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Schlagwort: archiv

Ins Netz gegangen (21.10.)

Ins Netz gegan­gen am 21.10.:

Vergessen: 3000 unbekannte Briefe im Thomas-Mann-Archiv

Die FAZ berichtet heute im Feuil­leton (S. 31, lei­der nicht online), dass das Thomas-Mann-Archiv in Zürich unge­fähr dre­itausend Briefe aus dem Nach­lass des Autors bzw. sein­er Frau Katia bis zum Dezem­ber 2012 ein­fach “vergessen” hat. Das sind schlappe 13 Kisten, die die Archivare dort in den let­zten Jahrzehn­ten kom­plett “überse­hen” haben: Die wur­den nicht erfasst, nicht kat­a­l­o­gisiert, nicht aus­gew­ertet und waren auch nie­man­dem zugänglich — nicht den Forsch­ern, aber auch nicht den Fam­i­lien­mit­gliedern. Schon die Umstände, wie die Briefe ins Archiv gelangt sind, sind selt­sam (für Schrift­steller-Nach­lässe allerd­ings wiederum gar nicht so sehr …):

Derzeit bemüht man sich im TMA, die Herkun­ft der aufge­taucht­en Brief­bestände zu rekon­stru­ieren – auch das führt auf dun­kle Pfade. Ein Teil der Briefe sei wohl bere­its 1981 ins Archiv gelangt, gebracht von Ani­ta Naef, der Sekretärin erst von Eri­ka, später von Golo Mann; der größere Teil sei 1994 geschenkt wor­den, eben­falls aus der Hand von Ani­ta Naef. […] Nach den heuti­gen Recherchen des TMA brachte sie den größten Teil des jet­zt aufge­taucht­en Brief­be­stands 1994, im Todes­jahr Golo Manns, als „Schenkung“ ins TMA, ohne dass dies verze­ich­net oder im Jahres­bericht des Archivs ver­merkt wor­den wäre.

Das ist schon eine ganz schöne Schlam­perei — auch wenn Tilmann Lahme in der FAZ sicher­lich zu recht darauf hin­weist, dass das TMA sich mehr als Forschungsstätte denn als klas­sis­ches Archiv ver­stand:

Demge­genüber sind Erfas­sung, Erschließung und Sicherung der Archiva­lien nicht auf dem Stand eines mod­er­nen Archivs.

Immer­hin scheint sich nun etwas zu tun:

Die Leitung der Hochschule hat nun, nach der Eingliederung des TMA und unter dem Ein­druck des Auf­tauchens der dre­itausend Katia-Mann-Briefe, kurzfristig ein größeres Pro­jekt bewil­ligt. Mehr als eine halbe Mil­lion Schweiz­er Franken ste­hen von sofort an für Erschließung und Dig­i­tal­isierung der Archivbestände zur Ver­fü­gung. Bis zum Ende des kom­menden Jahres sollen die Bestände kom­plett in einem mod­er­nen, online abruf­baren Sys­tem erfasst und dig­i­tal­isiert sein

Ander­er­seits gehen die Merk­würdigkeit­en aber gle­ich weit­er: Fri­do Mann, Enkel Thomas’, hat — offen­bar als eine Art “Entschädi­gung” für das lange währende Ver­säum­nis des Archivs, “etwa fün­fzig Briefe seines Vaters Michael an Katia Mann” aus­ge­händigt bekom­men. Die sind also aus dem Archiv gle­ich wieder ver­schwun­den …

Das Archiv selb­st scheint auch son­st eher nach­läs­sig geführt zu wer­den, der FAZ-Artikel lässt da einiges anklin­gen (und macht darauf aufmerk­sam, dass das nicht unbe­d­ingt die Schuld der beteiligten Per­so­n­en sein muss, son­dern auch in sein­er Kon­struk­tion und der man­gel­nden Wertschätzung durch die Hochschul-Leitung geschuldet sein kann). Die Inter­net­seite des Archivs jeden­falls gibt keinen Hin­weis auf den Fund der Manuskripte …

Ins Netz gegangen (21.8.)

Ins Netz gegan­gen am 21.8.:

  • 1628 Wertheim | ein his­to­ri­ographis­ches Blog — Robert Meier, Archivar im Staat­sarchiv Wertheim, schreibt aus den Quellen über die Ereignisse in Wertheim in den Jahren 1628 und 1629
  • Som­mer­lochtage­buch. Bad Blog goes dai­ly. | Bad Blog Of Musick — Moritz Eggert kotzt sich in das Som­mer­loch ein biss­chen aus. Lei­der ist da trotz des wun­der­baren Zynis­mus viel Wahres dran an dem, was er über Kul­tur­ab­bau, ‑kürzun­gen und ‑einsparun­gen schreibt.

