Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

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Verspäteter Glückwunsch: Johann Christian Heinrich Rinck zum 250. Geburtstag

2020 war ein großes Beethoven-Jahr, zumin­d­est irgend­wie — so richtig hat der 250. Geburt­stag nicht gezün­det, scheint mir. Und das lag ver­mut­lich nicht nur an den Ein­schränkun­gen der Konz­ert­tätigkeit­en durch Coro­na, son­dern meines Eracht­ens auch daran, dass Beethoven sowieso immer mehr als genug da und präsent ist.

Rinck, Orgelwerke (Cover)

Das ist ist bei Johann Chris­t­ian Hein­rich Rinck ganz anders. Der ist aus dem öffentlichen (Musik)Leben weit­ge­hend kom­plett ver­schwun­den. Organist*innen soll­ten ihn allerd­ings noch ken­nen. Ich zumin­d­est spiele sog­ar ab und an kleinere Sachen von ihm. Den 250. Geburt­stag des Darm­städter Kom­pon­is­ten und Kirchen­musik­ers habe ich im let­zten Jahr aber auch über­haupt nicht reg­istiert. Mit etwas Ver­spä­tung kon­nte die Hochschule für Musik der Johannes-Guten­berg-Uni­ver­sität Mainz mir da jet­zt auf die Sprünge helfen. Deren Orgelk­lasse von Ger­hard Gnann hat näm­lich im Jubiläum­s­jahr eine sehr gelun­gene Dop­pel-CD als eine Art Hom­mage an Rinck pro­duziert. Zusam­men mit der Rinck-Gesellschaft haben die jun­gen Organist*innen und ihr Lehrer eine wirk­lich schöne Zusam­men­stel­lung aufgenom­men, die einen guten Ein­blick in das kom­pos­i­torische Schaf­fen Rincks bietet: Von den dur­chaus zeit­genös­sisch beliebten Orgelkonz­erten über größere Vari­a­tion­szyklen zu kleinen, eher gebrauchsmusikalisch isnpiri­erten Ton­stück­en bildet die Pro­duk­tion eine große Band­bre­ite ab.

Ein wesentlich­es Ele­ment des Gelin­gens ist die genutzte Orgel: Die Drey­mann-Orgel von 1837 in St. Ignaz in der Mainz­er Alt­stadt. In mein­er Mainz­er Zeit habe ich die nicht ken­nen­gel­ernt oder zumin­d­est nicht bewusst wahrgenom­men — wenn ich mich richtig erin­nere, war das größeren Arbeit­en an und in der Kirche geschuldet. Inzwis­chen wurde die Orgel auch umfassend restau­ri­ert. Und für mich zufäl­liger­weise zeitlich genau passend auch in der aktuellen Aus­gabe der Ars Organi (Jg. 69, Heft 1, S. 46–50) beschrieben. Das Instru­ment, das von Rinck selb­st als Neubau abgenom­men und sehr geschätzt wurde, kommt auf der Auf­nahme gut zur Gel­tung: Die klaren, präg­nan­ten Bässe vor allem des Posaunen­bass­es sind wun­der­bar präg­nant und sauber, aber auch die war­men — und teil­weise sehr leise und san­ften Grund­stim­men klin­gen auf der Auf­nahme sehr authen­tisch. Und die fienen Ober­stim­men und glänzen­den Mix­turen krö­nen das sehr schön, ohne zu dominieren.

Die einge­spiel­ten Werke — teil­weise aus Auto­graphen bzw. eigens ange­fer­tigten Abschriften — bieten, wie gesagt, eine schöne Gele­gen­heit, Rincks Kom­po­si­tion­sstil genau­so ken­nen­zuler­nen wie diese faszinierende Orgel. Rinck hat ja eine ganz eigene Verbindung von (spät-)barocken Tech­niken, die ger­ade auf den Orgeln ja dur­chaus noch lange fortleben, mit eigentlich eher klas­sis­chen Ele­menten (und zeitweise frühro­man­tis­chen Anklän­gen) geschaf­fen. Das erre­icht sich­er nicht immer Beethovens Tiefe (aber das machen Beethovens Werke ja auch nicht immer), ist aber mehr als nur gefäl­lige Gele­gen­heitsmusik: Dem genaueren Hören eröff­nen sich da dur­chaus immer wieder span­nende Ideen, neue Kom­bi­na­tio­nen und vor allem gelun­gene Ein­fälle. Und das alles zuam­men macht ein­fach Freude!

Johann Chris­t­ian Hein­rich Rinck: Orgel­w­erke. Studierende der Abteilung Kirchenmusik/Orgel der Hochschule für Musik an der Johannes Guten­berg-Uni­ver­sität Mainz spie­len an der Drey­mann-Orgel (1837) in St. Ignaz, Mainz. Coviel­lo Clas­sics COV 92101, 2020. 114:02 Minuten.

Vocal Jazz zum Anhören: Hanna Schörken

Hanna Schörken, Luma (Cover)

vocal jazz ist ja nor­maler­weise nicht unbe­d­ingt meine kra­gen­weite . das hier aber schon. das ist näm­lich ganz anders: befreiung der stimme. (gab es natür­lich schon vorher, hat sich in der impro­visierten musik aber anscheinend nicht so durchge­set­zt wie das instru­men­tale spiel (zumin­d­est in mein­er (eingeschränk­ten) wahrnehmung)). das ist aber über­haupt der punkt: das ist nicht sin­gen (wie der meiste vocal jazz), son­dern vokales spiel. und vielle­icht auch vokales spie­len. das instru­ment ist halt mund, rachen, lip­pen, stimm­bän­der, luft (und was son­st noch so dazuge­hört). text spielt keine rolle. das gefällt mir, mag ich in der impro­visierten musik nur sel­ten (was auch daran liegt, dass die dann meist arg banal wer­den — und vor allem in den meis­ten fällen zu ein­deutig, zu un-ambig sind, um den freien sin­nen der impro­visierten musik gerecht wer­den zu kön­nen.) das ist hier aber über­haupt nicht der fall. ganz und gar nicht. luma zeich­net sich durch ein über­bor­dende offen­heit aus: die ganzen, lei­der dann doch viel zu kurzen, 36 minuten, sind so ziem­lich das genaue gegen­teil von überde­ter­miniert.

