»Nächstens mehr.«

Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

noch ein langweiliger abend: mozart und die frauen

das war aber wirk­lich nichts, trotz der hil­fe von der mei­ner­seits sehr geschät­zen mar­ti­na gedeck. pia­nist & diri­gent sebas­ti­an knau­er ver­wen­det offen­bar lei­der mehr zeit beim fri­seur und auf der son­nen­bank als beim nach­den­ken über mozarts musik – das war der­ma­ßen bana­les gedu­del, das hat selbst mozart nicht ver­dient. und das publi­kum klatscht auch noch wie blöd dem eit­len geck – der sich, ganz typisch für sol­che leu­te, auf der büh­ne präch­tig pro­du­ziert – und sehr, sehr lan­ge bit­ten lässt, bevor er sich noch ein­mal ver­beugt…

es ist alles nur ein traum. mozarts frü­he gön­ne­rin, die baro­nin wald­stät­ten, ima­gi­niert sich ein kon­zer­pau­sen­ge­spräch mit leo­pold, dem vater des kom­po­nis­ten. sebas­ti­an und wolf­gang knau­er habe sich das aus­ge­dacht, die­sen sym­pa­the­ti­schen rück­blick auf mozart und sei­ne frau­en­ge­schich­ten, sei­ne galan­te­rien und affä­ren vor und nach der hoch­zeit. mar­ti­na gedeck durf­te der baro­nin ihre stim­me lei­hen: char­mant und läs­sig plau­dert sie sich in der glas­hal­le der main­zer rai­li­on-zen­tra­le durch den abend der mit­tel­rhein musik-momen­te. und sebas­ti­an knau­er macht die musik dazu – zwei der bekann­te­ren kla­vier­kon­zer­te hat er sich dafür aus­ge­sucht, von mozart natür­lich: das „jeunehomme“-konzert in es-dur und das spä­te d‑moll-kon­zert. auch knau­er, der zugleich als pia­nist und pseu­do-diri­gent auf­trat, agier­te eher läs­sig. sei­ne spär­li­chen ansät­ze, vom flü­gel aus zu diri­gie­ren, waren sowie­so recht über­flüs­sig: die koblen­zer staats­phil­har­mo­nie befand sich ganz offen­sicht­lich auf ver­trau­tem ter­rain und spiel­te auch ohne sei­ne hil­fe sehr geschlos­sen und zuver­läs­sig. die über­ra­schun­gen und ver­rück­ten kas­pe­rei­en mozarts, die der text immer wie­der auf­griff, schlu­gen sich in die­ser musik frei­lich nicht wie­der. das war eine rund­um ver­nünf­ti­ge, manch­mal sogar ein wenig bie­de­re inter­pre­ta­ti­on. sebas­ti­an knau­er spiel­te die kon­zer­te sehr rou­ti­niert und so voll­kom­men gelas­sen, dass sich der ein­druck gepfleg­ter lan­ge­wei­le nicht immer ver­mei­den ließ. auch sei­ne pia­nis­ti­schen fähig­kei­ten bean­sprucht er nur mäßig, da gibt es nur ansät­ze zu einer dif­fe­ren­zier­ten arti­ku­la­ti­on und kaum klang­nu­an­cen. aller­dings waren die umstän­de auch nicht die bes­ten: zunächst brach­te die schwül-sti­cki­ge atmo­sphä­re die musi­ker dazu, ihren frack abzu­le­gen. und dann wur­de es auch noch rich­tig feucht: das pras­seln der was­ser­mas­sen auf dem glas­dach ließ den beginn des d‑moll-kon­zer­tes völ­lig unter­ge­hen, da konn­te auch knau­er nichts mehr ret­ten. am bes­ten gelan­gen ihm aller­dings sowie­so bei bei­den kon­zer­ten die schluss­sät­ze: dem jeu­ne­hom­me-kon­zert gab er so einen flin­ken und ein biss­chen augen­zwin­kernd, frech ver­spiel­ten abschluss. und selbst das bei ihm eher schwer­fäl­li­ge und gemüt­li­che d‑moll-kon­zert trieb er zum ende in die mozart­sche über­mut: tur­bu­lent ließ er die musik immer wie­der um sich selbst krei­seln.

georg kleins ideen von den deutschen

georg klein zählt ja nicht gera­de zu mei­nen lieb­lings­au­toren – wer schrift­stel­ler wie jirgl, kurz­eck etc. schätzt, wird das auch sel­ten tun. als klei­ne nacht­lek­tü­re zwi­schen­durch lässt er sich aber noch aus­hal­ten. etwa sein erzäh­lungs­band von den deut­schen (ham­burg: rowohlt 2002). der ist ziem­lich typisch für sei­ne art zu schrei­ben – näm­lich größ­ten­teils harm­los – oder sogar ganz? jeden­falls ist das zwei­fel­los ganz und gar glän­zend erzählt. aber auch oft mit dem ein­druck, es gin­ge nur noch um das erzäh­len an sich: das mit­tel ist zum zweck gewor­den. typisch ist dafür die per­fek­te beherr­schung des erzäh­le­ri­schen hand­werks. aber es wird auch bloß noch als hand­werk betrie­ben, nicht mehr als kunst. dafür fehlt den tex­ten näm­lich die dring­lich­keit, der durch nichts zu bän­di­gen­de drang zur äuße­rung, zur mit­tei­lung, der sich nur in der künst­le­ri­schen for­mung, der text­kon­sti­tu­ti­on äußern kann. ein neben georg klein für eine sol­che schreib­wei­se exem­pla­risch ste­hen­der autor ist etwa bodo kirch­hoff, auch hel­mut kraus­ser vefällt sol­chen ten­den­zen manch­mal. das ist ja alles über­haupt nicht ehren­rüh­rig. was mich an sol­chen autoren (weni­ger an kirch­hoff, dafür beson­ders an klein und kraus­ser) am meis­ten stört, ist ihre behaup­tung und womög­lich sogar über­zeu­gung, das sei wirk­lich schon gro­ße kunst, sei erzäh­len auf der höhe der zeit oder wie auch immer man das aus­drü­cken will. und das stimmt ein­fach nicht. es muss ja gar nicht immer moder­nis­tisch oder (for­mal) avant­gar­dis­tisch sein. aber gera­de die­se erzäh­lun­gen von klein sind ein­fach nur net­te unter­hal­tung, die so tun, als sei­en sie was beson­de­res – genau das rich­ti­ge eigent­lich für das heu­te offen­bar (wenn man sich die ver­kaufs­zah­len bestimm­ter bücher, etwa – auch so ein lieb­lings­bei­spiel von mir – dani­el kehl­mann, anschaut) weit ver­brei­te­te pseu­do-bil­dungs-bür­ger­tum, das nur noch die erbärm­li­chen res­te von bil­dung besitzt, sich aber immer noch in der pri­veli­gier­ten lage der ken­ner und wis­sen­den glaubt. sol­che leser haben an die­sen erzäh­lun­gen bestimmt viel spaß, dafür sorgt auch noch die ten­denz zum alle­go­ri­schen auf­bau der geschich­ten – aber letzt­lich scheint es mir fast immer irgend­wie ins lee­re zu lau­fen: man spürt die bemü­hun­gen und ist ver­stimmt – so funk­tio­niert kunst nicht, inso­fern er sein selbst­ge­steck­tes ziel per­ma­nent knapp zu ver­feh­len scheint, knapp unter der mess­lat­te ihn die kräf­te ver­las­sen. was bleibt, ist ein­fach harm­lo­se augen­wi­sche­rei, zudem in vie­len tei­len erschre­ckend schnul­zig und har­mo­nie­see­lig (etwa „der gute ray“), auch mal mit exo­ti­schen zuta­ten (vor­wie­gend loka­li­tä­ten, „lm lan­de od“). erschre­ckend ist das, denn gera­de die hier ver­brei­te­te harm­lo­sig­keit ist ja beson­ders gefähr­lich: sie täuscht über den wah­ren zustand von kunst und welt, sie sug­ge­riert längst nicht mehr vor­han­de­ne mög­lich­kei­ten des guten, gelin­gen­den, erfül­len­den lebens, des rich­ti­gen ver­hal­tens und führt den leser damit nicht nur in eine ästhe­ti­sche (und phi­lo­so­phi­sche) fal­le, son­dern auch unbarm­her­zig ins abseits, ins reich der lügen. und von dort ist es dann wirk­lich nicht mehr weit bis ins reich der vor­abend-tv-seri­en – das ist dann wahr­schein­lich nur noch eine fra­ge der unter­schied­li­chen her­kunft, erzie­hung, des diver­gie­ren­den habi­tus: georg klein als tv-schnul­ze für leser….

