ge­schich­te abge­legt wer­den. Es gehört zum Kanon der bes­ten bri­ti­schen Pop­mu­sik.

Ins Netz gegangen (7.12.)

Ins Netz gegan­gen am 7.12.:

  • Mehr­spra­chig­keit : Ein Kind, drei Spra­chen | ZEIT – mar­tin spie­wak hat für die „Zeit“ auf­ge­schrie­ben, wie kin­der mit mehr­spra­chig­keit umge­hen – näm­lich in der regel posi­tiv.
  • Dich­ter und Com­pu­ter im radi­ka­len Zwie­ge­spräch | FAZ.net – elke hei­ne­mann geht in der FAZ der fra­ge nach, wie digi­ta­li­sie­rung (die hier vor allem com­pu­te­ri­sie­rung meint) die lyrik ver­än­dert bzw. ver­än­dern kann/​könnte/​wird …

    Vie­le Lite­ra­tur­gat­tun­gen nähern sich vor­sich­tig den Maschi­nen an, nur die Lyrik hat Berüh­rungs­ängs­te. Wie digi­tal kann ein Gedicht sein?

  • Mar­le­ne Stre­eru­witz: Die Stun­de der Wahr­heit des Gel­des | derStandard.at – mar­le­ne stre­eru­witz über die auf­lö­sung der demo­kra­ti­schen gesell­schaft ins lachen, am bei­spiel der usa & donald trump: „Die Ent­wer­tung demo­kra­ti­schen Ver­han­delns in der Gesell­schaft erfolgt über die Ent­wer­tung von Min­der­hei­ten.“

    So wird das Prin­zip der Geschwis­ter­lich­keit aus der poli­ti­schen Kul­tur ent­fernt. Demo­kra­tie war geschwis­ter­lich gedacht. Ver­ant­wor­tung für­ein­an­der soll­te das Prin­zip sein. Die Über­nah­me von Pflich­ten und die gerech­te Ver­tei­lung der Rech­te waren vor­ge­se­hen. Das bedeu­te­te je neu­es Ver­han­deln der Auf­tei­lung der Rech­te und der Über­nah­me von Pflich­ten. Denn. Die Grund­rech­te der Per­son ach­tend kann es kei­ne end­gül­ti­ge Rege­lung die­ser Ver­tei­lung geben. Es muss stets neu ver­han­delt wer­den. Kei­ner und kei­ne soll über den ande­ren ste­hen. Und. Um das leben zu kön­nen, müs­sen alle dar­an Betei­lig­ten sich ihrer Grund­rech­te bewusst sein. Alle müs­sen den Wert der Per­son an den Grund­rech­ten mes­sen und dar­aus auf ihren eige­nen Wert und den der ande­ren schlie­ßen. Der Wert muss bewusst sein.
    […] Das Grund­recht der Per­son auf Wür­de ist im Lachen der ande­ren auf­ge­löst.

    Das ist dann ziem­lich unwie­der­bring­lich. Denn. Es bleibt der Ent­schei­dung der Lachens­be­stim­mer über­las­sen, wer wie ernst genom­men wird. Die Lachen­den sind nur noch Gefolg­schaft. Im Fall von Donald Trump geht es genau dar­um. Die demo­kra­ti­sche Ver­hand­lung soll durch Füh­rung ersetzt wer­den. Der Kapi­ta­list will aber nicht ins Patri­ar­chat zurück­keh­ren. Vater zu sein. Das hie­ße ja auch wie­der nur die Über­nah­me von Ver­ant­wor­tung. Der Post­ka­pi­ta­list Trump will die Welt ja nur für den Geld­fluss in sei­ne Tasche zurich­ten. Denn. In der Logik unse­rer ver­wirt­schaft­lich­ten Welt der frag­men­tier­ten Dienst­leis­tungs­wirt­schaft gibt es als mög­li­ches Ziel einer Poli­tik ohne­hin nur die Wei­ter­fül­lung der Taschen des einen Pro­zents der Alles­be­sit­zen­den. Es ist dar­in dann wie­der logisch, dass einer aus die­sem Besitz­stand her­aus die Rhe­to­rik der Schmä­hung der Ande­ren so authen­tisch lie­fern und sich so in den Besitz des Lachens der Mit­schmä­hen­den set­zen kann.