also: han­na schörken ist anders. zart, aber bes­timmt. sehr feinsin­ning und feingliedrig fächert sie ihre musik immer wieder auf. und zwar immer wieder neu. die flex­i­bil­ität, die band­bre­ite der stimm­lichen äußerun­gen ist faszinierend frap­pierend. und, das ist der wesentlich fak­tor für meine begeis­terung, es ist nicht tech­nis­che spiel­erei oder vor­führerei der vokalen fähigkeit­en, son­dern ein­fach klan­glich span­nende, gren­zen negierende (oder nicht ein­mal das — sie spie­len ein­fach keine rolle) ent­deck­un­gen, phan­tasien, ideen, ein­drücke, emo­tio­nen.

zum gelin­gen trägt auch die konzen­tra­tion sehr bei: das sind meist kurze “stücke”, die elf werke, die auf luma ver­sam­melt sind. “songs” oder “lieder” mag man das ja nicht nen­nen. egal: han­na schörken, die mir auch in der ziem­lich coolen gruppe The Dorf beg­net ist, überzeugt mich sehr. allein dadurch, dass die ideen nicht tot­gerit­ten wer­den, aus­quetscht bis zum let­zen fitzel klang, son­dern halt so lange dauern, wie es nötig ist. das ist auch eine kun­st, die nicht alle improvisator*innen immer rest­los beherrschen.

und in diesem kurzen (noch ein­mal: zu kurzen) album ist so viel schön­heit, so viel wilde und zugänglich, uner­schlossene und offene, zugänglich und zutrauliche schön­heit. allein das vib­ri­erende, san­ft-fül­lige end­ing ist schon alles wert. ich kann gar nicht aufhören zu schwär­men …

Han­na Schörken: Luma. Leo Records LR 893, 2020. 36:13 Minuten.

Hineingehört #4

Glückseligkeit und das Gegenteil

Sarah Buechi, Contradictions of Happiness (Cover)

Genau wie die bei­den Vorgänger­al­ben nimmt auch das hier mich sofort gefan­gen. Aber das viel Erstaunlichere: Ich bleibe fasziniert. Ger­ade auch nach wieder­holtem Hören: Die Poe­sie dieser Musik ver­liert ihre Kraft und ihre Wirkung für mich bish­er über­haupt nicht. Im Gegen­teil, das Gefall­en steigert sich sog­ar noch, weil feine Details offen­bar­er wer­den, als sie es beim anfänglichen Hören tun: denn Auf­fall­en ist nicht ger­ade das Ziel aller Musik­er dieser Auf­nahme. Um Buechi ver­sam­meln sich wieder aus­geze­ich­nete Mit­stre­it­er, die mit ihrer Stimme und ihren fein-melan­cholis­chen, klaren Lin­ien wun­der­bar har­monieren. An erster Stelle, wenn man denn über­haupt eine Rei­hen­folge auf­stellen möchte (ich bin mir da nicht so ganz sich­er), ste­ht wieder der wun­der­bare Pianist Ste­fan Aeby, den ich auch in anderen Zusam­men­hän­gen sehr schätze. Auch André Pousaz am Bass und Lionel Friedli am Schlag­w­erk sind inte­grale Teile dieses Ganzen, das sich nicht mehr in seine Teile auf­s­plit­ten lässt. Das ist es ger­ade, was mich hier bei jedem Hören wieder ein­fängt: Nicht nur die grundle­gende Stim­mung des Albums, son­dern die Übere­in­stim­mung, die Ein­stim­migkeit der vie­len Töne und Klänge in den fein­sten Nuan­cen der Stim­mungen und Har­monien. Wun­der­bar, ganz ein­fach. Einen nicht uner­he­lichen Anteil daran haben natür­lich auch die Kom­po­si­tio­nen, die alle (mit Aus­nahme eines Volk­sliedes) von Buechi selb­st stam­men. Und schließlich auch das Stre­ichtrio, das das bewährte Quar­tett zumin­d­est zeitweise ergänzt und dem ganzen einen Touch Klas­sik­er-Sta­tus ver­lei­ht.

Und allein “After we’ve kissed” wäre das Album schon wert gewe­sen: langsam sich entwick­el­nd und ent­fal­tend, aus dem inti­men kam­mer­musikalis­che Anfang bis zur wel­tumspan­nen­den Größe anwach­send, ohne den Kern aus den Augen und Ohren zu ver­lieren. Her­rlich. Damit kein falsch­er Ein­druck entste­ht: Das ist beileibe nicht alles Weltschmerz­musik, die san­ft vor sich hindüm­pelt. “Wheel of Temp­ta­tion” zum Beispiel hat dur­chaus ordentlich Punch. Aber das wird nie zum Selb­stzweck, son­dern hat in Kom­po­si­tion und Text seinen Grund.

Sarah Buechi: Con­tra­dic­tions of Hap­pi­ness. Intakt Records 2019. Intakt CD 299.

Orientierungslos im Eis

Jim Black, Malamute (Cover)

Mala­mute, benan­nt nach den offen­bar eher rast­losen und unkalkulier­baren Schlit­ten­hunde Alaskas (so ben­haupten es zumin­d­est die Lin­er Notes), ist ein passender Name für dieses Quar­tett von Jim Black: Sie wirkt etwas hyper­ak­tiv und ziel­los, ohne Grund und Boden will sie irgend­wie alles auf ein­mal sein. Da gibt es nettes fitzeliges Gefritzel vor allem vom Sam­pler & Key­board (Elias Stemeseder), schöne, weich-sen­ti­men­tale Sax­ophon-Lin­ien (Óskar Gud­jóns­son), einen grundieren­den Bass (Chris Tor­di­ni) und selb­stver­ständlich kun­stvoll-pow­er­volle Drums (Jim Black natür­lich).