pathos hoch drei: theodorakis’ “canto general” in wiesbaden

es geht doch nichts über pure grö­ße. zumin­dest dann nicht, wenn man den „can­to gene­ral“, den „gro­ßen gesang“ von mikis theod­ora­kis auf die büh­ne brin­gen will.

und gerd rix­mann, musik­leh­rer an der guten­berg­schu­le in wies­ba­den, will genau das: eine büh­ne bau­en, mit musik, tanz und film – auch wenn theod­ora­kis eigent­lich nur ein ora­to­ri­um schrieb. aber das reicht ihm ein­fach nicht – was groß ist, lässt sich auch noch ver­grö­ßern. es ist nicht das ers­te mal, dass er so ein unter­neh­men als chor­pro­jekt star­tet: seit 1993 ist es bereits das fünf­te, wenn auch die vor­gän­ger nicht ganz so groß und mul­ti­me­di­al waren. begon­nen hat es mit einer „car­mi­na burana“, dann kam die „schöp­fung“ als eine art „chor­thea­ter“ – „aber das hat nicht so rich­tig gut funk­tio­niert“, gesteht rix­mann ein. das theod­ora­kis-pro­jekt hat für das publi­kum zumin­dest ziem­lich gut funk­tio­niert und ist sehr beju­belt wor­den bei der pre­miè­re im aus­ver­kauf­ten wies­ba­de­ner kur­haus.

das beson­de­re die­ses pro­jek­tes ist frei­lich nicht (nur) sei­ne grö­ße, son­dern auch sei­ne orga­ni­sa­ti­on. denn rix­mann geht zwar von den res­sour­cen sei­ner schu­le, vor allem den von ihm gelei­te­ten schul­chö­ren, aus. doch er wei­tet das gan­ze noch erheb­lich aus: ein zusätz­li­cher pro­jekt­chor ver­dop­pelt die sän­ger­zahl auf rund 300 stim­men. hier ver­sam­meln sich ehe­ma­li­ge, inter­es­sier­te und sän­ger aus ande­ren chö­ren, im alter von 14 bis 75 jah­ren. für rix­mann ist das auch ein mit­tel, sich von den vie­len ande­ren leis­tungs­star­ken chö­ren der regi­on abzu­set­zen, ein eige­nes pro­fil zu ent­wi­ckeln. und es scheint­zu klap­pen – schließ­lich sind nach den schnup­per­pro­ben und einem drei­vier­tel jahr sams­täg­li­cher pro­ben noch 150 sän­ger im pro­jekt­chor und erfah­ren dort die „beglü­ckung des immer wie­der sin­gens.“ auch für die ande­ren tei­le der auf­füh­rung ziegt rix­mann frei­wil­li­ge hin­zu: „die leu­te sind sehr offen für ideen“, sagt er, „wenn man auf sie zugeht.“ er kann dabei sowohl auf die kon­tak­te aus sei­ner lan­gen pra­xis zurück­grei­fen als auch gezielt suchen. der regis­seur edu­ar­do lai­nos ist etwa ein schü­ler­va­ter, die zwei­te tanz­grup­pe wird von einem chi­le­nen gelei­tet, den ent­wick­ler des films hart­mut jahn hat er sich extra aus­ge­sucht.

so wird im grun­de in der umfas­sen­den und nicht all­täg­li­chen kom­bi­na­ti­on von musik, gesang, tanz­thea­ter und film­por­jek­tio­nen ein ganz neu­es werk. er häuft pathos über pathos, mit allen mit­teln – eine ergrei­fen­de und angrei­fen­de sache. denn das immer ganz bewusst auch eine poli­tisch gedach­te auf­füh­rung, die sich eben nicht nur im wohl­klang – den gibt es, da ist rix­mann dann als ver­sier­ter chor­lei­ter schon hin­ter­her, natür­lich auch – , son­dern eben auch in der huma­nen bot­schaft des can­to mani­fes­tiert: der freu­de an der beson­de­ren schön­heit des lan­des, der trau­er über sei­ne aus­nut­zung und die dik­ta­tu­ren, die gewiss­heit und hoff­nung auf eine mög­li­che bes­se­re gesell­schaft.

dafür hat er dem „can­to gene­ral“ auch sei­ne eige­ne dra­ma­tur­gie ver­passt und die rei­hen­fol­ge geän­dert: er möch­te eine „klei­ne geschich­te erzäh­len“, von der ent­ste­hung ame­ri­kas, der lie­be zum land, von der natur und der mut­ter erde, von den tie­ren und natür­lich von den men­schen. rix­mann kennt sich damit bes­tens aus, schließ­lich hat er selbst in den 70ern fünf jah­re in süd­ame­ri­ka, in uru­gu­ay, gelebt und hat vie­les direkt erfah­ren – unter ande­rem die gro­ße ver­eh­rung des „can­to“ von neru­da in der süd­ame­ri­ka­ni­schen bevöl­ke­rung und die bedrü­ckung durch dik­ta­tu­ren.