  • Ver­hü­tung – Anti­ba­by­pil­le – hübsch ris­kant | Süddeutsche.de – ein inter­es­san­ter text von wer­ner bar­tens, der auf­zeigt, wie man leu­te dazu bringt, völ­lig gegen jede logik medi­ka­men­te zu bevor­zu­gen, die unsi­che­rer sind als ande­re

    Unter jun­gen Frau­en nimmt der Markt­an­teil der Pil­len der 3. und 4. Gene­ra­ti­on trotz­dem ste­tig zu. Das ist eini­ger­ma­ßen rät­sel­haft, denn die Risi­ko­be­wer­tung der Euro­päi­schen Arz­nei­mit­tel­be­hör­de hat ein­deu­tig erge­ben, dass die Prä­pa­ra­te zu einem deut­lich höhe­ren Embo­lie- und Throm­bo­se­ri­si­ko füh­ren. Das Bun­des­in­sti­tut für Arz­nei­mit­tel und Medi­zin­pro­duk­te hat im Früh­jahr 2014 ent­schie­den, dass in immer mehr Bei­pack­zet­teln auf die erhöh­te Gefahr hin­ge­wie­sen wer­den muss. Sons­ti­ge Kon­se­quen­zen bis­her: kei­ne.

    die ärz­te – die das ja ver­schrei­ben müs­sen – bekom­men auch ihr fett weg …

  • Legen­dä­re Seleu­ki­den-Fes­tung Acra in Jeru­sa­lem ent­deckt -

    Die Wis­sen­schaf­ter ent­deck­ten kürz­lich bei Aus­gra­bun­gen unter dem frü­he­ren Giva­ti-Park­platz süd­lich des Tem­pel­ber­ges Über­res­te der legen­dä­ren Fes­tung Acra. Die Zita­del­le war vor etwa 2.150 Jah­ren unter dem Seleu­ki­den-König Antio­chus IV. Epi­pha­nes gebaut wor­den.

  • Städ­te­be­schimp­fun­gen – auch cool: tho­mas bern­hards städ­te­be­schimp­fun­gen, auf der kar­te ver­ord­net und mit zita­ten gar­niert …
  • Jan Böh­mer­mann : Ich hab Kul­tur­kri­tik | ZEIT ONLINE@davidhug in der Zeit über jan böh­mer­mann, sein „ich hab poli­zei“ und die kri­tik dar­an …

    Dabei ist Gangs­ter­rap inzwi­schen Main­stream, ähn­lich wie Peter Maf­fay oder Xavier Naidoo es schon lan­ge sind. Das tut viel­leicht weh, aber da müs­sen wir alle eben durch.

  • Über­wa­chung für mehr Sicher­heit? Ein fata­ler Trend – Lobo-Kolum­ne – SPIEGEL ONLINE – muss man immer wie­der emp­feh­len: sascha lobos spie­gel-kolum­ne …

    Die Evi­denz ist tot, es lebe das medi­al insze­nier­te Gefühl der Evi­denz.

  • Peter Kurz­eck – ein Getrie­be­ner der Spra­che | Frank­fur­ter Rund­schau – claus-jür­gen göp­fert berich­tet in der FR über peter kurz­eck, sein schrei­ben, sei­nen nach­lass und die arbeit des stroem­feld-ver­la­ges (und der lek­to­ren deub­le & loss), den in eine publi­ka­ti­ons­fä­hi­ge form zu brin­gen:

    Im Gespräch mit sei­nem Freund Rudi Deub­le erscheint Kurz­eck als ein Getrie­be­ner. „Zu Ruhe kam der nie!“ Sehr früh sei er stets auf­ge­stan­den in sei­ner zwei­ten Hei­mat Uzés, habe gear­bei­tet bis zum Mit­tag. Dann folg­te ein aus­ge­dehn­ter Spa­zier­gang durch die son­nen­durch­glüh­te Land­schaft, danach ein Mit­tag­essen und ein kur­zer Schlaf. Am Nach­mit­tag habe er dann wie­der zu schrei­ben begon­nen, bis etwa um 22 Uhr.

    Mit der Schreib­ma­schi­ne: Die Sei­ten waren stets nur zu einem Drit­tel bis zu einer Hälf­te beschrie­ben, in ganz engem Zei­len­ab­stand, dazwi­schen hat­te der Autor noch hand­schrift­li­che Kor­rek­tu­ren ein­ge­tra­gen. Die unte­re Manu­skript­hälf­te war wei­te­ren Anmer­kun­gen gewid­met. Sym­bo­le wie Drei­ecke und Kreu­ze struk­tu­rier­ten den Text. Die Arbeit der Lek­to­ren glich der von Archäo­lo­gen.