Aber dann bleibt doch alles wie hin­ter einem Schleier, unter ein­er mat­ten Ober­fläche ver­bor­gen. Ja, Umbrüche und der häu­fige Wan­del machen die kurzen Stücke dur­chaus inter­es­sant — aber es bleibt in meinen Ohren eine ober­fläch­liche Inter­es­san­theit, eher ein Inter­esse am Neuen, ein Spiel mit der Abwech­slung. Aber hier höre ich nichts oder zumin­d­est zu wenig, was mich dauer­haft und nach­haltig faszinieren würde. Das ist mir zu geschmei­dig und zu wenig gehaltvoll: Die Ideen sprudeln schon ganz schön, aber sie find­en nicht so recht zueinan­der. Deshalb sind die meis­ten Stücke auch kurze Zwei-/Drei-Minüter: Dann sind die jew­eili­gen Ideen, Motive, Ein­fälle halt durch und es passiert nichts mehr. So ver­sanden die schö­nen Ideen und die immer wieder auf­flack­ernde Energie ver­pufft ein­fach ungenutz. Und das ist mir dann doch ein biss­chen wenig.

Jim Black: Mala­mute. Intakt Records 2017. Intakt CD 283.

Business as usual in Berlin

Angelika Niescier, The Berlin Concert (Cover)

Tja. Das ist guter, schön­er Post-Bop oder wie auch immer man das nen­nen mag. Und erstaunlich lang­weilig fand ich das. Klar, das ist natür­lich handw­erk­lich gut gemacht, das läuft wie geschmiert. Nicht nur das Sax­ophon von Ange­li­ka Niesci­er, auch Bass (Christo­pher Tor­di­ni) und Schlagzeug (Tyshawn Sorey) sind stets aufmerk­sam und agil dabei. Über­haupt ist das Zusam­men­spiel sehr dicht udn von gegen­seit­iger Aufmerk­samkeit und Reak­tions­freudigkeit geprägt. Man merkt, dass es ein konzen­tri­ertes Konz­ert war (aufgenom­men wurde das beim Jaz­zfest Berlin 2017). Das war’s dann aber auch schon, irgend­wie scheint mir das doch nicht ganz auf der Höhe der Zeit, son­dern etwas alt­back­en. Vielle­icht ist mein Geschmack aber auch inzwis­chen zu ein­seit­ig oder zu ver­dor­ben. Was soll’s, mein Ding ist das jeden­falls nicht. Zumal auch der Klang der Auf­nahme mir etwas dumpf und undif­feren­ziert erschien.

Ange­li­ka Niesci­er, Christo­pher Tor­di­ni, Tyshawn Sorey: The Berlin Con­cert. Intakt Records 2018. Intakt CD 305.

Roter Teppich für Hörgenuss

Christof Mahnig & Die Abmahnung, Red Carpet (Cover)

Das ist nahezu unver­schämt cool: Schon die Trompete von Christof Mah­nig, die den Roten Tep­pich von Red Car­pet zuerst beschre­it­et, dann Schlagzeug und Bass auch seeehr laid back: Nur allmäh­lich set­zt sich aus den Split­tern etwas Größeres und sog­ar ein Ganzes zusam­men. Wenn man Klis­chee bemühen wollte, dann kön­nte man sagen: Sehr schweiz­erisch. Und zwar in der unaufgeregten Selb­st­ständigkeit, die dur­chaus hier und dort die Gren­ze zur Eigen­brötlerei über­schre­it­et, die sture Gelassen­heit — auch grandios dabei: Gitar­rist Lau­rent Méteau. Dazu noch das ver­spielte Aus­pro­bieren, das ganz unvor­sichtige Tas­ten, das Auf­brechen “Zu neuen Ufern” (so heißt der zweite Track tat­säch­lich, und es ist tat­säch­lich kein (zumin­d­est nicht nur) Klis­chee), und schon ent­fal­tet sich großar­tige Musik. Ich will das Bild jet­zt nicht über­stra­pazieren, aber man kön­nte sicher­lich noch etwas zur Mis­chung aus großstädtis­ch­er Hip­ness und ver­wun­sch­enen Talschlüssen, aus hohen Gipfeln und schrof­fen Abhän­gen sagen und schreiben. Egal: Red Car­pet macht ein­fach unmit­tel­bar Spaß. Und macht eben nicht nur unmit­tel­bar Spaß, son­dern auch dauer­haft, beim wieder­holten Hören. Hat­te ich so ehrlich gesagt über­haupt nicht erwartet.

Witz und Humor, tief­gründi­ges Spie­len und erfrisches Genießen — und das funk­tion­iert vor allem deshalb so gut, weil das Quar­tett klan­glich so wun­der­bar har­monisch rüberkommt und alles immer so selb­stver­ständlich klingt: Das muss genau so sein. Und das ist eine Kun­st, die ich sehr zu schätzen weiß.

Christof Mah­nig & Die Abmah­nung: Red Car­pet. Leo Records 2019. LR 854.

außer­dem neben vielem anderem gehört:

  • John Zorn: Insur­rec­tion. Tzadik ‎2018. TZ 8359.
  • Mark­er: Wired for Sound. Audio­graph­ic Records 2017. AGR-013.
  • Des­ti­na­tion Rach­mani­nov: Arrival. Sergej Rach­mani­noff: Klavierkonz­erte Nr. 1 & 3. Dani­il Tri­fonov, The Philadel­phia Orches­tra, Yan­nick Nézet-Séguin. Deutsche Gram­mophon 2019.
  • Asmus Tietchens: Musik aus der Grau­zone. 1981.
  • Nick Cave & The Bad Seeds: Ghos­teen. Ghos­teen 2019.