die geschich­te ergibt sich vor allem aus den cho­reo­gra­phien von edu­ar­do lai­nos, der

mit sei­nen 60 tän­zern, lai­en und pro­fis glei­cher­ma­ßen, in mosa­ik-art lau­ter klei­ne geschich­ten geschaf­fen: mal plas­tisch, mal ver­schwie­gen-sym­bo­lisch. genau­so eigen­stän­dig funk­tio­niert der film, den zwei stu­den­ten unter lei­tung von hart­mut jahn, pro­fes­sor für video & film an der fach­hoch­schu­le in mainz, als semes­ter­ar­beit ange­fer­tig haben: refle­xio­nen über text und musik des „can­to“, die sowohl in form abs­trak­ter sequen­zen als auch kon­kre­ter bil­der den abend beglei­ten.

die orga­ni­sa­ti­on eines sol­chen pro­jek­tes ist aber auch ein enor­mer auf­wand für eine per­son: „das kann man nicht ein­fach so machen“, gesteht der diri­gent, „das kos­tet mich ein hal­bes jahr mei­nes lebens.“ denn alle fäden lau­fen immer bei ihm zusam­men, ob es um den büh­nen­auf­bau, die kos­tü­me oder die musik geht – neben­bei muss er ja auch noch diri­gie­ren. und immer­hin rich­ten sich fast 400 mit­wir­ken­de nach sei­nem stab – und das klappt erstaun­lich rei­bungs­los. als solis­ten konn­te rix­mann die zwei wies­ba­de­ner sän­ger her­an­zie­hen: kat­ja boost run­dem, fül­li­gem alt und den in jeder situa­ti­on bril­lan­ten bari­ton eike wim schul­te. und das alles simul­tan ergibt eben pathos pur.

abtrünnig: eine trümmerlandschaft aus text

eine inten­si­ve und denkauf­wän­di­ge lek­tü­re: rein­hard jirgl: abtrün­nig. roman aus der ner­vö­sen zeit. mün­chen: han­ser 2005. ich bin jetzt nach einer lan­gen – meh­re­re wochen – lese­rei­se bis ans ende vor­ge­drun­gen. und ich kann jedem nur emp­feh­len, sich die­ser erfah­rung, die manch­mal zwar den cha­rak­ter eines exer­zi­ti­ums anneh­men kann, zu unter­zie­hen. den jirgl, schon lan­ge einer mei­ner favo­ri­ten unter den noch leben­den und schrei­ben­den autoren, hat hier ein beein­dru­cken­des kunst­werk geschaf­fen. und als sol­ches muss man es auch ganz bewusst und offen­siv rezi­pie­ren: als kunst – nicht als unter­hal­tung, denn als bett­lek­tü­re taugt die­ser roman sicher­lich über­haupt nicht.

da ist zunächst ein­mal sei­ne per­so­na­le son­der­or­tho­gra­phie, die hier – wie etwa auch in der genea­lo­gie des tötens – sehr eigen­wil­lig erscheint. v.a. scheint sie ihre sys­te­ma­ti­sie­rung ein wenig ver­lo­ren zu haben. kri­ti­ken the­ma­ti­sie­ren die­se sehr augeschein­li­che beson­der­heit der spä­te­ren jirgl­schen tex­te beson­ders gern. in der tat muss man aber sagen, dass sie ent­ge­gen etwa­iger befürch­tun­gen kein lese­hin­der­nis dar­stellt – sie wird sehr schnell sehr ver­traut. was sie aller­dings gera­de in abtrün­nig nicht wird, ist voll­kom­men ver­ständ­lich: vie­les bleibt zumin­dest bei der ers­ten lek­tü­re (viel­leicht hül­fe da eine sys­te­ma­ti­sche durch­drin­gung?) auf dem niveau der spie­le­rei, weil sich einer­seits kei­ne bedeu­tungs­zu­wachs oder ‑dif­fe­ren­zie­rung erken­nen lässt, ande­rer­seits auch weder eine absicht noch eine wenigs­tens ver­mut­ba­re regel­haf­tig­keit. in man­chen pas­sa­gen wirkt die­se extre­me ver­meh­rung der signi­fi­kan­zen oder zumin­dest außer­or­dent­li­che ver­deut­li­chung der viel­deu­tig­keit des geschrie­be­nen wor­tes, ins­be­son­de­re natür­lich durch die (ortho-)graphische eigen­wil­lig­keit, wie eine künst­lich for­cier­te annä­he­rung an die münd­lich­keit, das ora­le erzäh­len. ande­rer­seits ist sie in ihrer viel­ge­stal­tig­keit, die ja weit über die ver­ein­heit­li­chen­de, nor­mier­te (und damit ein­schrän­ken­de) regel­or­tho­gra­phie hin­aus­geht, auch offen­bar der ver­such der dis­am­bi­gu­ie­rung – der aller­dings wie­der dazu führt, das das schrift­bild extrem her­me­tisch, abschre­ckend & unüber­sicht­lich wirkt & auch tat­säch­lich wird: ent­zif­fer­bar ist das kaum noch, weil das sys­tem nicht so ein­fach zu durch­schau­en ist (ist es über­haupt ein sys­tem?). und das führt schließ­lich auch dazu, dass man ihm leicht den vor­wurf der spie­le­rei machen kann. tat­säch­lich scheint man­ches auch nur das zu sein, lässt sich man­che wort-ver­for­mung auch kaum anders auf­fas­sen. in sei­ner gesamt­heit ist das, wenn man außer­dem noch die for­ma­len irre­gu­la­ri­en und stol­per­stei­ne – etwa die quer­ver­lin­kun­gen und text­bau­stei­ne – bedenkt, ein kom­plett ver­min­ter text und damit (auch) ein angriff auf den leser: die irre­gu­lä­ren sat­zei­chen als klei­ne spreng­kör­per, als angrif­fe auf das schnel­le, ein­fa­che & gewöhn­li­che ver­ste­hen.

in abtrün­nig ist die geschich­te, die fabel, weit­ge­hend zur neben­sa­che gewor­den – noch nie war das bei jirgl (soweit ich sehe) so sehr der fall wie hier. im kern geht es um zwei män­ner, zwei lie­ben­de, die auf ver­schlun­ge­nen wegen nach ber­lin kom­men und dort auf tra­gisch-gro­tes­ke wei­se am und im leben schei­tern. das ist aber auch schon wie­der nur halb rich­tig, weil der zwei­te lie­ben­de, ein aus der ddr-nva in den bgs über­nom­me­ner grenz­schüt­zer, der einer flüch­ten­den ost­eu­ro­päe­rin zum ille­ga­len grenz­über­gang nach deutsch­land ver­hilft, auf der suche nach ihr nach ber­lin kommt, dort als taxi­fah­rer arbei­tet, sie wie­der­fin­det und just in dem moment, als sie zurück in ihre hei­mat gekehrt ist, um für die geplan­te hei­rat die not­wen­di­gen papie­re zu orga­ni­se­ren, von ihrem offen­bar psy­chisch gestör­ten bru­der ersto­chen wird, weil also die­ser zwei­te lie­ben­de, des­sen geschich­te natür­lich durch begeg­nung mit der des ande­ren man­nes ver­knüpft ist, gar kei­ne beson­ders gro­ße rol­le spielt.

