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Kategorie: musik Seite 5 von 37

bob chilcott, sun, moon, sea and stars (cover)

Sonne, Mond und Sterne — Tenebrae Consort singt Bob Chilcott

bob chilcott, sun, moon, sea and stars (cover)Sonne, Mond und Sterne funkeln um die Wette und auf der Erde schwap­pen leichte Wellen des Meeres an den feinen Sand­strand – so muss man sich wohl eine ide­ale Sit­u­a­tion für diese CD vorstellen. Das titel­gebende „Sun, Moon, Sea and Stars“ ist nicht nur eine der weni­gen Orig­i­nalkom­po­si­tio­nen von Bob Chilcott, son­dern vor allem eine Bal­lade, die sich in die Ohrgänge schmiegt. Wie der dichte Satz in Close Har­mo­ny beim Tene­brae Con­sort hier ganz ruhig und weich daliegt und der ein­schme­ichel­nden Melodie des san­ften Liebesliedes viel Raum lässt, das ist ziem­lich per­fekt und roman­tisch.

Den Löwenan­teil der meist kurzen Stücke, die nur sel­ten die Drei-Minuten-Gren­ze über­schre­it­en („I’ll sing you a song and it’s not very long“ heißt es ein­mal), haben aber die im Laufe der let­zten Jahre und Jahrzehnte arrang­ierten Tra­di­tion­als aus ver­schiede­nen Eck­en der Welt – unter anderem sind Kana­da, die USA, Frankre­ich und Japan vertreten –, die die bekan­nten und bewährten Fähigkeit­en des gewieften Arrangeurs Bob Chilcott hör­bar wer­den lassen. Das Tene­brae Con­sort, das hier als Quin­tett unter der Leitung von Nigel Short auftritt, nimmt sich der Klein­o­di­en mit vernehm­bar viel Liebe und höch­ster Sorgfalt an. Das hört man jedem Motiv, jedem Akko­rd an: Sauber, ja per­fekt in großar­tiger Klarheit intoniert (man kann die Par­ti­tur hörend fast mitschreiben), aber nie kalt, son­dern immer empathisch sin­gen sie. Her­rlich zu hören etwa, wie berührend „Shenan­doah“ hier fle­hend lieben darf.

Pro­fes­sionell ist auch die Auf­nah­me­tech­nik, die den Ensem­bleklang sehr genau und wohltuend repräsen­tiert. Har­monie wal­tet run­dum in diesen 65 Minuten, das ist alles über­aus nett und auch ein kleines biss­chen harm­los. Denn auf große Gesten, auf riskante Deu­tun­gen verzicht­en Ensem­ble und Diri­gent durch­weg. Das ist aber völ­lig okay, auch Chilcott geht es in den hier einge­sun­genen Arrange­ments in der Regel nicht so sehr um das Uner­hörte, son­dern darum, das Charak­ter­is­tis­che der über­liefer­ten Lieder her­auszuk­itzeln. Und ihre eigene Schön­heit.

Ganz aus­geze­ich­net gelingt das etwa bei dem sehr gewitzten und lebendi­gen Arrange­ment des kanadis­chen Refrain­lieds „Feller from For­tune“, das auch allen Stim­men viel Raum zum Bril­lieren gibt – und das zum Schluss ganz unver­hofft in ein wun­der­bar anheimel­ndes Wiegen­lied hinüber gleit­et. Die wohltö­nende, lebendig aus­tari­erte Klangschön­heit zeich­net Tene­brae Con­sort nicht nur hier, son­dern auf der gesamten CD aus und macht die pathos­re­iche Musik auch für nüchterne Zeitgenossen zu einem Genuss. Denn auf Sun, Moon, Sea and Stars ver­führt alles zum Träu­men – sowohl die Musik Chilcotts als auch ihre hinge­bungsvolle Wieder­gabe durch das Tene­brae Con­sort sind in dieser Hin­sicht ein­fach ansteck­end.

Sun, Moon, Sea and Stars. Songs and Arrange­ments by Bob Chilcott. Tene­brae Con­sort, Nigel Short. Bene Arte SIGCD903, 2016. 64 Minuten.

(Zuerst erschienen in »Chorzeit – Das Vokalmagazin« No. 29, Juli/August 2016.)

Aus-Lese #45

Rein­hard Jir­gl: Oben das Feuer, unten der Berg. München: Hanser 2016. 288 Seit­en.