Hineingehört #3

Nichts als Hoffnung (aber immerhin)

Tindersticks, No Treasure but Hope (Cover)Ein neues Tin­der­sticks-Album ist ja schon ein Ereig­nis. Auch das fast mys­tisch schwebende und leichte No Trea­sure but Hope fällt in die Kat­e­gorie. Dabei ist es fast ungewöhn­lich für ein Tin­der­stick-Album, weil vieles (nicht alles aber) etwas heller und fre­undlich­er ist als auf älteren Veröf­fentlichun­gen. Natür­lich bleibt Stu­art Sta­ples Stu­art Sta­ples, aber er klingt hier deut­lich weltzuge­wandter, ja sog­ar fre­undlich­er und locker(er), nicht mehr so angestrengt, schw­er, gequält wie auf früheren Alben. Dabei bleibt die Musik irgend­wie schon noch zwis­chne der Lei­der­schaft von Nick Cave und der Verzwei­flung von Leonard Cohen ange­siedelt.

Ins­ge­samt wirkt das auf mich — nach den ersten paar Durchgän­gen — allerd­ings etwas flach­er: Das ist mir oft zu aus­ge­feilt, klan­glich zu detail­ver­liebt, fast prä­ten­tiös. Da fehlt mir dann doch etwas Unmit­tel­barkeit — und damit genau jene Qual­ität, die mich an früheren Alben stark in den Bann gezo­gen hat: Die emo­tionale Stärke, die Unmit­tel­barkeit der Gefüh­le, die die (ältere) Musik immer wieder (und immer noch, das funk­tion­iert auch nach Jahren des wieder­holten Hörens noch, ich habe es ger­ade aus­pro­biert — und das zeigt die wahre Größe dieser Musik) ausze­ich­net, das fehlt mir hier. Vielle­icht — das ist freilich nur eine Ver­mu­tung — sind Tin­der­stick ein­fach zu gut gewor­den. Das ist aber wahrschein­lich Blödsinn, auch die let­zten Alben waren ja schon aus­geze­ich­net pro­duziert.

Hier schlägt aber wohl doch stärk­er der Kunst­wille durch. Und dafür sind die For­mate der Pop­songs dann aber doch wieder zu kon­ven­tionell und deshalb zu schwach, das bleibt dann manch­mal etwas schram­mel­ing-mit­telmäßig. Das heißt nun aber über­haupt nicht, dass No trea­sure but hope schlecht sei. Auch hier gibt es wun­der­bare Momente und schöne, erfül­lende Lieder. “Trees fall” zum Beispiel, oder “Carousel” mit der typ­is­chen Tin­der­stick-Stim­mung, der melan­cholis­chne Grundierung. Und auch “See my Girls” hat dann doch wieder sehr dringliche, inten­sive Momente (und eine schöne Gitarre). Das titel­gebende “No trea­sure but hope” ist in der sehr reduzierten Konzen­tra­tion auf Klavier und Gesang dur­chaus ein kleines kam­mer­musikalis­ches, intimes Meis­ter­w­erk — und ein­fach schön.

Tin­der­sticks: No Trea­sure but Hope. Lucky Dog/City Slang 2019. Slang 50236.

Verspieltes Klavier

Stefan Aeby, Piano Solo (Cover)Ste­fan Aebys erste Soloauf­nahme (soweit ich sehe zumin­d­est), im let­zten Jahr bei Intakt erschienen. Das ist, mehr noch als die Trioauf­nah­men, im Ganzen oft sehr ver­spielt, aber ins­ge­samt vor allem sehr har­monisch: klare Struk­turen und klare Tonal­itäten bes­tim­men den Gesamtein­druck.

Beson­ders wird Piano solo aber vor allem durch den Klavierk­lang, das ist vielle­icht, zusam­men mit sein­er klan­glichen Imag­i­na­tion­skraft, Aebys größter Stärke. Denn der ist vielschichtig und feinsin­nig, mit großem Nuan­cen­re­ich­tum. Hier kommt nun noch dazu, dass das Klavier von Aeby im Stu­dio — er hat das wohl voll­ständig alleine aufgenom­men — teil­weise ver­fremdet, ergänzt und bear­beit­et wurde.

Vieles ist dann auch — wie erwartet — sehr schön. Aber vieles ist auch nicht beson­ders über­wälti­gend: So richtig umge­haut hat mich eigentlich nichts. Das ist solide, dur­chaus mit inspierten und inspieren­den Momenten, über­haupt keine Frage. Mir scheint es aber ins­ge­seamt einen Tick­en zu banal, einen Tick zu flach in der oft unge­broch­enen Schön­heit, in der Suche nach Har­monie und Wohlk­lang. Dabei gibt es dann auf Piano solo auch viele Klang­ef­fek­te. Die machen das aber manch­mal — und teil­weise sog­ar über weit­ere Streck­en — etwas arg kün­stlich für meinen Geschmack (“Dance on a Cloud” wäre dafür ein Beispiel). “Fling­ga” dage­gen ist dann aber wieder her­aus­ra­gend: da kann sein run­der, weich­er, abges­timmter Ton sich voll ent­fal­ten.

Die Idee, den Klavierk­lang nicht alleine zu lassen, ihn aufzu­pep­pen, zu erweit­ern, zu ver­frem­den, ist ja ganz schön und nett. Aber das Ergeb­nis oder bess­er die Ergeb­nisse überzeu­gen mich nicht immer vol­lends. Vor allem scheint mir die klan­gliche Erweiterung oder Ver­frem­dung nicht immer aus­re­ichend musikalisch begrün­det und zwin­gend. Zumin­d­est wurde mir das beim Hören nicht entsprechend klar. Und dann bleibt es halt vor allem eine (tech­nis­che) Spiel­erei. Trotz alle­dem ist Piano solo aber den­noch eine defin­i­tiv schöne, überzeu­gende Auf­nahme mit ein­nehmenden Klang­bildern.