wesent­li­cher als das ist aber das moment, der abtrün­nig als „roman aus der ner­vö­sen zeit“ cha­rak­te­ri­siert. das ist das autis­ti­sche mono­lo­gi­sie­ren, das durch­bro­chen wird von essay­ar­ti­gen pas­sa­gen und geni­al erzähl­ten tei­len. natür­lich spie­gelt das wie­der­um nur das gro­ße, zen­tra­le pro­blem der haupt­fi­gur und der moder­nen gesell­schaft über­haupt: die suche nach dem ich, der iden­ti­tät, dem holis­ti­schen sub­jekt, dem eige­nen lebens- und sinn­ent­wurf – ein suche, die gran­di­os schei­tern muss und nur frag­men­te, zer­stö­rung und beschä­dig­te personen/​figuren/​menschen hin­ter­lässt. der ein­druck eines gro­ßen bruch­wer­kes bleibt dabei nicht aus: frag­men­tier­te per­sön­lich­kei­ten, sich auf­lö­sen­de sozia­le bin­dun­gen und gewis­sen­hei­ten, kurz eine recht radi­kal aus­ge­rich­te­te gesell­schafts­kri­tik sucht ihre form – und ver­liert sich dabei man­ches mal in essay-ein­schü­ben: abtrün­nig ist in ers­ter linie ein/​das buch vom schei­tern, sei­ne bibel sozu­sa­gen: „es gibt kein rich­ti­ges leben im fal­schen“ – oder: das gelin­gen ist ganz und gar unmög­lich gewor­den – & das muss man auch genau so kate­go­ri­al for­mu­lie­ren, denn es gilt nicht nur für die figu­ren des tex­tes, son­dern auch für ihn selbst. des­halb ist er so, wie er ist; ist er in einer nach her­kömm­li­chen maß­stä­ben defi­zi­tä­ren ver­fas­sung – er kann natür­lich auch nicht mehr anders sein, das lässt die moder­ne welt, die „ner­vö­se zeit“ nicht mehr zu. und genau wie die­se ist er eine ziem­lich gewal­ti­ge zu-mutung für den leser. denn er will ja nichts ande­res, als die­se schö­ne neue welt erklä­ren oder min­des­tens auf­zei­gen – des­halb natür­lich auch die (zeit­wei­se durch­aus über­hand neh­men­den) essay-pas­sa­gen, die den kunst­cha­rak­ter des gesam­ten tex­tes beein­flus­sen – & das durch­aus mit grenz­wer­ti­gen ergeb­nis­sen. denn im gan­zen ist das wohl so etwas wie ein anar­chis­ti­sches kunst­werk – hoff­nungs­los unüber­sicht­lich, kreuz und quer ver­linkt durch die selt­sa­men „link“-kästen, die ver­wei­se vor und zurück im text, die ein­ge­streu­ten zita­te und auch wie­der­ho­lun­gen, neu­an­läu­fe der beschrei­bung einer situa­ti­on aus ver­schie­de­nen blick­win­keln. das alles hat zum ergeb­nis, das der roman, der vom tod der gesell­schaft, vom tod des sozia­len lebens, spricht, auch den tod des romans beschreibt, exem­pli­fi­ziert – und auch refle­xiert. denn auch wenn es gar nicht oder höchst sel­ten expli­zit geschieht – vie­les im text (etwa schon die daten der nie­der­schrift (oder die behaup­te­ten daten – schließ­lich befin­den wir uns mit ihnen immer noch im fik­tio­na­len text)) deu­tet auf eine refle­xi­on der mög­lich­kei­ten des schrei­bens in einer ner­vö­sen, defi­zi­tä­ren, ver­kom­me­nen und immer wei­ter ver­kom­men­den gesell­schaft hin. und wenn ein text wie abtrün­nig das ergeb­nis die­ser pro­zes­se ist, kann man nun sagen, dass das schrei­ben unmög­lich oder gar obso­let wird? das scheint mir zwei­fel­haft – denn trotz sei­ner unzwei­fel­haft zu kon­sta­tie­ren­den schwä­chen ist abtrün­nig als gesam­tes doch ein beein­dru­cken­des kunst­werk bemer­kens­wer­ter güte. inter­es­sant wird aller­dings die fort­set­zung – mir scheint es gera­de mit die­sem buch so, als schrie­be sich der sowie­so schon am ran­de des ästhe­ti­schen und ins­be­son­de­re des lite­ra­ri­schen dis­kur­ses ste­hen­de jirgl immer mehr ins abseits: ob er die­se bewe­gung noch frucht­bar wei­ter­füh­ren kann?

wm vorzeitig beendet

guten tag, mei­ne damen und her­ren.

die euro­päi­sche kom­mis­si­on hat am spä­ten sams­tag­abend in einer eil­ver­ord­nung die fifa wm 2006 in deutsch­land für been­det erklärt. wie die kom­mis­si­on in einer pres­se­er­klä­rung mit­teil­te, sei nach dem aus­schei­den von bra­si­li­en die fort­füh­rung des tur­niers hin­fäl­lig: da nur noch euro­päi­sche staa­ten um den titel kämp­fen wür­den, sei­en wei­te­re k.-o.-spiele nicht nötig. die eu sei ohne­hin bereits sie­ger. klein­lich halb­fi­nal- und final­spie­le sei­en der euro­päi­schen inte­gra­ti­on abträg­lich und zudem ange­sichts der höchst ange­spann­ten gesamt­eu­ro­päi­schen finanz­la­ge nicht zu ver­tre­ten. die ein­ge­spar­ten mit­tel sol­len für agrar­sub­ven­tio­nen genutzt wer­den.

wir sind welt­meis­ter … hur­ra, hur­ra.

