Ins Netz gegangen am 20.7.:
- «Digital Humanities» und die Geisteswissenschaften: Geist unter Strom — NZZ Feuilleton — sehr seltsamer text von urs hafner, der vor allem wohl seine eigene skepsis gegenüber “digital humanities” bestätigen wollte. dabei unterlaufe ihm einige fehler und er schlägt ziemlich wilde volten: wer “humanities” mit “humanwissenschaften” übersetzt, scheint sich z.b. kaum auszukennen. und was die verzerrende darstellung von open access mit den digital humanities zu tun hat, ist auch nicht so ganz klar. ganz abgesehen davon, dass er die fächer zumindest zum teil fehlrepräsentiert: es geht eben nicht immer nur um close reading und interpretation von einzeltexten (abgesehen davon, dass e‑mailen mit den digital humanities ungefähr so viel zu tun hat wie das nutzen von schreibmaschinen mit kittler’schen medientheorien …)
- Lyrik: Reißt die Seiten aus den Büchern! | ZEIT ONLINE — nette idee von thomas böhm, die lyrik zu vereinzeln (statt in lyrikbänden zu sammeln), das gedicht als optisches sprachkunstwerk zu vermarkten (auch wenn ich seine argumentationen oft überhaupt nicht überzeugend finde)
- Einsam auf der Säule « Lyrikzeitung & Poetry News — gute kritikkritik zur besprechung des aktuellen “Jahrbuchs für Lyrik” in der “zeit”, die auch mich ziemlich verwundert hat.
Unterscheidung, Alternativen, Schwerpunktsetzung? Fehlanzeige. Rez. zieht es vor, sich als scharfe Kritikerin zu inszenieren, jede Differenzierung schwächte das Bild nur. Lieber auf der Schulter von Riesen, hier neben Krüger, Benn & Co. vor allem Jossif Brodsky, auf die behauptet magere deutsche Szene herabblicken. Einsam ist es dort oben auf der Säule!
- Verkehrssicherheit: Brunners letzte Fahrt | ZEIT ONLINE — sehr intensive reportage von henning sussebach über die probleme der/mit alternden autofahrern (für meinen geschmack manchmal etwas tränendrüsig, aber insgesamt trotzdem sehr gut geschrieben)
Urlaubszeit in Deutschland, Millionen Reisende sind auf den Straßen. Da biegt ein 79-Jähriger in falscher Richtung auf die Autobahn ein – fünf Menschen sterben. Ein Unglück, das zu einer brisanten Frage führt: Kann man zu alt werden fürs Autofahren?
- Lyrik und Rap: Die härteste Gangart am Start | ZEIT ONLINE — uwe kolbe spricht mit mach one (seinem sohn) und konstantin ulmer über lyrik, raps, rhythmus und themen der kunst
Dass ich mit meinen Gedichten kein großes Publikum erreiche, ist für mich etwas, worunter ich selten leide. Ich möchte das, was ich mache, auf dem Niveau machen, das mir vorschwebt. Dabei nehme ich auch keine Rücksicht mehr. Ich gehe an jeden Rand, den ich erreichen kann.
- Rainald Goetz: Der Weltabschreiber | ZEIT ONLINE — sehr schöne und stimmende (auch wenn das theater fehlt …) würdigung rainald goetzes durch david hugendick anlässlich der bekanntgabe, dass goetz diesjähriger büchner-preis-träger wird
Die einzige Reaktion auf die Zudringlichkeit der Welt kann nur in deren Protokoll bestehen, die zugleich ein Protokoll der eigenen Überforderung sein muss.
- “Panoramafreiheit”: Wider den Urheberrechts-Extremismus — Süddeutsche.de — leonhard dobusch zum versuch, in der eu das urheberrecht noch weiter zu verschärfen:
Wir alle sind heute ein bisschen wie Lichtenstein oder Warhol. Wir erstellen und teilen ständig Fotos und Videos, in denen Werke anderer vorkommen. Zeit, dass das Urheberrecht darauf eingeht.