    So unre­al­is­tisch ist das gar nicht. Nach neuesten wis­senschaftlichen Erken­nt­nis­sen wird die gesamte klas­sis­che und zeit­genös­sis­che Musik im Jahr 2100 nur noch aus einem einzi­gen Stück beste­hen: Rav­els „Bolero“. Dieser läuft äußerst erfol­gre­ich auf der ganzen Welt in soge­nan­nten „Beis­chlafau­di­to­rien“ (denn allein die Musik zu hören ist den Men­schen dann zu lang­weilig). Fol­gerichtig gibt es in Deutsch­land nur noch eine einzige Musikhochschule (in Warnemünde) in der die ca. 80 Stu­den­ten ler­nen, wie man den „Bolero“ spielt. Die anderen 80 spie­len ihn, im let­zten verbliebe­nen deutschen Orch­ester (Gevels­berg­er Phillies).

  • Rüs­tung­spro­jekt Euro Hawk: Ein Traum von ein­er Drohne | ZEIT ONLINE — Die “Zeit” hat die Unter­la­gen der Unter­suchungsauss­chuss­es zum Drohnen-Fiasko aus­gew­ertet (alle 372 Aktenord­ner liegen ihr vor … — und wur­den als (schlechte) Scans in der­doc­u­ment­cloud teil­weise schon veröf­fentlicht: http://preview.tinyurl.com/drohnendok) und fängt an, die ganze Geschichte zu beschreiben. Das geht heute so los:

    Das Desaster um die Aufk­lärungs­drohne Euro Hawk war von Anfang an abse­hbar. Schon vor zehn Jahren kan­nten die Ver­ant­wortlichen alle Prob­leme. Doch sie woll­ten die Drohne.

    … und sie soll­ten sie bekom­men — nur halt, ohne damit etwas anfan­gen zu kön­nen. Und klar ist auch jet­zt schon: Das Sys­tem der Beschaf­fung und das Min­is­teri­um sind offen­bar poli­tisch nicht mehr zu steuern und zu kon­trol­lieren …

  • Überwachung: NSA kann drei von vier E‑Mails mitle­sen | ZEIT ONLINE — Die “Zeit” weist auf einen im Wall Street Jour­nal erschienen Artikel hin, der deut­lich macht, wie weit die Möglichkeit­en der NSA wirk­lich gehen:

    Die NSA kann bis zu 75 Prozent des Inter­netverkehrs überwachen, der durch die USA läuft.

Ins Netz gegangen (21.5.)

Ins Netz gegan­gen (20.5. — 21.5.):

  • “ADHS ist Folge pro­fes­sioneller Ver­nach­läs­si­gung” — derStandard.at — Jes­per Juul im Stan­dard-Inter­view über ADHS-Diag­nosen:

    Ein wesentlich­er Unter­schied zwis­chen Kindern und Erwach­se­nen ist, dass Erwach­sene teil­weise in der Zukun­ft leben kön­nen. Sie kön­nen sagen: Jet­zt arbeite ich zwei Jahre lang wie wahnsin­nig, dann kön­nen wir uns das Haus, das Auto, was auch immer leis­ten. Kinder kön­nen das nicht sagen, die leben im Hier und Jet­zt. Deshalb entwick­eln sie sehr schnell Symp­tome, die zeigen, dass unser Lebensstil nicht passt. Sie fan­gen an, Nein zu sagen und trotzig zu wer­den. Kinder machen also genau das, was die Erwach­se­nen eigentlich tun soll­ten. Die klas­sis­chen Stresssymp­tome wie Bluthochdruck, Burn-out, Beziehungskrise — das kommt bei Erwach­se­nen meist zeitverzögert.