(damit also doch noch ein ein­trag zur wm – steht heu­te im „ver­bo­ten“ der taz.)

strauss und das musiktheater – ein weites, aber sehr verholztes und ausgelaugtes feld

sam­mel­bän­de zu bespre­chen ist meist kei­ne beson­ders dank­ba­re auf­ga­be – das edi­tie­ren aller­dings oft auch nicht. die regel­mä­ßig über­gro­ße zahl der bei­trä­ge, ihre metho­di­sche und the­ma­ti­sche viel­falt und oft auch noch ihre stark diver­gie­ren­de qua­li­tät machen ein ein­heit­li­ches urteil fast unmög­lich. das gilt auch für den band „richard strauss und das musik­thea­ter“, der die vor­trä­ge der gleich­na­mi­gen inter­na­tio­na­len fach­kon­fe­renz in bochum 2001 ver­sam­melt. schon der titel zeigt ja an, wie umfas­send das spek­trum sein wird. zwei dut­zend bei­trä­ge unter­schied­lichs­ten umfangs und erkennt­nis­dich­te fül­len dann auch gut vier­hun­dert sei­ten. und die her­aus­ge­be­rin julia lieb­scher betont auch aus­drück­lich, das richard strauss aus allen mög­li­chen blick­win­keln betrach­tet wer­den soll, im ver­ein mit thea­ter- und film­wis­sen­schaft, mit der libretto­for­schung und der dra­ma­tur­gie. den ange­streb­ten „metho­do­lo­gi­schen plu­ra­lis­mus“ hebt sie zudem beson­ders her­vor.

ein zwei­ter leit­ge­dan­ke, der die meis­ten arbei­ten prägt, ist die über­zeu­gung von der moder­ni­tät und fort­schritt­lich­keit sowie der „uni­ver­sa­li­tät“ des strauss’schen oeu­vre: „zwei­fel­los ist strauss als letz­ter musi­ker der euro­päi­schen muik­ge­schich­te zu wür­di­gen, der jene uni­ver­sa­li­tät der musi­ka­li­schen kul­tur reprä­sen­tier­te, die in den plu­ra­len kunst­strö­mun­gen und spe­zia­li­sie­run­gen des 20. jahr­hun­derts end­gül­tig zer­bro­chen ist“ heißt es in der ein­füh­rung von lieb­scher. den anhal­ten­den ruhm strauss‘ auf die­se fak­to­ren zurück­zu­füh­ren, hat sich ja in den letz­ten jah­ren – gegen etwa ador­nos frü­hes ver­dikt – zuneh­mend durch­ge­setzt.

der ers­te teil des ban­des ist „musi­ka­li­sche dra­ma­tur­gie“ über­schrie­ben und wid­met sich vor allem den ver­schie­de­nen for­men der über­füh­rung des (theater-)textes in musik­thea­ter. und obwohl er damit auf eine lan­ge for­schungs­tra­di­ti­on auf­bau­en kann, ist er doch ins­ge­samt der schwächs­te teil des ban­des. die meis­ten auf­sät­ze kau­en näm­lich bloß – teil­wei­se sehr minu­ti­ös – die ent­ste­hungs­ge­schich­ten, die pro­zes­se der zusam­men­ar­beit zwi­schen libret­tist und kom­po­nist, also die trans­for­ma­tio­nen von thea­ter in oper bzw. musik­thea­ter, durch. beson­de­re erkennt­nis­se erwach­sen dar­aus nicht oder zumin­dest arg sel­ten. eine deut­li­che aus­nah­me ist aller­dings jür­gen maeh­ders gekonn­te stu­die zur „klang­far­ben­kom­po­si­ti­on und dra­ma­ti­schen instru­men­ta­ti­ons­kunst in den opern von richard strauss“. die­se grund­le­gen­de arbeit, eine instru­men­ta­ti­ons­ana­ly­se in der nach­fol­ge von egon wel­lesz, macht sich die „inter­de­pen­denz von klang­far­be und orches­ter­satz“ mit der dra­ma­tur­gi­schen akti­on zu ihrem the­ma. und genau in die­ser schnitt­men­ge begibt er sich auf die suche nach der werk­in­ten­ti­on – eine müh­sa­me auf­ga­be. vor allem die ein­füh­rung neu­er instru­men­te, die erwei­te­rung und ver­dich­tung des appa­ra­tes las­sen maeh­der dann strauss als nach­fol­ger und fort­set­zer der bemü­hun­gen richard wag­ners erken­nen – ein nach­fol­ger, der aller­dings weit über sei­nen vor­gän­ger hin­aus­reicht. das vor­drin­gen in und aus­lo­ten von grenz­be­rei­chen orches­tra­ler klang­far­ben wie dem ton­hö­hen­lo­sen akkord und dem über­gang zum geräusch, dem umschwung des ver­schmel­zungs­klan­ges in die ver­schleie­rung beto­nen die fort­schritt­lich­keit des opern­kom­po­nis­ten: „durch wech­sel­sei­ti­ge dena­tu­rie­rung der ein­zel­nen töne erzeug­te der kom­po­nist das ers­te »syn­the­ti­sche geräusch« der musik­ge­schich­te, den grenz­fall extre­men instru­men­ta­to­ri­schen raf­fi­ne­ments.“ und mit der hil­fe einer detail­lier­ten situ­ie­rung der strauss’schen tech­ni­ken in der orchestra­ti­ons­tech­nik des fin de siè­cle kann maeh­der zu dem schluss kom­men, dass mit strauss der abschied von der epi­go­na­len nach­fol­ge des musik­dra­mas aus der „ein­sicht in das inners­te sei­ner musi­ka­li­schen spra­che“ voll­zo­gen wor­den sei.

der zwei­te teil, „insze­nie­rung – dar­stel­lung – gesang“ vesam­melt eini­ge über­le­gun­gen zur auf­füh­rungs­pra­xis. joa­chim herz als prak­ti­ker pro­pa­giert den begriff der „werk­ge­rech­tig­keit“ anstel­le der für ihn unmög­li­chen „werk­treue“ und legt anhand der „frau ohne schat­ten“ die beweg­grün­de sei­ner insze­nie­rung dar. dabei kreist er in ers­ter linie um das pro­blem der ver­ständ­lich­keit – eine insze­nie­rung sol­le, so herz, sich dar­um bemü­hen, text, musik und vor allem die büh­ne, d.h. letzt­lich die gan­ze insze­nie­rung beson­ders zur „expli­ka­ti­on der fabel“ zu nut­zen – im fal­le sei­ner „frau ohne schat­ten“ wäre das für ihn ein „hohe­lied von der ver­än­der­bar­keit des men­schen“.

