Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Kategorie: literatur Seite 1 von 38

Trauer auf dem Wäschedraht im Januar

Ein Stück Draht, krumm
aus­ge­spannt, zwi­schen zwei
kah­len Bäu­men, die

bald wie­der Blätter
trei­ben, früh am Morgen
hängt dar­an eine

frisch gewa­sche­ne
schwar­ze Strumpfhose
aus den verwickelten

lan­gen Bei­nen tropft
das Was­ser in dem hellen
frü­hen Licht auf die Steine.

Rolf Die­ter Brinkmann

Tor August

schwer­fäl­li­ger mahlt
der gros­se motor som­mer
gedan­ken kau­en­der tor
zum abend geneigt
steht mit­tag im feld
prackt­voll sinkt rot
unterm wol­ken­bro­kat
schon am herbst­saum
trei­ben die wie­sen
das tor in den tag
ange­lehnt
du ich zwi­schen
tür und angel

Ste­fan Döring (aus: Mona­te Jah­re (in: WENN WELT. Ber­lin, Schupf­art 2024 (rough­books 064), S. 83.))

#20books Book Challenge

Ich bin wie­der mal hoff­nungs­los late to the par­ty, dafür gibt es gleich alles auf einen Streich und hier, nicht auf Mast­o­don, wo die Chall­enge her­kommt: „20 Bücher, die dich geprägt haben. Ein Buch pro Tag, 20 Tage lang.“. 

Die Aus­wahl war gar nicht so ein­fach: Man­che Bücher waren sehr schnell klar, bei ande­ren war es schwie­ri­ger, sich auf ein kon­kre­tes Buch fest­zu­le­gen – oft ist es dann doch eher ein Autor/​eine Autorin oder eine Grup­pe von Tex­ten, die mich beson­ders beein­fluss­ten. Nichts­des­to­trotz, das ist die Lis­te, die nach eini­gem Über­le­gen raus­kam (ohne beson­de­re Reihenfolge):

  1. Judith Kerr, Als Hit­ler das rosa Kanin­chen stahl
  2. Gud­run Pau­se­wang, Die Wolke
  3. Micha­el Ende, Momo
  4. Tho­mas Mann, Der Zauberberg
  5. Peter Weiss, Ästhe­tik des Widerstands
  6. Peter Kurz­eck, Der Nuß­baum gegen­über vom Laden, in dem du dein Brot kaufst. Die Idyl­le wird bald ein Ende haben!
  7. Fried­rich Höl­der­lin, Hype­ri­on oder der Ere­mit in Griechenland
  8. Max Horkheimer/​Theodor W. Adorn, Dia­lek­tik der Auf­klä­rung. Phi­lo­so­phi­sche Fragmente
  9. Tho­mas Bern­hard, Aus­lö­schung. Ein Zerfall
  10. Georg Büch­ner, Lenz
  11. Georg Büch­ner, Der Hes­si­sche Landbote
  12. Georg Fried­rich Wil­helm Hegel, Ästhetik
  13. Rai­nald Goetz, Irre
  14. Tho­mas Mann, Dok­tor Faustus
  15. Judith Buth­ler, Das Unbe­ha­gen der Geschlechter
  16. Fried­rich Schil­ler, Über die ästhe­ti­scher Erzie­hung des Menschen
  17. Michel de Mon­tai­gne, Essais
  18. Car­lo Ginz­burg, Der Käse und die Würmer
  19. Tho­mas Meine­cke, Tomboy
  20. Tho­mas Kling, Erpro­bung herz­stär­ken­der Mit­tel, Geschmacks­ver­stär­ker, Brenn­stabm, Nacht.Sicht.Gerät. Aus­ge­wähl­te Gedich­te 1981 – 1993

Juniverse

him­mel­wärts gezo­gen
die stri­che der grä­ser
mit lüf­ten ver­floch­ten
unter feder­wol­ke gesang
flug auf unli­nier­tem blatt
samen gefie­dert steigt
hin­ge­sun­ke­ne feder
getaucht in holun­der­schat­ten
schreibt

Ste­fan Döring (aus: Mona­te Jah­re (in: WENN WELT. Ber­lin, Schupf­art 2024 (rough­books 064), S. 81.))