  • CTS — con­serve the sound — Coole Idee und schicke Umset­zung: “Con­serve the sound” ist ein Online-Archiv für ver­schwindende Geräusche. Die Geräusche eines Wählscheiben­tele­fons, eines Walk­mans, ein­er analo­gen Schreib­mas­chine, eines Münztele­fons, eines 56k-Modems, eines Atom­kraftwerks oder sog­ar ein­er Handy­tas­tatur sind teil­weise schon ver­schwun­den oder ver­schwinden ger­ade aus dem täglichen Leben. Beglei­t­end kom­men Men­schen in Text- und Videoin­t­er­views zu Wort und ver­tiefen den Blick in die Welt der ver­schwinden­den Geräusche.
  • Geoguessr — der xkcd zum geoguessr ist mal wieder her­rlich …
  • Eine Musik der Viel­sprachigkeit — taz.de — Die taz spricht mit Ger­not Böhme über Klang, Musik, Geräusch und Krach (in) der Stadt.

    Es ist ger­ade in diesem Bere­ich, wegen der ras­an­ten Entwick­lung von Tech­nolo­gie, gar nicht abzuse­hen, was noch auf uns zukommt. Deshalb möchte ich lieber bei der Frage bleiben, um was geht es in der Gegen­wart. Ich würde hof­fen, dass die Poli­tik in Bezug auf den Klang der Städte und der Architek­tur nicht bloß beim Lärm und beim Dez­i­bel­w­ert ste­hen bleibt. Es muss viel mehr um den Charak­ter der Sounds gehen. Da gibt es viel pos­i­ti­vere Gestal­tungsmöglichkeit­en. Lärm als solch­er ist nicht das Übel, son­dern es geht um die Frage: Was hören wir eigentlich.

Netzfunde der letzten Tage

Meine Net­z­funde für die Zeit vom 5.3. zum 14.3.:

  • Wie klas­sis­che Musik fasziniert, heute — Hans Ulrich Gum­brecht über­legt in seinem FAZ-Blog “Digital/Pausen” aus Anlass eines (offen­bar recht typ­is­chen) Konz­ertes mit Stre­ichquar­tet­ten und ähn­lichem, warum uns Musik der Klas­sik (& Roman­tik) anders/mehr fasziniert als die der Mod­erne (hier: Brit­ten (!)) -

    Noch inten­siv­er als die Musik unser­er Gegen­wart vielle­icht scheinen viele Stücke aus dem Reper­toire, das wir “klas­sisch” nen­nen, diese Ahnung, diese unsere Exis­tenz grundierende Erin­nerung zu eröff­nen, wieder Teil ein­er Welt der Dinge zu wer­den. Genau das kön­nte die Intu­ition, die vor­be­wusste Intu­ition der Hör­er im aus­geschnit­te­nen Marathon-Hemd sein — die sich zu weinen und zu lachen erlauben, wenn sie Mozart und Beethoven hören.

    (via Pub­lished arti­cles)

  • Abmah­nung für Klaus Graf in der Causa Scha­van | Schmalenstroer.net — Abmah­nung für Klaus Graf in der Causa Scha­van (via Pub­lished arti­cles)
  • John­sons JAHRESTAGE — Der Kom­men­tar — Kom­men­tar zu Uwe John­sons Roman »Jahrestage«
  • Kleines Adreßbuch für Jeri­chow und New York — Rolf Michaelis: Kleines Adreßbuch für Jeri­chow und New York.
    Ein Reg­is­ter zu Uwe John­sons Roman »Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cress­pahl« (1970–1983)
    Über­ar­beit­et und neu her­aus­gegeben von Anke-Marie Lohmeier
    Über­ar­beit­ete, dig­i­tale Neuaus­gabe 2012
  • Abschluss der «Enzyk­lopädie der Neuzeit»: Die Vor­mod­erne in sechzehn Bän­den — Thomas Mais­sen lobt — mit eini­gen Ein­schränkun­gen — in der NZZ die plan­gerecht abgeschlossene EdN:

    «Schluss­be­tra­ch­tun­gen und Ergeb­nisse» run­den das Werk ab. Das ist für eine Enzyk­lopädie ungewöhn­lich, macht aber das pro­gram­ma­tis­che Ziel deut­lich. Die «Enzyk­lopädie der Neuzeit» sam­melt nicht abschliessend Wis­sen, son­dern will die Grund­lage abgeben für neuar­tige Unter­suchun­gen zu his­torischen Prozessen, welche vor den Gren­zen der Diszi­plinen eben­so wenig halt­machen wie vor den­jeni­gen der Natio­nen und Kul­turen. Insofern dient das Werk primär Forschen­den und Lehren­den, die ihren eige­nen Zugang rel­a­tivieren und erweit­ern wollen, durch kom­pakt und reflek­tiert präsen­tierte Infor­ma­tion auf hohem Niveau.