peter-micha­el fischer lie­fert eine sehr grund­le­gen­de und tech­nisch soli­de arbeit zu den „anfor­de­run­gen an die pro­fes­sio­nel­le sän­ger­stim­me“ und reflek­tiert dabei vor allem das pro­blem des „opern­mu­se­ums“: jede zeit­epo­che hat nicht nur ein ande­res stimm­ide­al, son­dern auch ande­re stimm­tech­ni­schen fähig­kei­ten und mög­lich­kei­ten, die es heu­te sowohl bei der beset­zung als auch bei der inter­pre­ta­ti­on ent­spre­chend zu berück­sich­ti­gen gilt. im fal­le strauss sieht er das beson­de­re in der eta­blie­rung eines neu­en, aus dem natür­li­chen sprach­duk­tus ent­wi­ckel­ten gesangs­stil durch den kom­po­nis­ten, der den bel­can­to um neue anfor­de­run­gen – bedingt durch die erwei­ter­te ver­to­nung von spra­che – ergänzt. tho­mas see­dorf ver­voll­stän­digt die­se aus­füh­run­gen mit sei­nem bei­trag „kom­po­si­to­ri­sche rol­len­kon­zep­ti­on und sän­ge­ri­sche rea­li­sie­rung“ im wesent­lich details. see­dorf kann näm­lich anhand der vor­be­rei­tung der urauf­füh­run­gen zei­gen, dass strauss, immer der thea­ter­rea­li­tät ver­pflich­tet, „im prag­ma­ti­schen umgang mit dem eige­nen werk“ zu gro­ßen kon­zes­sio­nen hin­sicht­lich der details der stimm­füh­rung bereit war, um aus dar­stel­le­risch und musi­ka­li­schen grün­den gewünsch­ten sän­ge­rin­nen die ent­spre­chen­den par­tien zu ermög­li­chen und fol­gert dar­aus: „strauss hat auf sei­nem ursprüng­li­chen ide­al nicht bestan­den, son­dern ande­re inter­pre­ta­tio­nen zuge­las­sen.“ eine sol­che, näm­lich die ari­ad­ne-insze­nie­rung von jos­si wie­ler und ser­gio morabi­to, nimmt sich robert braun­mül­ler zum gegen­stand. er lie­fert eine aus­führ­li­che auf­füh­rungs­ana­ly­se und ver­gleicht dabei die kon­kre­te insze­nie­rungs­pra­xis mit den vor­ga­ben von strauss – mit ernüch­tern­dem ergeb­nis. „seit jah­ren erschöp­fen sich die meis­ten insze­nie­run­gen in der kon­ti­nu­ier­li­chen fort­füh­rung einer tra­di­ti­on.“

von dort aus ist der weg nicht weit zur unter­su­chung der rezeption(sgeschichte): die im drit­ten teil ver­sam­mel­ten bei­trä­ge beto­nen durch­weg die fle­xi­bi­li­tät des kom­po­nis­ten hin­sicht­lich der werk­treue – solan­ge die „inten­ti­on“ gewahrt blieb oder ihr damit gar gedient wur­de, war strauss zu kür­zun­gen und umstel­lun­gen, in guten augen­bli­cken sogar zur umar­bei­tung fähig.

wäh­rend ros­wi­tha schlöt­te­rer-trai­mer bei ihrer unter­su­chung der „mus­ter­auf­füh­run­gen“ unter cle­mens krauss in mün­chen immer­hin noch so etwas wie eine grund­ten­denz der insze­nie­ren­den inter­pre­ta­ti­on, näm­lich das „stre­ben nach größt­mög­li­cher deut­lich­keit“ fin­det, begnügt sich gün­ther les­nig gleich mit einer rei­nen daten­samm­lung zu den salo­me-auf­füh­run­gen in wien, mai­land und new york. sonst glänzt der drit­te, mit „rezep­ti­on“ über­schrie­be­ne teil vor allem durch sei­ne glanz­lo­sig­keit. hans-ulrich fuss kann in sei­ner unter­su­chung ver­schied­ner auf­nah­men der salo­me immer­hin zei­gen, dass es bei strauss nicht immer sinn­voll ist, mög­lichst exakt zu spie­len: bestimm­te tex­tu­ren for­dern die undeut­lich­keit als eigen­stän­di­ges ästhe­ti­sches attri­but über­haupt erst her­aus. und mar­tin els­te macht sich eini­ge gedan­ken über den unter­schied einer oper als ton­auf­nah­me oder als thea­ter: grund­ver­schie­de­ne tem­pi-not­wen­dig­kei­ten für ent­spre­chen­de dra­ma­tur­gi­sche effek­te for­dert er etwa. vor allem aber: „das blo­ße hören einer oper kommt dem ein­tau­chen in eine traum‑, in eine schein­welt gleich“ – und kon­stan­tiert dann noch wenig über­ra­schend: „oper von schall­plat­te wird pri­mär als abso­lu­te musik gehört.“ das ver­bin­det er – ein wenig para­dox – mit der qua­si-natür­li­chen bevor­zu­gung der spra­che, d.h. der gesangs­stim­men bei ton­auf­nah­men. er sieht dann dar­in auch eine nahe­zu idea­le rezep­ti­ons­wei­se der oper – befreit von allen neben­säch­lich­kei­ten, als purer akus­ti­scher traum. das scheint mir aber dann doch ein arger fehl­schluss, der viel zu stark von der per­sön­li­chen fas­zi­na­ti­on des autors durch opern­auf­nah­men aus­geht – es gibt ja durch­aus auch rezi­pi­en­ten, die opern mehr oder weni­ger aus­schließ­lich in der kom­bi­na­ti­on aus akus­ti­schen und visu­el­len rei­zen genie­ßen kön­nen.

ande­res schließ­lich sam­melt sich unter der rubrik „tri­via“: richard strauss‘ leben und wer­ke sind ja nicht ganz uner­forscht. da kann man sich also auch durch­aus mal auf neben­schau­plät­zen tum­meln und dort nach inter­es­san­tem mate­ri­al suchen. der ertrag lässt frei­lich wie­der­um meist zu wün­schen übrig. und den­noch, schließ­lich ist strauss‘ werk auch noch nicht wirk­lich umfas­send und detail­liert unter­sucht – da böten sich durch­aus noch mög­lich­kei­ten für inter­es­san­te ana­ly­sen – die aller­dings auch zeit­ge­mä­ße metho­den erfor­der­ten. aber damit hat, und das zeigt die­ser band in sei­ner gesamt­heit eben auch, die musik­wis­sen­schaft nicht immer die glück­lichs­te hand: das meis­te hier vesam­mel­te ist in die­ser hin­sicht vor allem hoch­gra­dig unspek­ta­ku­lär, unbe­darft bis unre­flek­tiert und arbei­tet mit alt­mo­di­scher, teil­wei­se auch ein­fach unzu­rei­chen­der metho­dik. dass etwa die musik strauss „an der leben­di­gen auf­füh­rung ori­en­tiert“ und „auf unmit­tel­bar sinn­li­che gegen­wart“ aus­ge­rich­tet ist (hans-ulrich fuss), wird zwar wie­der­holt ange­merkt, schlägt sich in den ana­ly­sen aber erstaun­lich wenig nie­der. ver­mut­lich ist genau das einer grün­de, war­um die erfor­schung der musik­thea­ter­pro­duk­ti­on richard strauss‘, wie sie die­ser band prä­sen­tiert, oft so bie­der und alt­ba­cken wirkt.

julia lieb­scher (hrsg.): richard strauss und das musik­thea­ter. bericht über die inter­na­tio­na­le fach­kon­fe­ren­ze bochum, 14. bis 17. novem­ber 2001. ber­lin: hen­schel 2005.

