meyer, meiner buchstabeneuter milchwuchtordnungDas ist mal ein Buch, das mir wirk­lich so manche Nuss zu knack­en gegeben hat: Mein­er Buch­stabeneuter Milch­wuch­tord­nung von Titus Mey­er, erschienen im rühri­gen kleinen Ver­lag Rei­necke & Voß, dessen Pro­gramm lauter so abseit­ige Kost­barkeit­en enthält (und der mir fre­undlicher­weise ein Rezen­sion­sex­em­plar zur Ver­fü­gung gestellt hat). Sel­ten war (und bin) ich mir so andauernd unklar, wie ich zu den hier ver­sam­melten Tex­ten ste­he. Und das ist zunächst mal ein sehr gutes Zeichen — heißt es doch, dass die Texte anre­gen: zum Denken, zum Prüfen, zum Über­legen und auch zum Kno­beln. Denn alle Texte in Mein­er Buch­stabeneuter Milch­wuch­tord­nung beruhen auf ein­er palin­dromis­chen und/oder ana­gram­ma­tis­chen Struk­tur. Und die muss man (wenn man will, gnädi­ger­weise gibt der Band auch eine “Auflö­sung” an) erst ein­mal entschlüs­seln, um das zugrun­dele­gende Form­prinzip zu erken­nen und zu ver­ste­hen.

Zu einem Ende bin ich damit immer noch nicht gekom­men, weit­er­hin habe ich eigentlich keine wirk­liche Posi­tion: auf der einen Seite ste­ht die Bewun­derung ob der Kun­st­fer­tigkeit und die Begeis­terung am Rät­seln. Auf der anderen Seite aber auch viel Rat­losigkeit, weil ich (mich) oft nicht so recht entschei­den kann, ob die Gedichte wirk­lich für sich allein ste­hen kön­nen oder doch nur ein Beispiel für abstrak­te For­müber­legun­gen und ‑spiel­ereien sind. Vielle­icht ist das falsch gedacht, aber wenn ich ihre Pro­duk­tions­beson­der­heit­en und damit aber auch ihre for­male Bed­ingth­eit probe­weise außen vor lasse, sind mir viele Texte auch nach mehrma­ligem Lesen noch fremd: Ich finde keinen Ansatzpunkt, der mir eine Annäherung ermöglicht. Andere zün­den sofort, machen Spaß oder öff­nen neue Per­spek­tiv­en — tun also genau das, was ich mir von Gedicht­en erhoffe.

Also doch alles wie bei einem gewöhn­lichen Lyrik­band? Dur­chaus (auch der Titel ist ja dur­chaus vorstell­bar) — aber schon der Ver­gle­ich ist ja wiederum eigentlich falsch. Denn was ist denn so außergewöhn­lich an Mey­ers Werken? Doch eigentlich nur die Sel­tenheit und Kon­se­quenz ihrer for­malen Gestalt und deren Entste­hung, die in großen Teilen aktueller Lyrik so nicht vorkom­met. Und schon gar nicht so offen­gelegt vorkommt: Denn Mey­er gibt im Inhaltsverze­ich­nis zu jedem Text das Bau- & Form­prinzip an, mit dem Ver­weis auf sein Ord­nungss­chema legt der Dichter sozusagen seine Werk­statt bloß und macht damit auch deut­lich, dass seine Texte immer eine dezi­dierte Form haben (und hat mir in eini­gen Fällen über­haupt erst ver­rat­en, wie der Text funk­tion­iert …). Das ist vielle­icht der größte Unter­schied zu manch ander­er aktueller Lyrik, die sich um for­male Momente wenig bis gar nicht küm­mert (mit Aus­nahme von rhyth­mis­chen und klan­glichen Aspek­ten eventuell) oder aus anderen Grün­den auf gewöhn­lichere, tra­di­tionellere Momente set­zt. Was Mey­er aber davon abge­se­hen auf jeden Fall ausze­ich­net, ist der Umstand, dass seine Lyrik ihre Schriftlichkeit kon­se­quent ernst nimmt, sie fast schon zele­bri­ert, den Buch­staben (und manch­mal auch größere Entitäten wie etwa Sil­ben) als für sich ste­hende Werte in der und für die Lyrik ins Zen­trum rückt. Von Buch­staben-Palin­dromen über Zeilen-Buch­staben-Palin­drome, Sator-Quadrat und das ver­rück­te Ver­tikalpalin­drom (bei dem der Text nach ein­er 180°-Drehung den gle­ichen Text gibt!) über Sil­ben- & Wort-Palin­drome zu Ana­gram­mgedicht­en, Pan­gram­mgedicht­en (mit allen Buch­staben des Alpha­bets) und Schüt­tel­reimen reicht die Band­bre­ite der kon­struk­tivis­tis­chen Gedichte (wenn ich die mal vorüberge­hend so nen­nen mag) bei Mey­er denn auch — man kann Mein­er Buch­stabeneuter Milch­wuch­tord­nung denn auch dur­chaus als Kom­pedi­um der sel­te­nen For­men lesen.