Ste­fan Aeby: Piano solo. Intakt Records 2019. Intakt CD 332.

Die Winterreise als Gruppenwanderung

Schubert, Winterreise (Cover)Das ist Schu­berts Win­ter­reise — und auch wieder nicht. Denn sie ist — teil­weise — für Stre­ichquar­tett tran­skri­biert und mit Inter­mezzi verse­hen von Andreas Höricht.

Die Idee scheint ja erst ein­mal ganz vielver­sprechend: Die Win­ter­reise — bzw. ihre “wichtig­sten” (das heißt vor allem: die bekan­ntesten) Lieder — auf die Musik zu reduzieren, zum Kern vorzus­toßen, den Text zu sub­lim­ieren. Das Ergeb­nis ist aber nicht mehr ganz so vielver­sprechend. Die Inter­mezzi, die zwar viel mit Schu­bertschen Motiv­en spie­len und ver­suchen, die Stimmung(en) aufzu­greifen, sind ins­ge­samt dann doch eher über­flüs­sig. Und die Lieder selb­st: Nun ja, bei mir läuft men­tal dann doch immer der Text mit. Und es gibt dur­chaus schöne Momente, wo das Konzept aufzuge­hen scheint. Im ganzen bleibt mir das aber zu wenig: Da fehlt zu viel. Selb­st eher mit­telmäßige Inter­pre­ta­tio­nen haben heute ein Niveau, das mehr an Emo­tion und Ein­druck, mehr Inhalt und Struk­tur ver­mit­telt als es diese Ver­sion beim Voy­ager-Quar­tett tut. Als beken­nen­der Win­ter­reise-Fan und ‑Samm­ler darf das bei mir natür­lich nicht fehlen. Ich gehe aber stark davon aus, dass ich in Zukun­ft eher zu ein­er gesun­genen Inter­pre­ta­tion greifen werde …

Franz Schu­bert: Win­ter­reise for string quar­tet. Voy­ager Quar­tet. Solo Musi­ca 2020. SM 335.

Dreifache Freiheit

Kaufmann/Gratkowski/de Joode, Oblengths (Cover)Sowohl Kauf­mann als auch Gratkows­ki sind Impro­visatoren, deren Arbeit ich immer ver­suche im Blick zu haben. Sie verkör­pern näm­lich eine Form der impro­visierten Musik oder des freien Jazz (oder wie immer man das genau klas­si­fizieren mag), die ver­schiedene Aspek­te vere­int und zusam­men­bringt: Sie sind Kün­stler, die viel am und mit dem Klang arbeit­en (ger­ade bei Achim Kauf­mann fällt mir das immer wieder auf, wie klangstark er das Klavier zu spie­len weiß) und zugle­ich im freien Impro­visieren und Zusan­men­spiel Struk­turen entste­hen lassen kön­nen, die das Hören span­nend und über­raschungsvoll machen. Das gilt auch für ihre Zusam­me­nar­beit mit Wilbert de Joode, die auf Oblengths doku­men­tiert ist. Aufgenom­men wurde ein Aben im Jan­u­ar 2014 im Köl­ner Loft, veröf­fentlicht hat es das immer wieder und immer noch großar­tige Label Leo Records.

Das beste an dieser Auf­nahme ist die Kom­bi­na­tion von gle­ichen oder ähn­lich­er Musiz­er­weisen der drei Tri­opart­ner und der immer wieder über­raschen­den Vielfalt an konkreten klan­glichen Ereignis­sen, die daraus entste­hen. Da ist schon viel Gek­narze, Gerumpel, Kratzen und Fiepen. Aber auch viel Wohlk­lang: Oblengths, das ist eine der großen Stärken dieses Trios, wartet mit ein­er unge­wohn­ten Band­bre­ite vom Geräusch bis zum har­monis­chen Dreik­lang und klas­sisch gebaut­en Melo­di­en oder Motiv­en auf. Man merkt beim Hören aber eben auch unmit­tel­bar, dass das hier kein Selb­stzweck ist, son­dern einge­set­zt wird, um Zusam­men­hänge herzustellen und umfassenderen Aus­druck zu ermöglichen. Dazu passt auch, dass der Klan­graum ein wirk­lich weites Reper­toire umfasst und auch im leisen, vere­inzel­ten, sog­ar im stillen Moment noch sehr aus­d­if­feren­ziert ist. Ich würde nicht sagen, dass das Trio erzählt — aber irgend­wie ergeben sich dann doch so etwas wie Geschicht­en, Abfol­gen von Momenten, die zusam­menge­hören und eine gemein­same Struk­tur haben.

Achim Kauf­mann, Frank Gratkows­ki, Wilbert de Joode: Oblengths. Leo Records 2016. CD LR 748.

Hineingehört #2

Goldige Klänge

the king's singers, gold (cover)Die Jubiläums-Dreifach-CD der King’s Singers mit dem schö­nen und passenden Titel Gold habe ich schon besprochen: klick. Es ist wirk­lich eine schöne und umfassende Doku­men­ta­tion der Kern­fähigkeit­en der englis­chen Boy Group, auch nach der jüng­sten Beset­zungsän­derung immer noch mit den alten klan­glichen (Gold-)Qualitäten. Es ist ziem­lich egal, ob sie Renais­sance-Motet­ten oder raf­finierte Arrange­ments von Pop-Songs sin­gen. Alles, was sie sich vornehmen, machen sie sich unab­d­ing­bar zu eigen. Und so klin­gen dann fünf Jahrhun­derte Musik doch ziem­lich gle­ich – wie fünf Jahrzehnte King’s Singers eben.

The King’s Singers: Gold. Signum Records 2017. 67:37 + 61:15 + 65:37 Minuten.