ein grö­ße­rer kon­trast lässt sich kaum den­ken: direkt vom vier­tel­fi­na­le in die hei­li­gen hal­len der eber­ba­cher klos­ter­ba­si­li­ka, zu den heh­ren klän­gen von mahler und bruck­ner. die bei­den haupt­ak­teu­re scheint es auch ein wenig mit­ge­nom­men zu haben. der ein­druck stellt sich zumin­dest beim ers­ten der „lie­der eines fah­ren­den gesel­len“ von mahler ein. denn bari­ton chris­ti­an ger­ha­her und diri­gent elia­hu inbal bemü­hen sich so sehr, die ver­schie­de­nen schich­ten die­ser musik zu ver­deut­li­chen, dass sie bei jedem zusam­men­tref­fen ordent­lich anein­an­der­ge­ra­ten. scha­de, denn der ansatz ist so ver­kehrt gar nicht. das zei­gen dann auch die rest­li­chen drei gesän­ge – das gan­ze kon­so­li­diert sich in gro­ßer ernst­haf­tig­keit. ger­ha­her ver­hilft den tex­ten in schlich­ter stren­ge zu sehr ein­dring­li­cher prä­senz, inbal ver­knüpft das sehr ziel­stre­big zum zyklus.

der bari­ton hat sei­nen auf­tritt damit nach zwan­zig minu­ten schon erle­digt, wäh­rend der dri­gient sozu­sa­gen noch in der auf­wärm­pha­se ist. denn für ihn geht es erst mit bruck­ners vier­ter sym­pho­nie so rich­tig zur sache. sei­ne inten­ti­on wird schnell deut­lich und zeigt sich wun­der­bar klar: die gan­ze sym­pho­nie ist eine spi­ra­le nach oben, eine enor­me auf­wärts­be­we­gung. raum­ge­winn gibt es zwar kei­nen, aber dafür gelangt inbal mit dem wdr-sin­fo­nie­or­ches­ter immer höher, im wei­ter hin­auf.

dazu bemüht er sich, die vom kom­po­nis­ten selbst als „roman­ti­sche“ titu­lier­te sym­pho­nie nach­ge­ra­de unro­man­tisch zu spie­len: das block­haf­te kom­po­nie­ren bruck­ners, sei­ne sequen­zier­te sta­tik ist ihm hör­bar wich­ti­ger als schwel­ge­ri­sche klang­ma­le­rei­en. dadurch ist die vier­te aber auch von vorn­her­ein sehr offen: inbal legt dem publi­kum sozu­sa­gen das ske­lett der sym­pho­nie zur begut­ach­tung vor – nicht immer mit opti­ma­ler auf­lö­sung, aber das liegt weni­ger am diri­gen­ten als an den sich häu­fen­den klei­nen pat­zern des wdr-sin­fo­nie­or­ches­ters. der dri­gient selbst ver­rich­tet sei­nen anteil mit beson­ne­ner gründ­lich­keit, er baut mit uner­müd­li­chem fleiß immer neue schich­ten der enor­men klän­ge auf und ent­wi­ckelt die in straf­fer orga­ni­sa­ti­on zu gro­ßer prä­senz und offen­heit: das strahlt gera­de im letz­ten satz, kurz vor dem ende, in fast blen­den­der hel­lig­keit und beein­dru­cken­der klar­heit.

und sich an einer neu­en oder sagen wir ein­mal unbe­kann­ten wag­ner-ope­ret­te erfreu­en (genau, richard wag­ner hat auch eine ope­ret­te geschrie­ben, man muss sie nur aus ihrem kor­sett des gro­ßen musik­dra­mas – dem rhein­gold – befrei­en): die rhein­tor-saga.

was haben ein pump­ge­nie, eine bio-bäue­rin, zwei mit­tel­stän­di­sche bau­un­ter­neh­mer und eine alko­hol­o­ab­hän­gi­ge dame der hohen gesell­schaft gemein? genau, sie alle kom­men im „rhein­gold“ vor. zumin­dest in der zur „rhein­tor-saga“ umge­bo­ge­nen vari­an­te, mit der der kul­tur­fonds main­zer wirt­schaft geld für die erhal­tung der main­zer rhein­to­re sam­mel­te.

das pump­ge­nie ist natür­lich wie im rich­ti­gen leben nie­mand ande­res als richard wag­ner der ii, der eigent­lich der ech­te ist und ganz eigent­lich wie­der­um der gast­ge­ber im wei­her­g­art, peter han­ser-stre­cker. er ist zwar in den letz­ten jah­ren ein wenig gewach­sen und aus dem säch­si­schen akzent ist meen­ze­risch gewor­den, aber sonst ein ganz ech­ter wag­ner. und er zieht den leu­ten auch genau­so geschickt das geld aus der tasche – nur ziem­lich wahr­schein­lich erheb­lich unter­halt­sa­mer. denn die ver­an­stal­ter haben sich von chris­ti­an pfarr extra für die­sen abend, als urauf­füh­rung ohne jede wie­der­ho­lung­mög­lich­keit, ein libret­to für ein neu­es klei­nes ope­rett­chen schrei­ben las­sen. wolf­ram kolo­seus hat die musik dazu gemacht – oder genau­er gesagt, er hat die pas­sen­den stel­len aus dem „rhein­gold“ gesucht und ver­an­stal­tet damit am flü­gel ein ordent­lich blät­ter­or­gi. die stu­den­ten aus dem jun­gen ensem­ble der hoch­schu­le für musik unter der lei­tung von clau­dia eder haben gesun­gen. die fri­cka von sarah kuff­ner ist davon fre­lich so gelang­weilt, dass sie sich unent­wegt sekt hin­ter die bin­de kippt. dabei hät­te sie nur ihren mit­strei­tern zuhö­ren müs­sen, um erst­klas­si­ge unter­hal­tung geli­f­ert zu bekom­men.

das rhein­gold passt zum geld­sam­meln natür­lich wun­der­bar – schließ­lich geht’s da ja auch um einen neu­bau. mit einer fül­le sol­cher klei­ne­ren umdeu­tun­gen hat pfarr das wun­der­bar humo­ris­tisch ange­passt. der richard wag­ner von han­ser-stre­cker darf dabei für die not­wen­di­gen stich­wor­te und außer­dem für neue, lokal­pa­trio­ti­sche ver­knüp­fun­gen der klei­nen aus­schnit­te sor­gen – so kommt dann etwa auch noch die fin­the­ner flur­be­rei­ni­gung ins spiel.

und da ja die rhein­to­re fast das glei­che sind wie der rei­ne tor, darf in die­ser wag­ner-ver­wurs­tung auch par­si­fal (dani­el jenz, der auch schon als loge sich mit dem rhein­gold pla­gen muss­te) noch ein­mal kurz zu wort kom­men. und er darf sich zum schluss von den blu­men­mäd­chen sogar noch ver­füh­ren las­sen, ohne dafür bezah­len zu müs­sen.