Das Nicht-Erin­ner­te ist Tag-gerecht,
Irdi­sche Into­na­ti­on und hand­vol­le
Blü­te, nicht Nach­ah­mung.
Bild mehr!

Petra Gangl­bau­er (aus: Was­ser im Gespräch, 2016, S. 39, Kar­ger Lämmermond)

Frühlingsbeginn

Die Wein­berg­schne­cke ist fort
gekro­chen, den zar­ten Deckel aus
Kalk oder Elfen­bein ließ
sie auf der Mau­er zurück.

Micha­el Busel­mei­er (aus: In den San­den bei Mau­er. Letz­te Gedich­te, 2023, S. 14)

Schweigen

Was sie sagen,
die Vor­fah­ren,
geht uns viel­leicht gar nichts an.
Wir sehen, was sie tun, was sie taten,
aber ob es sie waren?

Ich könn­te in die Biblio­thek gehen
und lesen, was eigent­lich gemeint war,
und schrei­en.
Ich könn­te die Blöd­heit im Schnitt der Stei­ne,
ver­mer­gelt mit Weis­heit, erken­nen
und schrei­en,
ein­ge­mau­ert in die­se Geschichte.

Es muss Geschwis­ter geben (alle so Schwesta, Bru­da, Cou­sin)
unter­schied­lich reagie­rend auf den glei­chen Schas,
gleich (gemein­sam) im Unterschiedlichen,

und ich bin blö­de zu mei­nem Glück
wie ein Göt­ter­baum ein, zwei Meter wach­send im Jahr,
das kann ich,
mit dem gan­zen Kör­per in die Bewe­gung lehnen.

Die Anlei­tun­gen: Was sagen sie, was – wohin fal­len sie,
dahin fal­len wir auch und dann sagen wirs nicht.
Schau mich an,
wir sind die Rui­nen
für alle Idyl­len,
wir sind die Minen
für Iro­nie

Ann Cot­ten (aus: Die Anlei­tung der Vor­fah­ren. Ber­lin: Suhr­kamp 2023, s. 138)

Zukunft

Seven Lines About Future

Die Zukunft wird kom­men.
Auch die der Lite­ra­tur.
Sie wird wenig Hei­mat haben,
wenn sie kommt.
Aber Tag und Nacht und
die Kör­per, die sie lieben.

Lud­wig Fels, Mit mir hast du kei­ne Chan­ce, 5
Snowflake in close-up

Schnee

Schnee: wer
die­ses Wort zu Ende
den­ken könn­te
bis dahin
wo es sich auf­löst
und wie­der zu Was­ser wird

das die Wege auf­weicht
und den Him­mel in
einer schwar­zen

blan­ken Pfüt­ze
spie­gelt, als wär er
aus nicht­ros­ten­dem Stahl

und blie­be
unver­än­dert blau.

Rolf Die­ter Brink­mann (aus: Le Chant du Monde)[Rolf Die­ter Brink­mann: Stand­pho­tos. Gedich­ter 1962–1970. Rein­bek: Rowohlt 1980, S. 40]

Herbst

Die Blät­ter fal­len, fal­len wie von weit,
als welk­ten in den Him­meln fer­ne Gär­ten;
sie fal­len mit ver­nei­nen­der Gebärde.

Und in den Näch­ten fällt die schwe­re Erde
aus allen Ster­nen in die Einsamkeit.

Wir alle fal­len. Die­se Hand da fällt.
Und sie dir and­re an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, wel­cher die­ses Fal­len
unend­li­chen sanft in sei­nen Hän­den hält.

Rai­ner Maria Ril­ke, Herbst (Das BUch der Bilder)

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