- Stravinsky’s Illegal “Star Spangled Banner” Arrangement | Timothy Judd — ich wusste gar nicht, dass es von strawinsky so ein schönes arrangement der amerikanischen hmyne gibt. und schon gar nicht, dass die angeblich verboten sein soll …
- Essay Griechenland und EU: So deutsch funktioniert Europa nicht — taz.de — ulrich schulte in der taz zu griechenland und der eu, mit vielen sehr guten und treffenden beobachtungen & beschreibungen, unter anderem diesen
Von CSU-Spitzenkräften ist man inzwischen gewohnt, dass sie jenseits der bayerischen Landesgrenze so dumpf agieren, als gössen sie sich zum Frühstück fünf Weißbier in den Hals.
[…] Das Charmante an der teils irrlichternden Syriza-Regierung ist ja, dass sie eingespielte Riten als nackt entlarvt. - Sich „konstruktiv verhalten“ heißt, ernst genommen zu werden | KRZYSZTOF RUCHNIEWICZ — Stellungnahme ehemaliger Mitgliedern des Wissenschaftlich Beraterkreises der (sowieso übermäßig vom Bund der Vertreibenen dominierten) Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung zur Farce der Wahl des neuen Direktors unter Kulturstaatsministerin Monika Grütters
- Konsum: Kleine Geschichte vom richtigen Leben | ZEIT ONLINE — marie schmidt weiß nicht so recht, was sie von craft beer, handgeröstetem kaffee und dem ganzen zelebrierten super-konsum halten soll: fetisch? rückbesinnung alte handwerkliche werte? oder was?
- Alle Musik ist zu lang — wunderbare überlegungen von dietmar dath zur musik, der welt und ihrer philosophie
Alle bereits vorhandene, also aufgeschriebene oder aufgezeichnete Musik, ob als Schema oder als wiedergabefähige Aufführung erhalten, ist für Menschen, die heute Musik machen wollen, zu lang, das heißt: Das können wir doch nicht alles hören, wir wollen doch auch mal anfangen. Wie gesagt, das gilt nicht nur für die Werke, sondern schon für deren Muster, Prinzipien, Gattungen, Techniken.
[…] Musik hält die Zeit an, um sie zu verbrauchen. Während man sie spielt oder hört, passiert alles andere nicht, insofern handelt sie von Ewigkeit als Ereignis- und Tatenlosigkeit. Aber beide Aspekte der Ewigkeit, die sie zeigt, sind in ihr nicht einfach irgendwie gegeben, sie müssen hergestellt werden: Die Ereignislosigkeit selbst geschieht, die Tatenlosigkeit selbst ist eine musikalische Tat. - Literaturblogs are broken | The Daily Frown — fabian thomas attestiert den “literaturblogs” “fehlende Distanz, Gefallsucht und Harmlosigkeit aus Prinzip” — und angesichts meiner beobachtung (die ein eher kleines und unsystematisches sample hat) muss ich ihm leider zustimmen.
- Interview ǀ „Ent-identifiziert euch!“ — der Freitag — großartiges gespräch zwischen harald falckenberg und jonathan meese über wagner, bayreuth, kunst und den ganzen rest:
Ja, ich hab total auf lieb Kind gemacht. Ich merkte ja schon, dass ich im Wagner-Forum so als Monster dargestellt wurde. Ich bin kein Monster. Ich wollte das Ding nur radikalisieren. Ich hab auf nett gemacht und so getan, als wäre ich gar nicht ich selbst. Was ich ja immer tue. Sei niemals du selbst. Keine Selbstsuche, bitte. Keine Pilgerfahrt. Keine Möncherei. Ich bin einfach wie ’n Spielkind da rangegangen, und ich dachte, jetzt geht’s ab.