  • Frem­den­hass : „Ich hal­te das für hoch­ge­fähr­lich“ | ZEIT ONLINE – gutes inter­view mit nor­bert frei über die aktu­el­len gefah­ren für die deut­sche demo­kra­tie

    Was wir der­zeit erle­ben, ist etwas ande­res, näm­lich eine zuneh­men­de, fun­da­men­ta­le Ver­ach­tung für die Demo­kra­tie, für das „Sys­tem“ und die „Sys­tem­par­tei­en“. Ich hal­te das für hoch­ge­fähr­lich, gera­de auch weil sich sol­che Stim­mun­gen über die digi­ta­len Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ka­nä­le so leicht ver­brei­ten las­sen. Dadurch ist eine Par­al­le­löf­fent­lich­keit ent­stan­den, die sich für die „bür­ger­li­che Öffent­lich­keit“ kaum mehr inter­es­siert.

  • Jus­tiz : Das soll Recht sein? | ZEIT ONLINE – die Zeit gibt dem straf­ver­tei­di­ger schwenn mög­lich­keit, auf pro­ble­me (wie u.a. das feh­len­de pro­to­koll) der deut­schen straf­ge­richts­ver­fah­ren auf­merk­sam zu machen

    Die größ­te Gefahr für den Unschul­di­gen lau­ert in den Vor­ent­schei­dun­gen. An ihnen sind oft die­sel­ben Berufs­rich­ter betei­ligt, die spä­ter an der Haupt­ver­hand­lung mit­wir­ken und das Urteil fäl­len. […] Auch ein Haft­be­fehl darf nur erge­hen, wenn der Tat­ver­dacht drin­gend, die spä­te­re Ver­ur­tei­lung eines Ange­klag­ten also hoch­wahr­schein­lich ist. Und da lau­ert die zwei­te Fal­le. Denn hat der Rich­ter den Haft­be­fehl selbst erlas­sen oder auf­recht­erhal­ten, so wird es ihm spä­ter schwer­fal­len, von der eige­nen Ver­ur­tei­lungs­pro­gno­se abzu­rü­cken.

  • Tou­ris­mus : „Der deut­sche Urlau­ber hat ein aus­ge­spro­che­nes Struk­tur­be­dürf­nis“ | ZEIT ONLINE – die Zeit hat mit drei sehr unter­schied­li­chen rei­se­lei­tern dar­über gespro­chen, wie sie „die deut­schen“ im urlaub wahr­neh­men und emp­fin­den. sehr ver­gnüg­lich
  • Wir ver­lie­ren täg­lich Tau­sen­de Daten­punk­te Zeit- und Medi­en­ge­schich­te – kon­rad lisch­ka weist auf ein ech­tes pro­blem hin: die feh­len­de archi­vie­rung von online-medi­en/-nach­rich­ten

    Zwei Jahr­zehn­te Online­jour­na­lis­mus sind vor­bei­ge­zo­gen, ohne dass jemand die Daten­ba­sis für die Erfor­schung die­ser Grün­der­zeit geschaf­fen hat. All das ist für immer ver­lo­ren, wir haben heu­te dank Brews­ter Kah­le immer­hin Bruch­stü­cke und Moment­auf­nah­men. Enorm wich­ti­ge Daten für die Erfor­schung von The­men­kar­rie­ren und ver­än­der­ten Nut­zungs­ge­wohn­hei­ten in den 20 Jah­ren Online­jour­na­lis­mus wäre die Abruf­zah­len der archi­vier­ten Wer­ke. All die­se Daten lagen ein­mal digi­tal in irgend­wel­chen Daten­ban­ken vor. Viel­leicht sind sie noch irgend­wo da drau­ßen. Aber wenn heu­te jemand die Online­be­richt­erstat­tung über den 11.9.2001 mit der über den 13.11.2015 ver­glei­chen will, hat er noch viel weni­ger Mate­ri­al als ein His­to­ri­ker, der die archi­vier­ten Zei­tungs­aus­ga­ben aus dem 19. Jahr­hun­dert für sei­nen Berg­ar­bei­ter­streik unter­sucht.

