Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Kategorie: literatur Seite 1 von 37

Snowflake in close-up

Schnee

Schnee: wer
dieses Wort zu Ende
denken kön­nte
bis dahin
wo es sich auflöst
und wieder zu Wass­er wird

das die Wege aufwe­icht
und den Him­mel in
ein­er schwarzen

blanken Pfütze
spiegelt, als wär er
aus nichtros­ten­dem Stahl

und bliebe
unverän­dert blau.

Rolf Dieter Brinkmann (aus: Le Chant du Monde)[Rolf Dieter Brinkmann: Stand­pho­tos. Gedichter 1962–1970. Rein­bek: Rowohlt 1980, S. 40]

Herbst

Die Blät­ter fall­en, fall­en wie von weit,
als welk­ten in den Him­meln ferne Gärten;
sie fall­en mit verneinen­der Gebärde.

Und in den Nächt­en fällt die schwere Erde
aus allen Ster­nen in die Ein­samkeit.

Wir alle fall­en. Diese Hand da fällt.
Und sie dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Ein­er, welch­er dieses Fall­en
unendlichen san­ft in seinen Hän­den hält.

Rain­er Maria Rilke, Herb­st (Das BUch der Bilder)

Gedichte

Bei Gedicht­en hil­ft zwei Mal lesen immer. Das kann nie falsch sein. Denn meis­tens ist schon nach dem zweit­en Mal klar, ob das Ding vor uns über­haupt ein Gedicht ist oder nicht. Wenn näm­li­uch nach dem zweit­en Mal klar ist, was da ste­ht, und eben­so duelitch, dass da nichts weit­er ist, als was man ver­standen hat, dann ist es kein Gedicht. Weil ein Gedicht eben nicht das ist, was man gemein­hin meint, wenn man sagt: Ich habe ver­standen.

Urs Engel­er, Mein Lieber Lühr (in: MÜtze #33, 1671)

Waldwege

Borsten und räu­berisch sind meine spezialen
Ver­stärk­er auf Waldp­faden, Käfer spiegelns
Hase-Fuchs-Reh, selb­strufend Herr und Frau
Kuck­uck. Der Men­sch, ide­alisch, sei immer
dem Walde zu, sin­gend. Beeren‑, Pilzkörbe
neben sich an dem gluck­senden Bache sitzen
gle­ich­sam zaubrisch. Nicht achte Zwer­gen-
werk niedrig und ‑horte in Ger­maniens Adern.
Neb­st Dis­po, Glatzen, Spuk, mag sein, auch
ächt­es Gold … Denn wer hat nachge­forscht.

Wald­wege

Stef­fen Popp, 118, 65

Krieg

Krieg

Alle Straßen sind mit Blut beglitzt.
Gierig leck­en viel­er Hunde Mün­der.
Bajonette lüstern hochge­spitzt.
Wit­ternd reck­en sich die Zwanzigpfün­der.

In den Nächt­en dro­hte der Komet.
Über Städten platzen die Granat­en.
Trom­meln, Trom­meln wird weit­ergewe­ht.
Braunge­plät­tet liegen alle Saat­en.

Her­mann Plagge (1914)

Akkumulation

Wolke, wohin du gewolkt bist.
Ein her­rlich­er Maitag – mir im Gemüte.

—aus: Elke Erb, “Ursprüngliche Akku­mu­la­tion” (in: Elke Erb, Men­sch sein, nicht, 1998)
bücherstapel

Aus-Lese #55

Ernst Bau­man: In die Berge! Alpine Fotografie der 1920er und 1930er Jahre. Her­aus­gegeben von Alfred Bülles­bach udn Rudolf Schicht. München: morisel 2019. 125 Seit­en. ISBN 978–3‑943915–37‑2.