  • Sprach­schmug­gler in der Wikipedia? – Sprachlog — Sprach­schmug­gler in der Wikipedia? (via Pub­lished arti­cles)
  • DDR-Presse (ZEFYS) — Im Rah­men eines von der Deutschen Forschungs­ge­mein­schaft (DFG) geförderten Pro­jek­ts wer­den drei DDR-Tageszeitun­gen dig­i­tal­isiert und im Voll­text erschlossen: Neues Deutsch­land [ND] (23. April 1946 — 3. Okto­ber 1990, voll­ständig in Präsen­ta­tion), Berlin­er Zeitung [BZ] (21. Mai 1945 — 3. Okto­ber 1990, 1945–1964 in Präsen­ta­tion) & Neue Zeit [NZ] (22. Juli 1945 — 5. Juli 1994, Präsen­ta­tion fol­gt)

    Damit ist ein erster, bedeu­ten­der Teil der Tage­spresse der SBZ (Sow­jetis­che Besatzungszone, 1945–1949) und der DDR (Deutsche Demokratis­che Repub­lik, 1949–1990) für die wis­senschaftliche Forschung und Recherche frei zugänglich.

  • Druck­sachen und Ple­narpro­tokolle des Bun­destages — 1949 bis 2005 — In diesem elek­tro­n­is­chen Archiv kön­nen sämtliche Druck­sachen und Stenografis­chen Berichte des Deutschen Bun­destages von der 1. bis zur 15. Wahlpe­ri­ode recher­chiert und im pdf-For­mat abgerufen wer­den.

Archiv und so

Ich glaube, da muss Sascha Lobo noch mal nach­sitzen und nach­le­sen. So inter­es­sant seine Kolumne oft ist, die gestrige ent­täuscht mich. “Ein Archiv des Grauens” ist sie über­ti­tel und geht eigentlich von einem fol­gerichti­gen (und auch dur­chaus nahe­liegen­dem) Gedanken aus: Das Inter­net macht mehr und mehr Kom­mu­nika­tion öffentlich oder zumin­d­est poten­ziell öffentlich, was wiederum heißt, dass wir mehr und mehr “Skan­dale” wahrnehmen/sehen/entdecken kön­nen … Aber dazwis­chen schle­ichen sich Fehler ein. Ich finde schon das Bild des “Archivs” nicht sehr ange­bracht — ein Archiv ist etwas anderes als ein (großer oder gewaltiger oder wie auch immer) Spe­ich­er — zumin­d­est der Idee und dem Anspruch nach. Das scheint mir Lobo allerd­ings zu unter­schla­gen. Und dann natür­lich mal wieder die Fehlrepräsen­ta­tion des radikalen Kon­struk­tivis­mus, da bin ich aber auch empfind­lich ;-). Trotz­dem: Aus dem (radikalen) Kon­struk­tivis­mus geht noch lange nicht her­vor, dass es “egal” ist, ob man aus der Geschichte ler­nen kann, muss oder soll. Lobo stellt das so dar — und er ist damit nicht alleine -, als ob aus der Annahme des Kon­struk­tivimus automa­tisch eine Indif­ferenz gegenüber der Welt ein­hergin­ge. Das ist aber nicht der Fall, zumin­d­est nicht zwangsläu­fig und nicht the­o­rie-notwendig. Doch diesen Fehler wird der Kon­struk­tivis­mus in der öffentlichen Wahrnehmung wohl nicht mehr los …

Digitales Erinnern und Vergessen

Mit großen Worten spart Vik­tor May­er-Schön­berg­er nicht: Eine “Tugend des Vergessens” beschwört er. Und will sie auch in “dig­i­tal­en Zeit­en” umset­zen. Aber eigentlich ist dieses — ziem­lich pos­i­tiv besproch­ene — Buch eine Mogel­pack­ung. Denn Idee, The­ma und Argu­ment May­er-Schön­berg­ers ließe sich auf eini­gen weni­gen Seit­en aus­re­ich­nd genau darstellen — genauer wird er hier auch nicht. Er bläst das nur unheim­lich und fast unerträglich auf.