Mon­strum, dies auf­grund
seel­is­chster Meis­ten ver­gaste
Zaumti­er Palin­drom.April­mond (die Schlussverse)

Vielle­icht zeigen Mey­ers Texte aber doch mehr als nur den kun­st­fer­ti­gen Umgang mit Sprache, der eine gewisse arti­fizielle Freude am ver­track­ten Rät­sel­haftigkeit meines Eracht­ens nicht ver­ber­gen kann. Vielle­icht geht es hier auch um die Negierung oder bess­er noch, die Zer­störung von Sin­ner­wartun­gen: Man kön­nte vielle­icht sagen, erst solche Gedichte sind der Free Jazz der Lyrik, denn sel­ten (na gut, Dada funk­tion­iert auf dieser Ebene ähn­lich) bis gar nicht wird die Mate­ri­al­ität der Sprache der Lyrik so radikal gedacht und umge­set­zt. Vielle­icht kommt ja daher meine ini­tiale “Unzufrieden­heit” (blödes Wort, viel zu viel …) mit vie­len Tex­ten — weil sie ein­fach sind, was und wie sie sind und nicht irgend­was ver­mit­teln, erzählen, zeigen, beweisen sollen und wollen — und daran scheit­ert dann mein kryp­to-hermeneutis­ches Lesen zumin­d­est beim ersten Durch­gang regelmäßig, es stolpert sozusagen beim Gang auf der “Hermeneu­tik­treppe” (um einen der schö­nen Mey­er­schen Neol­o­gis­men zu ver­wen­den). Aber das macht gar nichts: Denn erstens ist das ein guter Anlass, mal wieder über Lek­türeer­wartun­gen und Lesetech­niken nachzu­denken und andere Herange­hensweisen zu proben, und zweit­ens zeigt es eben, dass Lit­er­atur mehr sein kann als nur sinnhaftes Erzählen oder Beschreiben in Prosa oder Lyrik (und dann sog­ar richtig gut wird). Gut, das ist natür­lich über­haupt keine neue Beobach­tung und ger­ade in zeit­genös­sis­ch­er Lyrik merkt man das auch an anderen Stellen — aber eben nicht so wie bei Mey­er, der das Lesen auf seine Form viel stärk­er zurück­wirft als andere Autorin­nen das ver­mö­gen.