Liebe für den und im Gesang

the king's men, love from king's (cover)Ein Nach­bar-Pro­jekt sind die “King’s Men”, die am King’s Col­lege studieren (im Gegen­satz zu den King’s Singers …). Ihr Album ist tat­säch­lich ganz liebreizend — es trägt ja auch den Titel Love from King’s. Zu den Liebeslied-Klas­sik­ern habe ich auch schon etwas (für die Chorzeit) geschrieben: klick. Hier brin­gen die „King’s Men“ die Musik und den Stim­men­klang immer wieder wirk­lich zum Funkeln und auch fast zum eksta­tis­chen Tanzen – so wie man sich auch die Liebe wün­scht. Wie die „King’s Men“ hier mit eher beschei­de­nen musikalis­chen Mit­teln einen enor­men akustis­chen und emo­tionalen Raum und eine ger­adezu über­wälti­gende klan­gliche Fülle zaubern, das ist ein­fach wun­der­bar.

The King’s Men: Love from King’s. The Record­ings of King’s Col­lege Cam­bridge 2018. 47:22 Minuten.

Wiederentdeckte Monster

musical monsters (cover)Die Musi­cal Mon­sters sind eigentlich gar keine neue Musik. Aufgenom­men wurde das näm­lich schon 1980 bein Jaz­zfes­ti­val Willisau. Dessen Chef Niklaus Trox­ler hat die Bän­der gut aufge­hoben. Und Intakt kon­nte sie jet­zt, nach umständlich­er Rechte­abklärung, endlich veröf­fentlichen. Zu hören ist ein Quin­tett mit großen Namen: Don Cher­ry, Irène Schweiz­er, Pierre Favre, John Tchi­cai und Léon Fran­ci­oli, das es so son­st nicht zu hören gibt. Und tat­säch­lich merkt man das doch recht deut­lich, dass hier große Meister*innen am Werk sind, auch wenn sie son­st nicht zusam­men spiel­ten. Aber Musi­cal Mon­sters ist eine aus­ge­lassene, fröh­liche, inten­sive Musik. Selb­st wenn das tech­nisch nicht immer per­fekt sein mag: Es ist lebendig. Und das ist dann doch irgend­wie die Haupt­sache.

Don Cher­ry, John Tchi­cai, Irène Schweiz­er, Léon Fran­ci­oli, Pierre Favre: Musi­cal Mon­sters. Intakt Records CD 269, 2016. 59:28 Minuten.

Da Capo – Effektvolle Zugaben für Chöre

carsten gerlitz, da capo
Zugaben­stücke sind offen­bar gefährlich: Wenn der Ton­set­zer selb­st schon vor ihrem über­mäßigem Genuss warnt, dann sollte man wohl wirk­lich mit Vor­sicht genießen. Dabei gibt es kaum einen Grund, den Band „Da Capo!“ von Carsten Ger­litz mit spitzen Fin­gern anz­u­fassen. Im Gegen­teil, man sollte den unbe­d­ingt auf­schla­gen und (ein)studieren. Auch wenn der Titel nicht so ganz passt. Denn nicht die Wieder­hol­ung ist das Ziel von Ger­litz, son­dern neues Mate­r­i­al für die Zugabe bei Chorkonz­erten zu liefern. Echte „Knaller“ sollen es also sein, pep­pige Arrange­ments ver­spricht der Unter­ti­tel. Und das find­et man in den sechs Sätzen von über­schaubar­er Schwierigkeit dann dur­chaus – wenn auch nicht in jedem einzel­nen.

Denn einen Schlusspunkt für ein Konz­ert set­zen sie alle auf ganz ver­schiedene Weise: „Auf uns“ als groovig-poppige Soul­bal­lade, die Ger­litz‘ Fähigkeit als Arrangeur effek­tvoller Chor­musik beson­ders deut­lich zeigt, „Das Pub­likum war heute wieder wun­der­voll“ als schnell ein­studierte und schnell gesun­gene, unkom­plizierte Miniatur, die schon als Abspan­n­musik bei Bugs Bun­ny gut funk­tion­iert hat. Es geht aber auch roman­tis­ch­er, mit dem von Brahms entlehn­ten „Guten Abend, gute Nacht“, dem san­ft und sehr fein aus­gear­beit­eten „Der Mond ist aufge­gan­gen“ oder auch mit dem Abschied­slied der Come­di­an Har­monists, „Auf Wieder­sehn, my Dear“, das Ger­litz sehr nah an deren Klang und Arrange­ment set­zt. Und damit auch wirk­lich jed­er gemis­chter Chor hier etwas find­et, gibt es noch eine unkom­pliziert swin­gende, ja, fast harm­lose „Sen­ti­men­tal Jour­ney“ dazu. Und wenn man den schmalen Band so durch­blät­tert, trifft die War­nung des Vor­worts vielle­icht doch zu: Zu viel Feuer­w­erk ermüdet. Dafür reichen diese sechs Sätze aber nicht aus – schon allein deshalb nicht, weil sie so ganz und gar unter­schiedlich sind.

carsten gerlitz, in my life (beatles)
Und wer noch nicht weiß, wie er sein Pub­likum dazu bringt, Zugaben zu fordern, kann sich zweier ander­er kür­zlich erschiener Arrange­ments von Carsten Ger­litz bedi­enen – die sind jet­zt aber nicht mehr für jeden Chor und jeden Geschmack geeignet. Denn mit ABBAs „Danc­ing Queen“ und „In My Life“ von den Bea­t­les legt der ver­sierte Arrangeur zwei Sätze vor, die sehr genau und gut in die neue Rei­he Pop-Choir-Classics passen.Nah am Orig­i­nal empfehlen sie sich vor allem für im Pop schon ver­traute und geübte Chöre – bei­de set­zen auch ein fün­f­s­tim­miges, rhyth­misch sicheres Ensem­ble voraus. Mit weni­gen, oft nur punk­tuellen Änderun­gen, geschick­ter Stim­mverteilung und dra­matur­gis­chem Gespür wird aus bloßen a-cappella-Coverversionen bei Ger­litz ein Hit fürs näch­ste Konz­ert. Dabei arbeit­et er sehr ökonomisch mit Ein­fällen: Seine Arrange­ments sprühen nicht vor Ideen, sind aber stets wirkungsvoll gear­beit­et. Nicht zulet­zt liegt das auch an den Orig­i­nalen: Das sind eben echte Klas­sik­er, die Kraft und Inspi­ra­tion genug haben – die Rei­he trägt den Titel „Pop-Choir-Classics“ schließlich nicht umson­st.