baumann, in die berge (cover)Eine Rezen­sion in der Süd­deutschen Zeitung hat mich auf dieses schöne und span­nende Foto­buch aufmerk­sam gemacht. Die Geschichte der Fotografie ist ja nun nicht ger­ade ein Gebi­et, mit dem ich mich auskenne oder über­haupt irgend­wie beschäftigt habe. Trotz­dem (oder deshalb) macht das Buch viel Spaß. Dazu trägt auch nicht uner­he­blich die sehr infor­ma­tive (und selb­st schon reich bebilderte) Ein­führung von Alfred Bülles­bach bei, die es schafft, auch Laien der Fotografiegeschichte wie mir die Zusam­men­hänge, in den Bau­mann in den 20er und 30er Jahrend (und auch noch nach dem Zweit­en Weltkrieg) arbeit­ete, aufzuzeigen. Dazu gehört nicht nur die wirtschaftliche SIt­u­a­tion freier Fotografen, son­dern auch die Verbindung der Fotografie mit den Bergen, die zunehmende, zu dieser Zeit ja ger­ade in Schwung kom­mende touris­tis­che Erschließung der Alpen (durch den Bau von entsprechen­der Infra­struk­tur, durch den Urlaub­sanspruch der Angestell­ten und natür­lich auch durch die ökonomis­chen Möglichkeit­en bre­it­er­er Bevölkerungss­chicht­en, entsprechende Fahrten und Urlaube zu unternehmen), die als Hin­ter­grund für Bau­manns Fotos unab­d­ing­bar sind. Auch gefall­en hat mir, die Beto­nung der Rel­e­vanz der Bergfilme für die Zeit — nicht nur für das Bild der Berge in der Bevölkerung, son­dern auch als wirtschaftlich­es Stand­bein für nicht wenige Beteiligte

Die Fotos selb­st scheinen mir dann dur­chaus einen eige­nen Blick von Bau­mann zu ver­rat­en (mit dem bere­its erwäh­n­ten caveat, dass ich da über wenig Hin­ter­grund ver­füge): Ganz eigen, vor allem vor dem Hin­ter­grund der gegen­wär­ti­gen Extrem-Ver­mark­tung der Berge als spek­takulärster Spielplatz der Welt, ist die stille Ruhe und Gelassen­heit der Schön­heit der Berge (und auch ihrer Besuch­er, möchte ich sage, Besteiger oder Bezwinger wäre für die hier abge­bilde­ten Men­schen und ihre Hal­tung wohl der falsche Aus­druck, viel zu entspan­nt und zurück­hal­tend-freudi­ge treten sie mir vors Auge).

Ger­ade im Ver­gle­ich zu heuti­gen bildlichen Darstel­lung von Bergen und den Men­schen auf ihnen sieht das hier zahm aus. Auch, weil das eigentliche Erschließen der und das Bewe­gen in den Bergen eher ein Randthe­ma bleibt. Und weil es ver­gle­ich­sweise harm­lose Gipfel der Alpen sidn — aber, und das ist eben der Witz, den­noch unvergesslich in Szene geset­zt. Wahrschein­lich spielt auch die Schwarz-Weiß-Fotografie eine Rolle, wohl ger­ade bei den auf­tauchen­den Per­son­e­nen, die dadurch eine andere Schärfe und Kon­turierung zu haben scheinen als in den späteren Farb­fo­tografien (so ist zumin­d­est mein eigen­er Ein­druck …).

Chris­t­ian Neuhäuser: Wie reich darf man sein? Über Gier, Neid und Gerechtigkeit. 3. Auflage. Ditzin­gen: Reclam 2019 (Was bedeutet das alles?). 89 Seit­en. ISBN 978–3‑15–019602‑1