immer wieder oktober: peter kurzeck liest in mainz

Da sitzt er also, ver­schwin­det fast hin­ter sei­nem Buch mit dem auf­fäl­li­gen oran­ge­far­be­nen Umschlag, wirkt noch klei­ner und zer­brech­li­cher als sonst. Aber sei­ne Stim­me, die dringt mühe­los über das Publi­kum hin­weg bis in die letz­te Rei­he und füllt das Anti­qua­ri­at am Ball­platz ganz und gar aus. Peter Kurz­eck, der aus Böh­men stam­men­de, bei Gie­ßen auf­ge­wach­se­ne, lan­ge in Frank­furt leben­de und nun in Süd­frank­reich schrei­ben­de Meis­ter der Erin­ne­rung und der Ver­ge­gen­wär­ti­gung liest aus sei­nem letz­ten Buch, „Okto­ber und wer wir selbst sind“. Die Lesun­gen Kurz­ecks sind immer ein Fest für sei­ne Leser und Fans, von denen es in Mainz inzwi­schen eine gan­ze Men­ge gibt – die Stüh­le im Anti­qua­ri­at reich­ten gar nicht für alle, eine schö­ner Erfolg für den Ver­an­stal­ter, das Lite­ra­tur­bü­ro Mainz. Denn Peter Kurz­eck liest nicht nur ein­fachr, was er mal, vor eini­gen Jah­ren, irgend­wann auf­ge­schrie­ben hat. Nein, er trägt es wirk­lich vor. Mit schwe­ben­den Beto­nun­gen, manch­mal fast sin­gend. Und immer mit gro­ßem, bei­na­he kind­li­chem Erstau­nen über die­sen Text, den er da vor sich lie­gen hat. Die­ses Erstau­nen, das ist eine ech­te Kurz­eck­sche Qua­li­tät. Es fin­det sich näm­lich schon im Buch selbst: Als Stau­nen über die Welt, die den Erzäh­ler umgibt. In „Okto­ber und wer wir selbst sind“ ist es das Frank­furt im Herbst 1983, die Woh­nung in Bocken­heim, die Wege in der Stadt und an ihren Rän­dern, mit Frau und Kind, zum Ein­kau­fen und zum Kin­der­la­den, im ver­gan­ge­nen Som­mer und begin­nen­den Herbst. Und natür­lich das Schrei­ben selbst – der Erzäh­ler hat gera­de sein drit­tes Buch begon­nen. Kurz­eck liest in Mainz aus den bei­den ers­ten Kapi­teln von „Okto­ber“, die genau den Moment beschrei­ben, in dem der Som­mer end­gü­lig vor­über ist. Aber in dem zugleich auch der Herbst schon da ist, schon etwas Neu­es begon­nen hat. Das klingt alles furcht­bar banal. Und ist es eigent­lich auch. Nicht aber für Peter Kurz­eck. Er ver­zau­bert das näm­lich: Durch die Erin­ne­rung an den All­tag, das übli­che und das unge­wöhn­li­che, das bana­le und außer­or­dent­li­che Gesche­hen wird das alles schon wie­der ganz anders und beson­ders. Und durch sei­nen fei­nen, prä­zi­sen, ver­knapp­ten und doch bered­ten Stil, der ihn schon so lan­ge zu einer ganz außer­ge­wöhn­li­chen Erschei­nung der deut­schen Gegen­warts­li­te­ra­tur macht, wird es gera­de­zu über­höht. Das Ergeb­nis, sein Buch und sei­ne Lesung, ist berüh­rend. Und mäch­ti­ger, auch dau­er­haf­ter als der klei­ne, unschein­ba­re Mann, der sie geschaf­fen hat.

(geschrie­ben für die main­zer rhein-zei­tung)