Der Ver­gle­ich mit dem Free Jazz passt vielle­icht auch insofern, als aus diesen Gedicht­en immer wieder eine große Frei­heit spricht. Das ist natür­lich para­dox: Frei­heit in ein­er kün­stlichen, stren­gen Form — aber ger­ade sie ist es, die sie ermöglicht, weil sie das Sin­ndik­tat ein­fach aufhebt. Auch wenn ich das in mein­er Lek­türe sehr stark mache, heißt das aber auch nicht, dass die Mey­er­sche Lyrik vol­lkom­men sinnbe­fre­it ist. Mit etwas Spürsinn und Kreativ­ität kann man hier dur­chaus faszinierende Zusam­men­hänge find­en (ganz egal, ob die vom Autor intendiert oder gese­hen wur­den …) — nicht immer gelingt das für ganze Gedichte, aber doch für einzelne Wort- und Vers­grup­pen. Dann kom­men aber wieder Brüche, “ent­täuschte” Erwartun­gen, Wider­sprüche und Kon­fronta­tio­nen ins Spiel. Und in diesem Zusam­men­spiel aus strenger (nachger­ade math­e­ma­tis­ch­er) Kon­struk­tion und Inko­hären­zen auf allen Sin­nebe­nen ist das Lyrik, die unbe­d­ingt heutig, aktuell ist.

Und noch ein Gedanke, der beim Lesen in diesem Band immer wieder kommt: Sprache ist eine Wun­dertüte. Und das ist natür­lich ein Punkt, für den ich mich immer wieder neu begeis­tern kann … Mey­er löst Sprache wie nur wenig Lit­er­atin­nen aus dem Korsett der All­t­agsver­wen­dung und ihrer “nor­malen” Bedeu­tung: Das ist ja immer die Krux für Sprachar­beit­er, dass ihr Medi­um und Mate­r­i­al so nor­mal, so alltäglich ist (und deshalb so wenig kun­stvoll — auswe­ichen nur im “Stil”) — oder es wird schnell sehr fremd (Joyce oder Schmidt zum Beispiel, selb­st dem in dieser Hin­sicht viel harm­loseren Jir­gl wird das immer wieder vorge­hal­ten). Mein­er Buch­stabeneuter Milch­wuch­tord­nung ist auch in ander­er Hin­sicht eine sprach­liche Wun­dertüte — und daran zeigt sich vielle­icht erst die Meis­ter­schaft Mey­ers: Auch wenn die Kon­struk­tion­sprinzip­i­en gle­ich oder ähn­lich sind, so haben doch alle daraus resul­tieren­den Gedichte ihren eige­nen Ton, ihr eigenes Set­ting, ihren speziellen Klang, ihren indi­vidu­ellen Stil von ver­spiel­ten Clownereien bis zu düsteren Nach­den­klichkeit­en.

Auf jeden Fall kann ich nur rat­en, das unbe­d­ingt selb­st auszupro­bieren — wenige Lek­türen sind so anre­gend im eigentlichen Sinne. Mein­er Buch­stabeneuter Milch­wuch­tord­nung ist faszinierend und schön, streng und ver­spielt, spaßig und tief­sin­nig. Und damit ist es ein­fach ein gutes Buch, denn es nötigt der Leserin viel Aktiv­ität ab: Das kann man nicht ein­fach so wegkon­sum­ieren, hier muss man mitar­beit­en. Aber auch: Hier darf und kann man das! Und sich­er ist auch: Mey­ers Texte bieten viele Möglichkeit­en, eigene Zugänge zu find­en, über die kon­struk­tive Schärfe natür­lich, aber auch über das Moment der Klan­glichkeit und der sprach­lichen Raf­fi­nesse über­haupt, aber auch für Wort­bil­dungs­fans gibt es hier ganz tolle Ent­deck­un­gen (der Titel ver­weist ja schon darauf, darüber alleine — der Schlussvers aus “Wurm­lochdich­tung” — ließe sich noch aus­giebig nach­denken …) zu machen — da ist für (fast) jeden etwas dabei …

Staat­sex­a­m­en­sangst?
Staat, Sex, Amen sangst
du Rabe. Leben?
Dura­bel eben!18

Titus Mey­er: Mein­er Buch­stabeneuter Milch­wuch­tord­nung. Leipzig: Rei­necke & Voß 2015. 83 Seit­en. ISBN 9783942901154.