Neuhäuser, Wie reich darf man sein? (Cover)Neuhäuser betra­chtet Reich­tum und damit zusam­men­hän­gende Tugen­den und Prob­leme wie Gier, Gerechtigkeit, und Neid — der Titel ist hier tat­säch­lich sehr genau. Er argu­men­tiert dabei vor allem moral­philosophisch. Ökonomis­che, poli­tis­che und/oder soziale Kri­te­rien spie­len nur am Rand eine Rolle. Und den­noch ist das natür­lich — das bleibt bei dem The­ma und auch bei seinem Zugang gar nicht aus — natür­lich ein poli­tis­ches Buch, dass vor allem Super­re­iche für ihn unter moralis­chen, philosophis­chen und gesellschaftlichen (und damit ja auch poli­tis­chen) Aspek­ten dur­chaus kri­tisch zu betra­chen sind. Dabei geht es ihm aber über­haupt nicht um die Per­so­n­en, son­dern um die sich an ihnen man­i­festieren­den Reichtümer — und damit auch die Unter­schiede, die Gren­zen. Und das hängt eben oft mit Ungerechtigkeit­en zusam­men. Eines sein­er Kernar­gu­mente ist, dass Super­re­ich­tum — im Gegen­satz zu Wohl­stand und Reich­tum — nicht (mehr) ver­di­ent sein kann und damit moral­philosophisch ein Prob­lem ist.

Ein biss­chen schade ist, dass Neuhäuser dabei oft nicht sehr in die Tiefe geht: Das ist manch­mal etwas plaud­ernd ger­at­en — was nicht heißt, dass Neuhäuser mit sein­er Argu­men­ta­tion falsch läge. Aber manch­es scheint mir nicht zu ende gedacht/geschrieben, zumin­d­est in diesem Büch­lein (es ist ja nun nicht die einzige Auseinan­der­set­zung des Autors mit diesem The­ma).

Björn Kuh­ligk: Die Sprache von Gibral­tar. Gedichte. München: Hanser Berlin 2016. 85 Seit­en. ISBN 978–3‑446–25291‑2.

kuhligk, sprache von gibraltar (cover)Kuh­ligk habe ich bish­er eher am Rande wahrgenom­men: Dur­chaus offen­bar ansprechende Qual­itäten im lit­er­arischen Schreiben, aber nicht mein drin­gen­ster Lek­türewun­sch. Die Sprache von Gibral­tar kön­nte das ändern. Das ist näm­lich ein feines Buch.

Ganz beson­ders der erste Teil, der titel­gebende Zyk­lus über Gibral­tar und die europäis­che Enklave dort, ist richtig gut. Das ist keine über­mäßige Betrof­fen­heit­slit­er­atur, der man die Bemühtheit an jedem Wort anmerkt. Aber es ist ein genaues Hin­schauen (was an sich schon dur­chaus eine lohnenswerte Leis­tung wäre). Und es ist vor allem die Fähigkeit, aus dem Hin­schauen, aus der Absur­dität und auch der Grausamkeit der Welt in diesem kleinen Ort eine poet­is­che Sprache zu find­en und zu bilden. Damit lässt Kuh­ligk auch immer wieder die zwei Wel­ten aufeinan­der prallen und sich nicht nur heftig aneinan­der reiben, son­dern krachend miteinan­der Ver­hak­en.

Sehr passend scheint mir auch das (son­st bei Kuh­ligk meines Wis­sens nicht vorherrschend, sog­ar sehr sel­ten einge­set­zte) Mit­tel der lan­gen, erschöpfend­en, ermü­den­den Rei­hung in diesem Zyk­lus einge­set­zt zu wein — etwa die sehr ein­drück­lich wirk­ende und genaue Litanei “wenn man …”.

Und dann gibt es auch noch in den restlichen Abschnit­ten, in der zweit­en Hälfte des Ban­des, gute und schöne Gedichte, die etwa sehr gelun­gen die Trost­losigkeit des Landlebens im “Dor­fkrug” (47) ein­fan­gen oder in der Dopplung von “Was wir haben” (50) und “Was fehlt” (51) beina­he so etwas wie eine unsen­ti­men­tale Land­schaft­slyrik entwick­eln.

wenn man das Wort „Kap­i­tal­is­mus“ ausspricht, ist im Mund viel los / wenn man Kohle hochträgt, trägt man Asche runter (35)

Jür­gen Kaube: Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder? 2. Auflage. Berlin: Rowohlt Berlin 2019. 335 Seit­en. ISBN 978–3‑7371–0053‑3.