3:00:33. oder: knapp vorbei ist auch daneben

11.473 Läu­fer im Nacken – da muss man sich schon ein biss­chen beei­len. Lei­der habe ich mich wohl am Anfang zu sehr beeilt. Am Ende fehl­te jeden­falls die Kraft für die Traum­zeit, die sub 3. Gewor­den ist es eine – ganz unbe­schei­den gesagt – trotz­dem sehr gute 3:00:33. Aber mal von Anfang an.
Am Sams­tag in Ruhe die Start­un­ter­la­gen geholt, etwas über die Mara­thon­mes­se spa­ziert (und doch mal wie­der ein Paar Schu­he gekauft: Eigent­lich hat­te ich extra wenig Geld mit­ge­nom­men, um gar nicht in Ver­su­chung zu kom­men … Das Sau­c­o­ny-Ange­bot fand ich dann aber zu ver­lo­cken – da muss­te halt die EC-Kar­te her­hal­ten), mei­ne obli­ga­to­ri­sche Por­ti­on Nudeln ver­drückt (in der dröh­nend beschall­ten Fest­hal­le, wo man schon mal den Ziel­ein­lauf besich­ti­gen konn­te). Schon bei dem gan­zen Kram zeig­te sich: Der Frank­fur­ter Mara­thon ist gut orga­ni­siert. Alles war leicht zu fin­den, gut aus­ge­schil­dert. Und trotz der Mas­sen – 12.046 Mara­thon­star­ter, mit den ande­ren Wett­be­wer­ben (Staf­fel und Mini-Mara­thon) ins­ge­samt über 20.000 Läu­fer – ging alles ange­nehm zügig und unkom­pli­ziert über die Büh­ne. Danach noch ein kur­zes, net­tes Tref­fen mit den ande­ren Streak­run­nern – auch mit denen, die gar nicht mit­lie­fen. Lars und Elke fehl­ten lei­der. Aber die traf ich dann dafür am Sonn­tag mor­gen auf dem Main­zer Bahn­hof. Zusam­men sind wir, mit einer Men­ge ande­rer Läu­fer, also nach Frank­furt gepil­gert. Die Bahn und U‑Bahn brach­ten uns auch zuver­läs­sig zur Mes­se. Nach der Klei­der­beu­tel­ab­ga­be dann die etwas lang­wie­ri­ge­re Sache mit den Toi­let­ten – so direkt vor dem Mara­thon kann es wohl ein­fach nicht gut davon geben … Um 9.45 Uhr war ich dann auch schon in mei­nem Start­block. Zum ers­ten Mal in mei­ner (kur­zen) Läu­fer­kar­rie­re durf­te ich aus dem ers­ten Block – also qua­si direkt hin­ter den Kenia­ner, die ich aber trotz­dem nicht gese­hen habe, weil ich mich natür­lich brav schön hin­ten ein­ge­ord­net habe. Viel gebracht hat das nicht. Denn trotz des anfangs sehr unru­hi­gen und für mei­ne Emp­fin­dung sehr rau­en Starts (zwei Läu­fer prü­gel­ten sich auf dem ers­ten Kilo­me­ter fast, auch sonst wur­de mäch­tig viel gerem­pelt und so knapp wie irgend mög­lich über­holt) war ich irgend­wie dau­ernd zu schnell. Viel­leicht lag’s an den Tem­pe­ra­tu­ren: Auf den ers­ten Kilo­me­tern, so bis km 4 oder 5, fand ich es – trotz der Arm­lin­ge – sakrisch kalt. Aber es lief bes­tens: Locker saus­te ich mit den ande­ren Läu­fe­ren – Frau­en waren eher sel­ten zu sehen – über den Asphalt, kreuz und quer durch die Frank­fur­ter City. Die Ori­en­tie­rung hat­te ich schnell ver­lo­ren. Aber dafür gibt es ja die grü­ne Linie (in Frank­furt nicht blau, weil der Haupt­spon­sor „Dresd­ner Klein­wort“ heißt und das sei­ne Fir­men­far­be ist). Das Tem­po blieb wei­ter­hin hoch. Etwas arg hoch, wie sich spä­ter her­aus­stel­len soll­te. Noch aber ging es erstaun­lich locker und ohne grö­ße­re Anstren­gung vor­an. Die Kilo­me­ter pur­zel­ten fröh­lich vor sich hin, das Feld zog sich all­mäh­lich doch immer mehr aus­ein­an­der. Kurz nach Kilo­me­ter 12 ging es zum ers­ten mal über den Main, dann auf lan­gen Gera­den durch Sach­sen­hau­sen und Nie­der­rad bis nach Schwan­heim. Wirk­lich erstaun­lich, wie viel selbst hier an der Stre­cke los ist. So rich­tig leer wur­de es ganz sel­ten – und über­all war eine Mords­gau­di. Das lag höchst­warhschein­lich auch dar­an, dass ich immer noch im nähe­ren Umfeld von Diet­mar Mücke unter­wegs war, der mal wie­der bar­fuss und im Pumuckel-Kos­tüm unter drei Stun­den lief. Über die Schwan­hei­mer Brü­cke bei Kilo­me­ter 23 ging es dann wie­der nach Nied hin­über, eine kur­ze Schlei­fe durch den Rand von Höchst und wie­der in Nied auf die lan­ge Main­zer Land­stra­ße. Inzwi­schen