–Sie wur­den geboren, arbeit­eten, und sie star­ben. Wäre Leben so=einfach so=kurz wie dieser Satz, Leben, wäre gewiß glück­voller. Leben aber dauert länger als 1 Satz. (31)

jirgl, oben das feuerOben das Feuer, unten der Berg — an dem Buch ist nicht nur der Titel selt­sam und rät­sel­haft. Ich bin ja eigentlich ein großer Bewun­der­er der Werke Rein­hard Jir­gls, aber mit diesem Roman kann ich wenig bis gar nichts anfan­gen. Das, was von ein­er Geschichte übrig ist, ist rät­sel­haft, schwankt zwis­chen Kri­mi und Ver­schwörungs­the­o­rie, Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung und Ver­bit­terung. Die auf­tauchen­den Fig­uren sind eigentlich lauter kaputte Men­schen. Oder: Sie wer­den kaputt gemacht, durch das „Sys­tem“, die Macht oder ähn­liche Instanzen. Die grausame Bru­tal­ität der Welt, der Macht und der Mächti­gen, die die Moral nur als Deck­man­tel und Beruhi­gung fürs Volk (wenn über­haupt) haben, benutzen — den ganzen Text durch­dringt eine sehr schwarze, pes­simistis­che Welt­sicht. So weit, so gut (oder auch nicht, aber das ist ja erst mal egal). Frag­würdig bleibt mir aber doch ein­fach vieles. Auf dem Schutzum­schlag ste­ht etwa: „Titel, Textvol­u­men und Rei­hen­folge der Kapi­tel im Roman sind von dem altchi­ne­sis­chen Orakel I‑Ging bes­timmt.“ — Zum einen: was soll das? Ich habe keine Ahnung … Zum anderen: Ich bezwei­fle fast, dass das über­haupt stimmt …

In den faszinieren­den, genauen, poet­is­chen (d.i. lyrischen) Beschrei­bun­gen, ja, der ger­adezu über­bor­den­den Beschrei­bungs­ge­nauigkeit liegt vielle­icht die größte Stärke des Romans, auch durch die Spezialorthografie, die näm­lich Möglichkeit­en und Deu­tun­gen der Sprache verdeut­lichen, verein­deuti­gen oder über­haupt erst eröff­nen kann. Auf der anderen Seite hat­te ich oft den Ein­druck eines „ver­wilderten“ Text, der sich von sich selb­st treiben lässt und der im Zick­za­ck-Kreis des Erzäh­lens „der“ Geschichte keine wie auch immer geart­ete Ord­nung gel­ten lässt (zumin­d­est keine, die ich erken­nen kön­nte). Selt­sam finde ich auch: Eigentlich passiert das meiste des Romans auf pri­vater, ja intimer Ebene. Aber dann will der Roman doch die ganz großen The­men behan­deln (z.B. die Macht und die Moral) — das passiert dann (damit es jed­er merkt) v.a./nur durch das neun­malk­luge Dozieren der Fig­uren, in deren Erken­nt­nis­sen, in deren Durch­schauen der Welt und der Ver­schwörun­gen) sich der Erzäh­ler (und vielle­icht auch der Autor) zu allem und jedem äußern kann, seine Posi­tion als wahre absich­ern und mit­teilen kann.

?Wo in alldieser unermeßlichen=Unendlichkeit blieb eigentlich ?mein Web­faden, ?meine=!ureigene Spur, die mich etwas Unver­wech­sel­bares in dieses uner­schöpfliche Lebenswis­chhaderge­filz hätte hin1prägen lassen. (230)

Daniela Danz: Lange Flucht­en. Göt­tin­gen: Wall­stein 2016. 146 Seit­en.
Zu dem sehr gelun­gen kleinen Roman von Daniela Danz — die übri­gens auch vortr­e­f­fliche Lyrik schreibt — habe ich vor eini­gen Tagen schon etwas geschrieben: Lange Flucht­en, gebroch­ene Men­schen.
Wil­helm Lehmann: Ein Lese­buch. Aus­gewählte Lyrik und Prosa. Her­aus­gegeben von Uwe Pörk­sen, Jut­ta Johannsen und Hein­rich Deter­ing. Göt­tin­gen: Wall­stein 2011. 160 Seit­en.

lehmann, lesebuchAuf Wil­helm Lehmann bin ich erst durch die zweite Aus­gabe des Gel­ben Akro­bat­en von Michael Braun und Michael Buselmeier aufmerk­sam gewor­den. Lehmann, der von bis vor allem an der Küste lebte, war als Lehrer sowohl ein aus­geze­ich­neter Naturbeobachter als auch ein stark­er Dichter, wie ich anhand des Lese­buchs leicht fest­stellen kon­nte. Dort bieten die drei Her­aus­ge­ber eine Auswahl aus der mehrbändi­gen Werkaus­gabe: (viel) Lyrik, etwas aus den Tage­büch­ern, einige Auszüge aus theoretischen/poetologischen Essays und ein wenig Prosa. Inwieweit das ein repräsen­ta­tives Bild abgibt, kann ich nicht beurteilen. Sagen kann ich nur, dass das, was ich hier gele­sen habe, faszinierende Momente hat. Die mich am meis­ten berühren­den Texte und Pas­sagen waren wohl die, wo sich der penible und wis­sende Naturbeobachter mit dem bild­kräfti­gen Lyrik­er verbindet.