Kaube, Ist die Schule zu blöd (Cover)Nun ja. Das war eine eher ent­täuschende Lek­türe. Kaube beobachtet das Bil­dungssys­tem im weit­eren Sinne schon länger und hat sich auch immer wieder darüber geäußert, dur­chaus auch jen­seits der tae­sak­tuellen Anlässe. Seine kleine Schrift Im Reformhaus habe ich damals dur­chaus mit Gewinn gele­sen. Bei Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder? ist das aber lei­der anders. Der Titel hätte ja schon eine War­nung sein kön­nen. Schon die ersten Seit­en und die anfänglichen Kapi­tel zeigen schnell ein Haupt­manko des Buch­es: viel Gerede, viel schöne Beispiele, aber eher wenig Sub­stanz.

Vor allem hat mich sehr schnell und recht nach­haltig gen­ervt, wie selek­tiv er liest/wahrnimmt und dann lei­der auch argu­men­tiert. Das wird zum Beispiel in Bezug auf Bil­dungsem­pirik­er (für ihn ja fast ein Schimpf­wort) sehr deut­lich, aber auch in seinen aus­g­wählten Bezü­gen auf Bil­dung­sun­gle­ich­heit und Chan­ce­nun­gle­ich­heit im Bil­dungs­bere­ich. Das ist ja eines sein­er Haup­tar­gu­mente hier: Dass die Schule nicht dafür da ist, Ungle­ich­heit zu beseit­i­gen, dass sie von Politiker*innen zunehmend dazu “benutzt” wird, soziale Prob­leme zu lösen. Ich kann ihm ja dur­chaus darin (cum gra­no salis) zus­tim­men, dass die Schule das kaum leis­ten kann. Ich bin mir aber nicht so sich­er, ob das wirk­lich ein so bes­tim­mendes Motiv der Bil­dungspoli­tik und so sehr ein wirk­lich­es Prob­lem ist. Jeden­falls haben diese Nach­läs­sigkeit­en mir es dann aus­ge­sprochen schw­er gemacht, die pos­i­tiv­en Aspek­te wirk­lich zu würdi­gen (die aber dur­chaus vorhan­den sind, nur lei­der eben etwas begraben unter dem ein­seit­i­gen, schimpfend­en Gewet­ter Kaubes).

außer­dem gele­sen:

  • Lüt­fiye Güzel: sans trophée. Duis­burg, Berlin: go-güzel-pub­lish­ing 2019.
  • Siegfried Völl­ger: (so viel zeit hat nie­mand). Gedichte. München: Allit­era 2018 (Lyrikedi­tion 2000). 105 Seit­en. ISBN 978–3‑96233–075‑0.
  • Philipp Hübl: Bull­shit-Resistenz. 2. Auflage. Berlin: Nico­lai 2019 (Tugen­den für das 21. Jahrhun­dert). 109 154 Seit­en. ISBN 978–3‑96476–009‑8.
Bibliothek (gebogene Reihe)

Aus-Lese #54

Eber­hard Kolb: Otto von Bis­mar­ck. Eine Biogra­phie. München: Beck 2014. 208 Seit­en. ISBN 978–3‑406–66774‑9.