wur­de mir das hohe Tem­po immer schwe­rer. Immer öfter geschah es, dass ich leicht über dem anvi­sier­ten 4:15er Schnitt blieb. Hart wur­de es dann vor allem ab den Kilo­me­tern 33 und 34. Jetzt waren es offen­bar an der Zeit, die Reser­ven anzu­grei­fen. Viel war da aber nicht mehr zu holen … Mit viel Bei­ßen und Selbst­quä­le­rei gelang mir noch der eine oder ande­re Kilo­me­ter im rich­ti­gen Tem­po. Ab Kilo­me­ter 35 und 36, wo es wie­der in die City – mit ziem­lich vie­len Schlen­kern – ging, wur­de es zur ech­ten Qual. Auf ein­mal zogen sich die Kilo­me­ter immer län­ger und län­ger. An Auf­ge­ben war aber noch nicht zu den­ken. Denn eines war mir klar: Wenn ich jetzt auch nur zwei Schrit­te gehe oder bewusst lang­sam wer­de, dann kom­me ich nie wie­der auf ein ordent­li­ches Tem­po – so gut ken­ne ich mich inzwi­schen. Also wei­ter brav die Zäh­ne zusam­men­ge­bis­sen. Und wie so oft half es auch, ein biss­chen zumin­dest. Ab Kilo­me­ter 38 wur­de ich zwar nicht mehr wesent­lich schnel­ler, aber immer­hin auch nicht lang­sa­mer. Und es mach­te fast wie­der Spaß. Dass die sub 3 kaum noch hin­hau­en wür­den, dafür brauch­te es wenig Rechen­küns­te. Aber das es mit mei­nem Traum­ziel wenn über­haupt sowie­so ver­dammt knapp klap­pen wür­de, war mir eh‘ von vorn­her­ein klar. Immer­hin reich­te es noch für eine klit­ze­klei­ne Tem­po­stei­ge­rung ab Kilo­me­ter 41. Die letz­ten 1200 Meter zogen sich dann erwar­tungs­ge­mäß wie­der ordent­lich und schie­nen gar nicht zu enden. Da half auch das lär­men­de Publi­kum nicht mehr viel. Eher noch die Aus­sicht, noch ein oder zwei oder drei Läu­fer zu kas­sie­ren. Das klapp­te dann auch noch. Und irgend­wann erbarm­te sich die grü­ne Linie dann doch und ver­ließ hin­ter dem Mes­se­turm die Stra­ße, um zur Fest­hal­le abzu­bie­gen. Die Uhr zeig­te dum­mer­wei­se schon mehr als 2:59 an – unter drei Stun­den wür­de ich nicht blei­ben kön­nen. Dann also aber wenigs­tens nicht mehr als 3:01 – alles ande­re wäre jetzt ech­tes Ver­sa­gen. Und dafür reich­te es dann auch tat­säch­lich noch: 3:00:34 hat­te ich selbst­ge­stoppt auf der Uhr, die off­zi­el­le Zeit schenk­te mir noch eine Sekun­de. Nach dem Ziel­strich fing das Lei­den dann aber erst rich­tig an: So etwas habe ich noch nie erlebt. Gehen ging erst­mal über­haupt nicht mehr … Und dann waren da auch noch drei klit­ze­klei­ne Stu­fen, die man her­ab­stei­gen muss­te, um sei­ne Medail­le und eine wär­men­de Folie zu bekom­men – das war wohl das größ­te Hin­der­nis, das ich an die­sem Tag über­wun­den habe. Danach ging es dann erst mal wie­der an die fri­sche, d.h. herbst­lich-küh­le Luft, um Ver­pfle­gung zu fas­sen. Essen moch­te ich nach so einem Lauf natür­lich kaum etwas, ein paar Trau­ben und eine Bana­ne for­der­te die Ver­nunft aber. Dann noch ein­mal quer durch das reich­hal­ti­ge Geträn­ke­sor­ti­ment getrun­ken – ok, das Bier ließ ich aus – und ab zur Klei­der­beu­tel­aus­ga­be. Hier kam man glück­li­cher­wei­se über Roll­trep­pen hin … Und noch war hier wenig los, auch bei den Duschen – mit wirk­lich wun­der­bar hei­ßem Was­ser, dafür aber in der herr­li­chen Atmo­sphä­re der Tief­ga­ra­ge – gab es kei­ne Schlan­gen. Da ich noch vor dem gro­ßen Andrang unter­wegs schien und mei­ne Ober­schen­kel mich wirk­lich nerv­ten, gönn­te ich mir noch eine Mas­sa­ge. Ob’s viel gehol­fen hat, weiß ich zwar nicht – ange­nehm war es trotz­dem … Die Waden waren ja wirk­lich bis zum Schluss über­haupt kein Pro­blem. So erholt haben sie sich jeden­falls nach einem Mara­thon noch nie gefühlt – die CEP-Strümp­fe schei­nen also doch etwas zu brin­gen. So, das war jetzt für heu­te genug geschafft – den Rest des Sonn­ta­ges wer­de ich erst mal „rege­ne­rie­ren“ …
Ach so, die offi­zi­el­len Ergeb­nis­se: Ziel­zeit war 3:00:33, das ist in mei­ner Alters­klas­se (MH) der 74. Platz, ins­ge­samt Rang 573.