[…] Kultur ist genauso beschissen wie Gegenkultur. Mainstream ist genauso beschissen wie Underground. Kultur und Gegenkultur ist das Gleiche. Politik kannst du nicht mit Kultur bekämpfen. Sondern nur mit Kunst. Du kannst nicht eine neue Partei gründen, weil sie genauso scheiße ist wie jede andere. Du kannst keine neue Religion gründen, weil sie genauso scheiße ist wie alle anderen. Du kannst keine neue Esoterik schaffen, weil sie genauso scheiße ist wie jede andere. Du kannst keine Spiritualität schaffen, die besser wäre als alle anderen.
Jede Partei ist gleich scheiße, jede Religion ist gleich zukunftsunfähig, jede Esoterik ist abzulehnen. Ich benutze Esoterik, aber ich identifiziere mich nicht damit. Ich identifiziere mich nicht mit Wagner, ich identifiziere mich nicht mit Bayreuth, ich identifiziere mich mit gar nichts.
Ent-identifiziert euch! Seid nicht mehr! Seid eine Nummer! Seid endlich eine Nummer!
Das ist geil. Seid kein Name! Seid kein Individuum! Seid kein Ich! Macht keine Nabelbeschau, keine Pilgerreise, geht niemals ins Kloster, guckt euch niemals im Spiegel an, guckt immer vorbei!
Macht niemals den Fehler, dass ihr auf den Trip geht, euch selbst spiegeln zu wollen. Ihr seid es nicht. Es ist nicht die Wichtigtuerei, die die Kunst ausmacht, sondern der Dienst an der Kunst. Die Kunst ist völlig frei. Meine Arbeit, die ist mir zuzuschreiben, aber nicht die Kunst. Die spielt sich an mir ab. - Eine Bemerkung zur Kompetenzorientierung by Fachdidaktik Deutsch -
»Faktenwissen« kommt nicht zuerst, wenn Kompetenzorientierung ernst genommen wird – Können kommt zuerst. Kompetenzorientierung bedeutet, die Lernenden zu fragen, ob sie etwas können und wie sie zeigen können, dass sie es können. Weil ich als Lehrender nicht mehr zwingend sagen kann, auf welchem Weg dieses Können zu erreichen ist. Dass dieses Können mit Wissen und Motivation gekoppelt ist, steht in jeder Kompetenzdefinition. Wer sich damit auseinandersetzt, weiß das. Tut das eine Lehrkraft nicht, ist das zunächst einfach einmal ein Zeichen dafür, dass sie sich nicht mit Kompetenzorientierung beschäftigt hat. Fehlt diese Bereitschaft, müssen zuerst die Voraussetzungen dafür geschaffen werden.
- Essay zum UN-Weltkulturerbe: Mord mit besten Absichten — taz.de -
Und immer noch drängeln die Städte, die Dörfer, die Regionen, dass sie ja als Erste einbalsamiert werden. Wie die Länder, die sich um Olympische Spiele bewerben, ohne sich klarzumachen, dass sie damit ihren Untergang heraufbeschwören wie Griechenland mit Athen.
- Wie man nicht für die Vorratsdatenspeicherung argumentiert | saschalobo.com — sascha lobo seziert den tweet von reinhold gall. wie (fast) immer exzellent. schade (und mir unverständlich), dass solche texte in den großen, publikumswirksamen medien keinen platz finden — warum steht das nicht im print-spiegel, der gedruckten faz oder süddeutschen?
- Sex (und gender) bei der Fifa | Männlich-weiblich-zwischen — ein schöner text zum problem der bestimmung des geschlechts, des biologischen, wie es die fifa versucht — nämlich über den testosteron-spiegel. mit dem (inzwischen erwartbaren) resultat: so kann man das jedenfalls nicht machen.
an darf also vermuten und hoffen, dass auch diese Definition von sex zu sportlichen Zwecken demnächst, wie bisher alle anderen Definitionen auch, als unbrauchbar und absurd erweisen – aber wohl, ebenfalls wie immer, erst zu spät.