kolb, bismarck (cover)Als Biogra­phie ist das für mich kaum sat­is­fak­tions­fähig: Zu blass und ver­schwom­men bleibt das Bild. Der Men­sch Bis­mar­ck, die Per­son, tritt nahezu gar nicht auf — ab und an gibt es Hin­weise auf seine Gesund­heit oder ein paar ganz wenige auf Frau und Kinder. Im Vorder­grund oder bess­er alleine im Fokus ste­ht sein poli­tis­ches Han­deln. Das beschreibt Kolb mit Zunei­gung, aber dur­chaus auch mit Blick für die Ambivalen­zen Bis­mar­cks. Aber auch das Zen­trum, die Poli­tik, bleibt blut- und far­b­los. Das liegt vor allem daran, dass Kolb oft sehr großzügig durch die Geschehnisse und Tat­en durch eilt udn nur die Ergeb­nisse berichtet, den Weg aber meist nur sum­marisch (und oft genug mit dem Hin­weis: Die Details sind bekan­nt). Das wiederum hängt damit zusam­men, dass er keinen recht­en Zugriff find­et: Eigentlich ist das eine preußische/deutsche Geschichte am Beispiel Bis­mar­cks. Und bei­des ist in diesem Umfang natür­lich kaum beson­ders inten­siv oder tiefge­hend zu leis­ten.

Wu Ming: Man­i­tu­a­na. Berlin, Ham­burg: Assozi­a­tion A 2018. 509 Seit­en. ISBN 978–3‑86241–465‑9.

wu ming, manituana (cover)Man­i­tu­a­na reicht lei­der nicht an die let­zten Bände von Wu Ming her­an. Das kann dur­chaus daran liegen, dass der USA, ihre Unab­hängigkeit­skrieg und der Kampf mit, um und gegen die “Indi­an­er” schon an sich nicht so ganz mein Ding sind. Da passiert dann zwar wieder viel, es wird gekämpft, bet­ro­gen, ver­rat­en und ver­han­delt, eine Del­e­ga­tion darf auch nach Eng­land reisen und sich im Luxus (und den Niederun­gen Lon­dons) des Adel­slebens gehörig fremd fühlen. Ich hat­te beim Lesen aber schon eigentlich durch­weg den Ein­druck, dass das an Span­nung und vor allem hin­sichtlich des bild­haften, detail­re­ichen Erzäh­lens ein­fach nicht (mehr) so gut ist. Zu sehr dringt hier immer wieder die Absicht an die Ober­fläche und stellt sich vor den Text — und damit funk­tion­iert genau das, was bei anderen Tex­ten von Wu Ming die beson­dere Span­nung und den speziellen Reiz aus­macht, hier lei­der nicht.

Jan Peter Bre­mer: Der junge Dok­torand. 2. Auflage. München: Berlin 2019. 176 Seit­en. ISBN 978–3‑8270–1389‑7.

bremer, der junge doktorand (cover)Das ist ein über­raschend feines, kleines Buch. Jan Peter Bre­mer hat­te ich bish­er ja über­haupt nicht auf dem Schirm. Aber in Der junge Dok­torand zeigt er sich dur­chaus als gewiefter Erzäh­ler, der sein Handw­erk ver­ste­ht und vor allem ernst nimmt: Ernst nehmen in dem Sinn, dass er sich bemüht, sauber zu arbeit­en, Fehler zu ver­mei­den. Das zeigt der Text, der mit Gespür und Form­be­wusst­sein erzählt ist. Das kun­stvolle Beherrschen des Erzäh­lens zeigt sich auch in dem Umfang des Buch­es: Das ist ein klein­er Roman. Es geht auch gar nicht so sehr um große, allum­fassende Dinge — die Welt wird hier nicht ger­ade erzählt. Aber auch wenn er sich beschei­den gibt: Bre­mer gelingt es doch, auf den weni­gen Seit­en mit genauen Sätzen, tre­f­fend­en Beschrei­bun­gen und Bewusst­sein für das richtige Tem­po große The­men zu erzählen: Es geht um Ehe, um Gesellschaft und Indi­vidu­um, und natür­lich, vor allem, um Kun­st — und auch ein biss­chen um nicht-normierte Lebensläufe wie den des jun­gen Dok­toran­den, der wed­er jung noch Dok­torand ist. Das klingt in der Zusam­men­fas­sung recht trock­en und ja, fast banal, ent­fal­tet bei Bre­mer aber eine tre­f­fend­en und sub­tile Komik. Und das macht dann ein­fach Spaß.