die klangwelten des peter kiefer sind ein recht zeitloses gebilde

oder jeden­falls zeit­arm – immer­hin füh­ren sie in ihrer oft mehr als uner­schüt­ter­li­chen ruhe zu einer gewis­sen ver­lang­sa­mung des per­sön­li­chen zeit­emp­fin­dens:

die esg-kir­che gibt sich ver­schlos­sen, kühl und düs­ter liegt ein geheim­nis­vol­ler blau­er schim­mer als ein­zi­ge beleuch­tung auf den kah­len wän­den des leer geräum­ten saals. sanft blub­bern ab und an elek­tro­ni­sche geräu­sche aus den laut­spre­chern. natür­lich ist es wie­der „mainz-musik“, das von der kir­che besitz ergrif­fen hat. genau­er gesagt, die klang­kunst von peter kie­fer okku­piert den sakra­len raum. und sie fühlt sich da offen­bar recht hei­misch.

kie­fer hat für die­sen abend eine klei­ne werk­schau mit sei­nen arbei­ten der letz­ten jah­re zusam­men­ge­stellt und das gan­ze zu einem kon­ti­nu­ier­li­chen strom aus elek­tro­nisch erzeug­ten und in ganz weni­gen fäl­len auch nur bear­bei­te­ten klang­for­men ver­knüpft. „klang­wel­ten“ hat er das über­schrie­ben, und die­ser begriff trifft das gesche­hen auch recht gut. vor allem der plu­ral ist wich­tig. denn kie­fer belässt es nicht bei einer welt, sei­ne kunst ist dafür viel zu viel­sei­tig und viel­schich­tig. zu den bloops und beeps kom­men bald knir­scher und kna­cker, ver­bin­den sich zu einer kulis­se aus dem grenz­be­reich zwi­schen geräusch und klang, zwi­schen lärm und musik. das ist mal metal­lisch glit­zernd, mal hohl dröh­nend, mal kusch­lig gemüt­lich und new-age-mäßig ent­spannt, dann aber auch wie­der erwar­tungs­froh drän­gend – vor allem aber ist es immer eine dezi­diert künst­li­che und künst­le­risch geform­te akus­ti­sche umge­bung. natür­li­che klän­ge gibt es in die­sem kos­mos nicht, sieht man von eini­gen weni­gen mensch­li­chen stim­men ab. aber selbst die nutzt kie­fer nur als mate­ri­al, formt sie nach sei­nem gus­tos, macht etwa aus einer ein­zi­gen voka­li­se eine raum­klang-stim­men­or­gie.

dazu mon­tiert er dann even­tu­ell noch ver­ein­zel­te, ein­sam schwe­ben­de töne – das ist eine kunst, die unheim­lich viel zeit zu haben scheint. tat­säch­lich ver­lang­samt kie­fer mit sei­nen klan­kom­po­si­tio­ne das zeit­emp­fin­den oft sehr erheb­lich: es wird ein­mal eine gro­ße ruhe kom­men – und peter kie­fer wird ihren klang gestal­ten. denn vie­les von dem, was sei­ne klang­bän­der struk­tu­riert, pas­siert so fein und fast unmerk­lich, dass jedes gespür für die­se ver­läu­fe in gefahr gerät, sich zu ver­lie­ren. aber dann gibt es ja bei eini­gen arbei­ten auch noch die vide­os, an denen man sich fest­hal­ten kann.

beson­ders gilt das natür­lich für sei­ne film­mu­sik zu dem stumm­film „la pas­si­on de jean­ne d’arc“ von c.t. drey­er, mit der er sei­nen klang­wel­ten einen sehr illus­tra­ti­ven und in sei­ner insis­tie­ren­den klang­ge­walt sehr ver­füh­re­ri­schen höhe- und schluss­punkt setz­te.

da waren es nur noch drei. das ers­te kon­zert der als „ensem­ble in resi­den­cy“ ver­pflich­te­ten musi­ca anti­qua köln beim rhein­gau-musik-fes­ti­val war vom pech ver­folgt. schon vor eini­ger zeit muss­te der zwei­te gei­ger nach einem unfall absa­gen, das pro­gramm wur­de ent­spre­chend geän­dert. doch am kon­zert­tag stell­te sich dann her­aus, dass auch rein­hard goe­bel, der lei­ter und ers­te gei­ger des ensem­bles, auf­grund einer hand­ver­let­zung nicht spie­len kann. übrig blie­ben also nur noch der cem­ba­list léon ber­ben, cel­list klaus-die­ter brandt und die flö­tis­tin vere­na fischer.

es wur­de dann aller­dings doch noch ein schö­ner abend in der pfarr­kir­che von oestrich. denn die mit­glie­der der musi­ca anti­qua köln sind natür­lich rou­ti­niers genug, um mit sol­chen wid­rig­kei­ten fer­tig­zu­wer­den. das pro­gramm bot nach der zwei­ten ände­rung nun eine blü­ten­le­se aus unter­halt­sa­men sona­ten und sui­ten des 18. jahr­hun­derts für alle noch ver­blie­be­nen mög­li­chen beset­zun­gen.

die kom­bi­na­ti­on aus cel­lo und cem­ba­lo erwies sich als dabei beson­ders frucht­brin­gend. tele­mann sona­te in d‑dur für die­se bei­den instru­men­te gaben die zwei musi­ker nicht nur die ensem­ble-typi­sche auf­ge­weck­te fri­sche und ent­schlos­sen­heit mit, son­dern dar­über hin­aus auch noch eine präch­ti­ge klang­ent­fal­tung. das cel­lo zog im herr­lichs­ten lega­to wun­der­bar fül­li­ge lini­en in jeder ton­la­ge. die lang­sa­men sät­zen wur­den dadurch zu schmel­zen­den schön­hei­ten ganz beson­de­rer art. ähn­lich erfolg­reich spiel­ten ber­ben und brandt auch wil­lem de feschs d‑moll-sona­te. wie­der war es vor allem das cel­lo, das auf­fiel. die­ses mal vor allem durch die über­zeu­gen­de rhe­to­rik, die sich fast schon zur ver­füh­rung stei­ger­te. dabei arbei­te­te brandt mit sehr unauf­fäl­li­gen mit­teln – und dem bes­ten trick über­haupt: der eige­nen über­zeu­gung, dem unmit­tel­ba­ren intel­lek­tu­el­len und emo­tio­na­len ein­satz, der sich der tän­ze­ri­schen alle­man­de genau­so hin­gab wie dem grüb­le­ri­schen lar­go.

wenig anlass zum grü­beln bot die flö­ten­so­na­te a‑moll von carl phil­ipp ema­nu­el bach. hier war die galan­te­rie, die das gesam­te kon­zert durch­zog, am stärks­ten aus­ge­prägt – und das trio der musi­ca anti­qua auch sehr spiel­freu­dig. das aber bringt doch immer wie­der die bes­ten ergeb­nis­se: wenn die musi­ker ein­fach mit lust und über­zeu­gung spie­len – auch wenn die umstän­de ein­mal nicht opti­mal sind.

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