und noch die fotos:

peter kurzeck: oktober und wer wir selbst sind

schon der titel ist ja ein meis­ter­werk – ein anspruch, den der roman auch einö?sen kann: „Ein Buch, wie es noch keins gibt, aber wie es scheint, merkt das kei­ner.” (154 – das schreibt der erzäh­ler über sein zwei­tes buch. die par­al­le­len zu peter kurz­eck und des­sen „das schwar­ze buch” von 1982 sind natür­lich alles ande­re als zufäl­lig. immer­hin mer­ken die qua­li­tät inzwi­schen ein paar mehr. aber das sind immer noch nur die kri­ti­ker – leser gibt es immer noch zu weni­ge. dabei hät­te die lek­tü­re von kurz­ecks büchern für die meis­ten einen gewal­ti­gen gewinn und erkennt­nis­zu­wachs zu bie­ten – erheb­lich mehr als die bücher, die sich so auf den best­sel­ler­lis­ten tum­meln.) und auch sonst ist es wie­der ein ech­ter kurz­eck – unbe­dingt, etwas mono­ma­nisch, aber fas­zi­nie­rend und fes­selnd. nicht nur wegen der sti­lis­ti­schen vir­tuo­si­tät – kaum ein ande­rer gegen­wär­ti­ger autor hat so einen unver­kenn­bar eige­nen stil oder bes­ser gesagt ton­fall: denn es klingt immer, das von kurz­eck geschrie­be­ne, es schwebt qua­si schwe­re­los wie zar­te kam­mer­mu­sik – son­dern auch sei­ner the­men und moti­ve wegen. das buch ist wie­der über­voll von schö­nen stel­len, schö­nen for­mu­lie­run­gen – eini­ge ste­hen ja auch hier…

der beginn ist schon ein ende und ver­lust – oder umge­kehrt: das ende ist der beginn – der anfang des erzäh­lens: –> von dort star­tet das schrei­ben, das des erzäh­lers und das des autors. aus angst, das gesche­he­ne, d.h. ver­gan­ge­ne, zu ver­lie­ren – und aus die­ser furcht beginnt sofort die suche nach der ver­ge­wis­se­rung: „[…] wisst ihr den Som­mer noch?” (7)

und noch etwas zeigt sich schon auf den ers­ten sei­ten: die gewiss­heit, die ver­gan­gen­heit ver­lo­ren zu haben, ist noch stär­ker als sonst (wenn ich die letz­ten bücher recht erin­ne­re, die lek­tü­re ist jetzt schon eine wei­le her): „unauf­find­bar. […] für immer in einem ker­ker.” (10) da hilft dann nur noch das erzäh­len: erzäh­len, um die wirk­lich­keit (der ver­gan­gen­heit) auf­zu­bau­en, „in Gang” zu hal­ten.

die erin­ne­rung wird aller­dings immer unsi­che­rer, immer unge­rich­te­ter und fra­gi­ler: „Nach­träg­lich kommt dir vor, du hät­test ihn an ein­und­dem­sel­ben Tag wenigs­tens zwei- oder drei­mal gehört.” (50) aber alles ist ver­lo­ren, die erin­ne­rung, das gedächt­nis, die orte, die gan­ze ver­gan­ge­ne rea­li­tät – und die gegen­wart als zuk?nftige ver­gan­gen­heit auch schon: „Wo ist der Tag hin?” (50) und die­se ahnung der wie­der­ho­lung der rea­li­tät greift inzwi­schen selbst auf die träu­me aus: „[…] oder den glei­chen Traum immer wie­der?“ (75) aber noch ist hoff­nung (frei­lich ist die auch schon zwie­späl­tig und gebro­chen): „Und dann bleibt dir für immer das Bild.” – man muss es nur rich­tig und immer wie­der erzäh­len. die fra­ge ist dann nur: „wohin jetzt mit die­ser geschich­te?” (71). für die­se art zu erzäh­len, zu schrei­ben gibt es aller­dings kei­ne direk­ten wege – und genau das macht eine wesent­li­che fas­zi­na­ti­on der lek­tü­re aus: „beim erzäh­len immer noch einen umweg.” (29). schlie?lich ist das gan­ze buch ein ein­zi­ger umweg – eigent­lich soll­te es nur ein ein­zi­ges kapi­tel der vor­ge­schich­te sein, kein eige­ner roman.