Aus vie­len der Naturbeschrei­bun­gen der Gedichte spricht eine leise Wehmut: Die Natur ist für Lehmann ganz offen­bar ein Ort, an dem die göttliche/geschöpfte/schöpferische Ord­nung noch gilt und dann auch zu beobacht­en ist; sie bleibt vom Chaos, der Gewalt und dem Schmerz der Men­schen (den sich die Men­schen gegen­seit­ig (und ihr) zufü­gen) unberührt. Solche Lyrik ist, wie er es in einem Auf­satz ein­mal auf den Punkt bringt: „Poe­sie als Ein­willi­gung in das Sein“.

Ger­ade in der Zeit des Zweit­en Weltkrieges scheint sich das aber zu ändern: Zunehmend wer­den Natur und Menschenwelt/Zeitgeschichte im Gedicht kon­fron­tiert, meist nebeneinan­der gestellt (sozusagen ohne ter­tium com­pa­ra­tio­nis): Hier die gle­ich­för­mige (im Sinne von in einem fes­ten Rhyth­mus sich wieder­holende), ver­traute (d.h. auch: les­bare, entschlüs­sel­bare, ver­ste­hbare) Natur, dort der uner­hörte Schreck­en, das unge­se­hene und ungeah­nte Grauen des Weltkriegs. Das bleibt aber immer sehr sub­til und — ger­ade in den Beschrei­bun­gen und Schilderun­gen — sehr kun­stvoll, in fein aus­tari­erten Rhyth­men und mit oft sehr har­monisch, fast selb­stver­ständlich wirk­enden Reimen aus­gear­beit­et. Am besten verdeut­licht das vielle­icht ein Gedicht wie “Fal­l­ende Welt”:

Das Schweigen wurde
Sich selb­st zu schw­er:
Als Kuck­uck fliegt seine Stimme umher.

Mit bronzenen Füßen
Lan­det er an,
Gefleck­tes Kleid
Hat er ange­tan.

Die lose Welt,
Wird sie bald fall­en?
Da hört sie den Kuck­uck
Im Grunde schallen.

Mit schnellen Rufen
Ruft er sie fest.
Nun dauert sie
Den Zeit­en­rest.

Sabine Bergk: Gils­brod. Nov­el­le. Berlin: Dit­trich 2012. 132 Seit­en.

bergk, gilsbrod (cover)Der Ver­lag nen­nt die auf der Opern­bühne spie­lende Nov­el­le von Sabine Bergk „Übertrei­bungslit­er­atur”. Das stimmt natür­lich, trifft den Kern des vor allem phan­tastis­chen und absur­den Textes aber nur halb. Gils­brod ist eine Ein-Satz-Nov­el­le mit 130 Seit­en unge­broch­en­em stream of con­scious­ness. Das ist natür­lich nicht völ­lig neu, spon­tan fällt mir aus let­zter Zeit etwa Xaver Bay­ers Wenn die Kinder Steine ins Wass­er wer­fen (2011) ein, das ähn­lich funk­tion­iert. Hier, also in Gils­brod, lesen wir das Bewusst­sein ein­er Opern­souf­fleuse, die im entschei­den­den Moment der The­a­ter­di­va nicht aushil­ft und sie deshalb in eine impro­visierte Kadenz auf dem falschen Text treibt. Ein Ende hat der Text nicht, er bricht ein­fach ab. Bis dahin ist er aber dicht und unter­halt­sam, phan­tastisch und absurd, trau­rig und komisch zugle­ich. Oder zumin­d­est abwech­sel­nd. Den natür­lich lässt sich so ein Bewusst­sein hin und her treiben, das ist eine heftige Mis­chung von Ver­gan­gen­heit­en und Gegen­warten, Real­itäten und Träu­men, Wün­schen und Äng­sten, geschichtet und über­lagert, auch mit Ver­sio­nen der (pseudo-)Erinnerung verse­hen, der seine Ebe­nen im kreisenden Wieder­holen her­auskristallisiert.