Carsten Ger­litz: Da Capo! Zugabestücke in pep­pi­gen Arrange­ments für gemis­cht­en Chor. Mainz: Schott 2015 (ED 20577).
Carsten Ger­litz: Bea­t­les, In My Life. (Pop-Choir-Classics) Berlin: Bosworth 2015 (BOE7741).
Carsten Ger­litz: ABBA, Danc­ing Queen. (Pop-Choir-Classics) Berlin: Bosworth 2015 (BOE7742).

(Zuerst erschienen in „Chorzeit – Das Vokalmagazin“)

Strahlende Lichter: Das erste Album von Voxid

voxid, shades of light (cover)Das ist keine Musik für sparsame Haushal­ter. Denn Vox­id hält sich nicht zurück. Im Gegen­teil: Das Quin­tett singt, als gäbe es ein­fach kein Mor­gen mehr. Auf Shades of light gibt es näm­lich alles im Über­fluss: Klang, Sound und Ideen. Nichts wird zurück­ge­hal­ten, immer geht es in die vollen. Vox­id muss sich ja auch nicht ein­schränken, sie haben ein­fach ein schi­er uner­schöpflich­es Reper­toire an Möglichkeit­en. Und das nutzen sie für die zwölf Songs auch vol­lkom­men unge­niert aus. Es begin­nt schon beze­ich­nend mit Imo­gen Heaps „Head­lock“: Der Sound ist fett und luftig zugle­ich, die Musik klingt leicht und ernst, solide und spaßig gle­icher­maßen. Auch wenn das Quin­tett behauptet, „Music ain‘t my thing“, merkt man in jedem Moment: Hier nimmt jemand Pop sehr ernst – mit grandiosem Ergeb­nis. Vor allem, weil sich Vox­id als unge­heuer eng gefügtes Ensem­ble hören lässt: Da ist jede Stimme in jedem Moment an ihrem Platz.

MUSIC AIN’T MY THING by VOXID [offi­cial video clip]

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Eine andere Marke, die gle­ich geset­zt wird, ist das Niveau der Arrange­ments: Vox­id (früher schon einige Jahre unter dem Namen “tonal­rausch” unter­wegs) gibt sich nicht mit Dutzend­ware zufrieden. Deshalb kom­ponieren und arrang­ieren sie auch (fast) alles selb­st. Und das hört man, die genaue Pas­sung auf die Stim­men und das Ensem­ble funk­tion­iert wun­der­bar. Denn die Arrange­ments – und wirk­lich alle – sind ganz ein­fach großar­tig vielfältig, sprühen vor Ideen und stellen sich doch atmo­sphärisch ganz genau in den Dienst der Songs. Bei „Save your soul“ von Jamie Cul­lum zum Beispiel verbinden sich Flächen und Lin­ien mit dicht ver­wobe­nen Tex­turen und klan­glichen Reliefs. Und Vox­id singt das auch immer so, dass man nur zus­tim­mend nick­en kann: Jed­er Klang, jede Lin­ie, jed­er Akko­rd strotzt vor Energie, alles ertönt unge­heuer kraftvoll (man muss nur kurz in „Musi­cal Trea­sure“ hinein­hören!), aber mit ganz entspan­ntem Druck. Denn das Quin­tett erre­icht sein musikalis­ches und emo­tionales Durch­set­zungsver­mö­gen ganz ohne hör­bare Anstren­gung.

Das Beste – wenn man das aus einem Album von so gle­ich­bleibend hoher Qual­ität über­haupt her­ausheben kann – ste­ht am Ende: Zunächst „Edge“, das noch ein­mal mit voller Pow­er auf die Ziel­ger­ade ein­biegt und in dem vortr­e­f­flich gestaffel­ten Arrange­ment zwis­chen leichter Beat­box und inten­siv­er Melodie all die feinen Qual­itäten ihrer Ensem­blekun­st präsen­tiert. Aber dann fol­gt noch, als Bonus­track, eine beza­ubernde Ver­sion von „I fade away“, das sowieso die schön­ste Melodie der CD aufweist und hier im Remix mit Syn­the­siz­er-Ein­satz noch klan­glich aufgepeppt wird. Ger­ade das hätte Vox­id aber über­haupt nicht nötig, nach­dem es in den 50 Minuten davor so eine bril­lante Leis­tungss­chau des Vocal Pop präsen­tierte.

Vox­id: Shades of light. RUM Records 2018. 51:13 Spielzeit.

(Zuerst erschienen in “Chorzeit — Das Vokalmagazin”, #50, Juni 2018)

MUSICAL TREASURE by VOXID [offi­cial Video Clip]

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Taglied 12.4.2018

Heute ein ganz beson­deres Schmuck­stück, der “Marche fatale” von Hel­mut Lachen­mann:

Staat­sor­ch­ester Stuttgart — “Marche fatale” für großes Orch­ester von Hel­mut Lachen­mann

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So schreibt der Kom­pon­ist im Pro­grammheft der Urauf­führung:

Marche fatale – ist eine unvor­sichtig gewagte Eska­pade, sie dürfte den Ken­ner
mein­er Kom­po­si­tio­nen mehr irri­tieren als meine früheren Werke, von denen
nicht wenige sich erst nach Skan­dalen bei ihrer Urauf­führung durchge­set­zt
haben. Meine Marche fatale hat allerd­ings stilis­tisch mit meinem bish­eri­gen
kom­pos­i­torischen Weg wenig zu tun, sie präsen­tiert sich hem­mungs­los wenn
nicht als Rück­fall, so doch als Rück­griff auf jene Floskeln, an welche die
mod­erne Zivil­i­sa­tion in ihrer täglichen »Gebrauchsmusik« nach wie vor sich
klam­mert, während doch die Musik im 20. und 21. Jahrhun­dert längst zu
neuen, unge­wohn­ten Klang­land­schaften und Aus­drucksmöglichkeit­en vorge­drun­gen
ist.
[…]
Ist ein Marsch mit seinem kollek­tiv in kriegerische oder fes­tliche
Stim­mung zwin­gen­den Anspruch nicht a pri­ori lächer­lich? Ist er über­haupt
»Musik«? Kann man marschieren und zugle­ich hören?
[…]
Meine alte Forderung an mich und meine musikschaf­fende Umge­bung,
eine »Nicht-Musik« zu schreiben, von wo aus der ver­traute Musik­be­griff
sich neu und immer wieder anders bes­timmt, so dass der Konz­ert­saal statt
zur Zuflucht in trügerische Gebor­gen­heit­en zum Ort von geist-öff­nen­den
Aben­teuern wird, ist hier – vielle­icht? – auf ver­rä­ter­ische Weise »ent­gleist«.
Wie kon­nte das passieren?
Der Rest ist – Denken.

Einen kleinen Kom­men­tar zum Werk von Moritz Eggert gibt es auch beim Bad Blog of Musick: klick.

the king's men (official photo)

Königliche Liebe: Love from The King’s Men

Zum Glück ist die Liebe im wahren Leben nicht ganz so aus­geglichen und har­monisch wie auf dem neuen Album der „King’s Men“ aus Cam­bridge – das wäre ja etwas lang­weilig (und es gebe wohl auch weniger Liebeslieder zu sin­gen). In 14 Songs geht es hier nur um das Eine: „Love from King’s“. Schade ist allerd­ings, dass die jun­gen Män­ner das Risiko etwas scheuen. Denn die Möglichkeit­en dazu hät­ten sie dur­chaus, das beweisen sie auch mit dieser Auf­nahme immer wieder: Der form­bare Klang, die Fülle des Tut­tis, die Vielfalt der Stim­men, vor allem aber die organ­is­che Präzi­sion bei Tim­ing und Into­na­tion – eigentlich sind alle Zutat­en für eine großar­tige CD vorhan­den. Aber großar­tig ist „Love from King’s“ lei­der nur in eini­gen Teilen. Denn vieles bleibt doch etwas arg brav und betulich.
Gle­ich die Eröff­nung ist so ein Fall: Ganz klas­sisch und tra­di­tionell gesun­gen, bleibt „Is You Is or Is You Ain’t My Baby?“ erstaunlich belan­glog und lang­weilig. Auch auf dem Rest der Scheibe erfind­en die „King’s Men“ die Gat­tung nicht ger­ade neu. Behut­sam, sehr vor­sichtig fast, mod­ernisieren sie den Kanon der Liebe­lieder in Close Har­mo­ny. Und zunächst denkt man noch, dass ihre Zurück­hal­tung auch an der ten­den­ziell über­mikro­fonierten Auf­nahme liegt, die es dem Klang unnötig schw­er macht, sich wirk­lich zu ent­fal­ten. Aber dann hört man Michael Jack­sons wun­der­bar feinsin­nig arrang­iertes „Bil­lie Jean“ und ist begeis­tert von der ele­gan­ten Spritzigkeit des Ensem­bles. Auch das direkt anschließende „When she loved me“ von Randy New­man kann die Fähigkeit­en der siebzehn Män­ner aus­geze­ich­net zur Gel­tung brin­gen: Wie die „King’s Men“ hier mit eher beschei­de­nen musikalis­chen Mit­teln einen enor­men akustis­chen und emo­tionalen Raum und eine ger­adezu über­wälti­gende klan­gliche Fülle zaubern, das ist ein­fach wun­der­bar.
Das Muster set­zt sich fort: Die Klas­sik­er – unter anderem ein schläfriges „Won­der­ful Word“ und ein unin­spiri­ertes „Scar­bor­ough Fair“ – sind auf „Love from King‘s“ eher eine Schwach­stelle. Dass die neueren (Pop-)Songs, die eigentlich mit den gle­ichen Mit­teln und typ­is­chen Ideen arrang­iert wur­den, so deut­lich her­vorstechen, mag an der Jugend der Sänger liegen. Aber eigentlich ist das auch egal, denn Songs wie „Isn’t she love­ly“ sind echte Dia­man­ten: Hier brin­gen die „King’s Men“ die Musik und den Stim­men­klang immer wieder wirk­lich zum Funkeln und auch fast zum eksta­tis­chen Tanzen – so wie man sich auch die Liebe wün­scht.

The King’s Men: Love from King’s. The Record­ings of King’s Col­lege Cam­bridge 2018. Spielzeit: 47:22.

(Zuerst erschienen in “Chorzeit — Das Vokalmagazin”, #48, April 2018)

Cecil Taylor am Klavier

Cecil Taylor (1929–2018)

What a shame: Der große und großar­tige Cecil Tay­lor ist gestern ver­stor­ben. Die Ent­deck­ung sein­er Musik hat nicht ganz unwesentlich dazu beige­tra­gen, dass sich mir der Kos­mos des Free Jazz und der Impro­visierten Musik erschlossen hat. Und seine Auf­nah­men — unter anderem “The Willisau Con­cert” (2000) — sind immer noch und immer wieder unter meinen Lieblingsplat­ten, die ich am öftesten und immer wieder mit Begeis­terung hören kann. Beim Free Jazz Col­lec­tive gibt es einen sym­pa­this­chen Nachruf.

Cecil Tay­lor (ca. 1965)

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