auch das schrei­ben an sich spielt natür­lich (wie­der) eine gro­ße rol­le – von anfang an. und wie­der ist der erzäh­ler sei­nem text ziem­lich gna­den­los aus­ge­lie­fert: „Noch bei kei­nem Buch hat die Spra­che mich so sehr gepackt, wie bei die­sem – oder denkst du das jedes­mal wie­der?” (19) ins­be­son­de­re die enden der kapi­tel füh­ren immer wie­der zum pro­zess des schrei­bens hin, zum erzäh­len an sich, zu den pro­jek­ten des erzäh­lers. und die sind schon lan­ge mehr oder weni­ger zwang­haft gewor­den: „Aus­nahms­wei­se viel­leicht heut nicht mehr? Aus­ru­hen? Eine Pau­se? Aber das fehlt mir dann mor­gen früh und was fehlt, fehlt für immer.” (111) sp?ter hei?t es dann noch ein­mal: „Doch inzwi­schen will die Zeit, die kein Eins­se­hen hat, mir kei­ne Ruhe mehr las­sen.” (162)

und natür­lich auch die zeit an sich wie­der the­ma – das the­mas über­haupt, das kurz­eck in sei­nen büchern umtreibt (vor allem natür­lich in der chro­nik der frank­fur­ter acht­zi­ger): hier ist sie aber noch offe­ner the­ma­ti­siert als in den letz­ten wer­ken: „Die Zeit. Als ob man sich selbst sucht. Wo bin ich, wenn ich nicht bei mir bin? Wo geht die Zeit mit uns hin?” (23) oder spä­ter: „Daß die Zeit auch so schnell ver­geht! Man weiß es und kann es doch nicht begrei­fen” (101)
die pro­ble­me der zeit: einer­seits fliegt sie, rast davon – ande­rer­seits ver­lang­samt sie bis zum still­stand: „Ist für uns die Zeit ste­hen­ge­blie­ben? Ist es jeden Herbst wie­der der glei­che Tag?” (45) und dann taucht aber auch noch immer wie­der die fra­ge auf: „Wie soll man die Zeit erzäh­len?” (77) die kern­fra­ge, die kurz­eck (und sei­nen erzäh­ler) schon län­ger beschäf­tigt und beglei­tet, wird nun immer expli­zi­ter gestellt: „[…] und in Ruhe die Zeit, immer wei­ter die Zeit auf­schrei­ben. Den Fluß und die Zeit und das gan­ze Land.” (121)

viel stär­ker spie­len dane­ben aller­dings auch die fra­gen der rea­li­tät eine rol­le: gibt es zeit über­haupt? gibt es die din­ge, vor allem aber gibt es orte? – oder ist alles nur aus­ge­dacht, ima­gi­niert? die zeit wird dabei auch noch stär­ker ver­ding­licht, zum objekt gemacht: „Wie die zeit selbst. als ob es die zeit ist, die immer­fort über sie hin­streicht, unab­läs­sig, die hei­li­ge zeit.” (94) mehr noch als frü­her tritt dem leser peter kurz­eck hier nicht nur als phä­no­me­no­lo­ge, son­dern auch als erkennt­nis­kri­ti­ker gegen­über. genau des­halb beherrscht ihn auch der zwang zur wie­der­ho­lung (und zur wie­der­ho­lung gehürt auch das erzäh­len als wie­der­ho­len – auf ande­rer stu­fe – der erleb­ten wirk­lich­keit): „Man muß sie glau­ben, weil man sie sieht, aber kann sie sich nicht erklä­ren.” (47) – und dann sind ja da noch „über­all Zei­chen. […] Aber wie soll man die Zei­chen deu­ten?” (49) – Zei­chen haben sich ubi­qui­tär aus­ge­brei­tet, alles wird zum Zei­chen, der Erzäh­ler weiß nicht mehr, was jetzt Zei­chen ist und was nicht – von der Fra­ge ihrer Bedeu­tung natür­lich ein­mal ganz abge­se­hen.

ein ande­res motiv, dass neu ist, durch­zieht den text auch noch: der vater des erzäh­lers taucht immer mehr und deut­li­cher auf – bis­her war es vor allem die mut­ter der erzäh­lers „peter”, die in den tex­ten vor­kam – hier wird immer wie­der auch auf den vater bezug genom­men.

und das alles gibt wie­der so einen herr­li­chen text, das man nur ins schwär­men kom­men kann. wie anders kann man auch auf sol­che zei­len reagie­ren: „Man kommt an und Ort und Zeit war­ten schon” (173)?

peter kurz­eck: okto­ber und wer wir selbst sind. frank­furt am main: strom­e­feld 2007.

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