Nor­bert Scheuer: Win­ter­bi­enen. 5. Auflage. München: Beck 2019. 319 Seit­en. ISBN 978–3‑406–73964‑4.

scheuer, winterbienen (cover)Die Win­ter­bi­enen haben mich etwas ent­täuscht und rat­los zurück­ge­lassen. Ich habe Scheuer ja dur­chaus als erfahre­nen Erzäh­ler und Autor schätzen gel­ernt. Dieser Roman hat aber mehr Schwächen als er mit seinen eher mäi­gen Stärken aus­gle­ichen kann. Da ist zum einen die selt­same Tage­buch-Fik­tion. Die passt näm­lich vorne und hin­ten nicht: Gut, dass der Tage­buch­text in Fußnoten die lateinis­chen Zitate über­set­zt, das wird noch von der Her­aus­ge­ber­fik­tion gedeckt. Dass (als ein Beispiel von vie­len) Egid­ius Ari­mond (schon der Name macht mich ja beina­he wahnsin­nig) als erfahren­er Imk­er aber nach jahrzehn­te­langer Tätigkeit seinem Tage­buch erk­lärt, was er warum bei den Bienen, vor allem eben im Win­ter, macht, ist ein­fach handw­erk­lich­er bzw. erzähltech­nis­ch­er Unsinn, der ein­er Lek­torin dur­chaus mal hätte auf­fall­en dür­fen. Der Roman an sich ist für mich etwas zwiespältig: Natür­lich sehr durch­drun­gen von völkisch­er Ide­olo­gie, die eben wieder durch die Tage­buch-Fik­tion legit­imiert wird. Dann ist da noch das Lei­den eines Krieges, der auf die Aggres­soren zurück­ge­fall­en wird, hier aber — in Ari­mond und den restlichen, schemen­haft auf­tauchen­den Eifel­be­wohn­ern — eher als irgend­wie gegeben hin­genom­men wird. Ange­blich ist die erzählte Welt geprägt von dem “Wun­sch nach ein­er friedlichen Zukun­ft” — davon merkt man im Text aber reich­lich wenig. Im ganzen bleibt mir das etwas frag­würdig und vor allem aus­ge­sprochen unbe­friedi­gend: Warum erzählt Scheuer uns das? Und warum ver­steckt sich der Autor so (beina­he) vol­lkom­men hin­ter sein­er Fig­ur — was will mir das eigentlich sagen?

außer­dem gele­sen:

  • Heim­i­to von Doder­er: Unter schwarzen Ster­nen. Erzäh­lun­gen. München: Deutsch­er Taschen­buch Ver­lag 1973. 154 Seit­en. ISBN 3–7642-0055–3.
  • Glenn Gould: Frei­heit und Musik. Reden und Schriften. 2., durchge­se­hene und ergänzte Auflage. Ditzin­gen: Reclam 2019 (Was bedeutet das alles?). 84 Seit­en. ISBN 978–3‑15–019412‑6.
  • Alger­non Black­wood: Eine Kan­u­fahrt auf der Donau. / Die Wei­den. Ulm: danube bookes 2018. 154 Seit­en. ISBN 978–3‑946046–13‑4.
  • Sibylle Schwarz: Ist Lieben Lust, wer bringt dann das Beschw­er?. Leipzig: Rei­necke & Voß 2016. 58 Seit­en. ISBN 978–3‑942901–21‑5.

Hölderlin

Hölder­lin und die Bibel sind die einzi­gen Dinge auf der Welt, die sich niemals wider­sprechen kön­nen.

—Ger­shom Sholem, Tage­buch 1918–1919

Goethe und Schiller

Nichts ist so egal wie etwas, das neben Goethe und Schiller ste­ht. Nie­mand besucht es. —Clemens J. Setz, Bot, 38

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