Worum es geht ist schnell gesagt: May­er-Schön­berg­er hätte gerne, dass dig­i­tale Dat­en ein Ver­falls­da­tum mit auf den Weg bekom­men, an dem sie (automa­tisch) gelöscht, nicht mehr zugänglich wer­den. Sein Argu­ment geht unge­fähr so: Die über Zeit und Raum nahezu unbeschränk­te (das nahezu fehlt bei ihm schon meis­tens) Ver­füg­barkeit von Infor­ma­tio­nen ist schädlich. Schädlich für Indi­viduen und auch für Gesellschaften. Deswe­gen eben das automa­tis­che Löschen dig­i­taler Dat­en (also z.B. Fotos, Zeitschrifte­nar­tikel, Such­dat­en, Pro­file, Einkäufe etc.), um so das “analoge”, vor-dig­i­tale “Erin­nern” zu simulieren. Das ist so weit eine ganz sym­pa­this­che und auch über­haupt nicht verkehrte Idee, auch wenn alter­na­tive Strate­gien im Umgang mit der Ubiq­ui­tät dig­i­taler Dat­en (etwa die Anpas­sung des Ver­hal­tens an diesen Umstand) bei ihm arg forsch bei­seite gewis­cht wer­den.

Geärg­ert an dem Buch hat mich aber zum einen, dass er ewig weit ausholt, eine gesamt Geschichte der Schrift als Medi­um der Erin­nerung noch ein­baut (die auch furcht­bar unge­nau und teil­weise nicht auf dem aktuellen Stand der Forschung ist, so weit ich das überblick­en kann). Und dann natür­lich sein Haupt­prob­lem: Die fehlende Genauigkeit im Umgang mit den Begrif­f­en. Gedächt­nis — Erin­nerung — Archiv ist hier ein einziger Mis­chmasch, in dem nichts unter­schieden wird. So spricht May­er-Schön­berg­er z.B. unen­twegt davon, dass wir dig­i­tale Dat­en erin­nern (und durchs Löschen eben vergessen).  Genau das ist aber falsch: Sich­er, wir archivieren die. Aber sie sind dann noch lange nicht zwan­gläu­fig ein Teil unser­er Erin­nerung. Sie kön­nen es wieder wer­den, müssen es aber nicht. Diesen Unter­schied zwis­chen (Individuums-)internen und exter­nen Infor­ma­tio­nen macht er ein­fach nicht (bzw. nicht aus­re­ichend genau). Daher kommt dann auch die Ver­wirrung von Gedächt­nis und Erin­nerung und Infor­ma­tio­nen, die dig­i­tal ver­füg­bar sind. Macht man diese Unter­schei­dung, nimmt man ihm einen Großteil sein­er großsprecherischen kul­turellen Geste: “Während wir früher mit der Zeit das meiste ver­gaßen, haben wir heute die Möglichkeit, uns an das meiste zu erin­nern.” (199) — genau das bezwei­fle ich eben.1 Das Prob­lem, das muss man ihm zugeste­hen, bleibt aber den­noch: Dig­i­tale Dat­en sind ein­fach­er, länger, ort­sunge­bun­den­er ver­füg­bar, das Archiv und die Find­emit­tel wer­den immer umfan­gre­ichr, schneller und beque­mer.

Mir jeden­falls scheint ein Plä­doy­er für eine Art des “dig­i­tal­en Erin­nerns”, die sich der Spe­icher­möglichkeit­en der Com­put­er und Net­zw­erke bedi­ent, aber auch deren Prob­lematik bewusst macht (sowohl beim Spe­ich­ern eben als auch beim erinnernden/rekonstruierenden Abrufen) eine inter­es­san­tere, angemessenere Reak­tion als das bloße Simulieren der Ungenügsamkeit­en bish­eriger Aufze­ich­nungsmeth­o­d­en im dig­i­tal­en Raum. Ich bin mir näm­lich über­haupt nicht so sich­er wie May­er-Schön­berg­er, dass die “analoge”/vor-digitale Form des Gedächtnisses/Erinnerns eine evo­lu­tionäre Leisung ist, die allein dem Men­schen gemäß ist. Aber das wird sich noch zeigen …

Vik­tor May­er-Schön­berg­er: Delete. Die Tugend des Vergessens in dig­i­tal­en Zeit­en. Berlin: Berlin Uni­ver­si­ty Press 2010. 264 Seit­en. ISBN 978–3‑940432–90‑2.

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  1. Mal ganz abge­se­hen davon, dass das alles für nur einen Bruchteil der Men­schheit gilt — mit aus­re­ichen­dem Zugang zu den entsprechen­den Ressourcen …

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