Das funk­tion­iert recht gut, weil die Sprecherin aus der Posi­tion des unsichtbaren/unscheinbaren Beobachters, der Souf­fleuse, agiert. In der Pri­vat­mytholo­gie wird der dienend-unter­stützende Hil­fs­di­enst dieser Funk­tion für das The­ater, genauer: die Oper, zur mys­tis­chen Erfahrung hochstil­isiert, zum erfül­len­den Leben­straum. Es wird aber dur­chaus auf geschick­te und unter­gründi­ge, aber erkennbare Weise auch die eigene Posi­tion reflek­tiert, zum Beispiel im Ver­lust der Rest-Sicht­barkeit durch den mit­ti­gen Souf­fleurkas­ten und die Ver­ban­nung auf die Seit­en­bühne, die nicht gle­icher­maßen Teil der Auf­führung ist: dort unter­hal­ten sich Tech­niker und wartende Sänger während der Oper … Zugle­ich zu dieser wahrgenomme­nen Mar­gin­al­isierung — im Kon­trast dazu und zu den Erin­nerun­gen der prä­fig­uri­eren­den Demü­ti­gun­gen der Schulzeit (die sehr selt­sam als eine Art Kreuzi­gung am Rutschengerüst erin­nert wer­den, mit Lanze und Essig und allem drumherum …) ist der Bewussst­seinsstrom aber auch die Kon­struk­tion ein­er total­en Macht­po­si­tion: von ihr ist alles, ins­beson­dere eben die Diva Gils­brod abhängig — und damit das ganze The­ater, die Stadt, das Pub­likum: „mir gehört der Text“ (39).

Der Text ist aber nicht ohne Dra­maturgie gebaut, zum Beispiel ver­schränken und ver­mis­chen sich die diversen Zeit­en und Ebe­nen immer mehr. Auch das „Vor­drin­gen“ in die Fig­ur „Gils­brod“ wird geschickt zeichen­haft genutzt: Es begin­nt an der Gren­ze zwis­chen außen und innen des Kör­pers, den Zäh­nen der Sän­gerin, und dringt über den Mundraum immer weit­er vor/hinein …

Im Grunde ist Gils­brod eine große Rachep­han­tasie, die ja auch zu keinem Ende kommt: der Bewusst­seinsstrom bricht in der großen (falschen!) Kadenz der Gils­brod ab, das „non so d’amarti“ verdichtet sich, bis zu ein­er Art Mantra — wenn man das hinzuzieht, kön­nte es natür­lich auch eine (unbe­wusste) Liebe­sphan­tasie sein: „Ich weiß nicht, dass ich dich liebe“ …

[…] und deshalb gehen die Leute ja ins The­ater, weil sie nicht alleine lachen wollen und son­st die anderen denken, sie wären ver­rückt, wie sollen sie auch lachen, wenn sie nie­man­den zum Lachen haben, und so bleiben sie lieber allein in ihrem Kum­mer, dabei ist es viel bess­er, gemein­sam zu weinen und die Leute gehen ja ins The­ater, damit sie gemein­sam lachen und auch weinen kön­nen, wie auf der Beerdi­gung, sie beerdi­gen ihren Kum­mer im The­ater und beerdi­gen sich selb­st, vorzeit­ig, sie beerdi­gen sich gegen­seit­ig und beerdi­gen alles, was ist, sie beerdi­gen die Langeweile, das Leben und die Hoff­nung der Fig­uren, die Flugver­suche und die Wet­ter­wech­sel, sie beerdi­gen das Licht hin­ter den Vorhangdeck­en wie zum Schlaf und zum Abschluss gibt es rauschen­den Applaus und nie­mand denkt, dass sie ver­rückt sind, auch wenn alle nach vorne star­ren […] (69)
Titus Mey­er: Andere DNA. Leipzig: Rei­necke & Voß 2016. 56 Seit­en. ISBN 978–3‑942901–20‑8.

Ein ganz­er Roman als Palin­drom, ein Palin­drom als Roman – geht das? Ein paar mein­er Lek­türe­beobach­tun­gen zu dieser Frage und anderen, die mich beim Lesen von Mey­ers Husaren­stück bewegten, habe ich schon vor eini­gen Tagen hier notiert.

Chris­t­ian Broeck­ing: Dieses unbändi­ge Gefühl der Frei­heit. Irène Schweiz­er — Jazz, Avant­garde, Poli­tik. Die autorisierte Biografie. Berlin: Broeck­ing Ver­lag 2016. 479 Seit­en. ISBN 9783938763438.

broecking, schweizer-biografie (cover)Eine große – und außer­dem auch noch autorisierte – Biografie der großen Jaz­zpi­anistin Irène Schweiz­er wollte Chris­t­ian Broeck­ing (den ich vor allem als Autor/Interviewpartner sein­er bei­den Respect-Bände kenne) hier wohl vor­legen. Raus­gekom­men ist ein müh­samer Brock­en. Den Broeck­ing schreibt auf den immer­hin fast 500 Seit­en vielle­icht (gefühlt zumin­d­est) ein Dutzend Sätze selb­st. Diese Biografie ist näm­lich gar keine, es gibt keinen Erzäh­ler und eigentlich auch keinen Autor. An deren Stellen treten (fast) nur Quellen, das heißt Zeitzeu­gen, deren Aus­sagen zu und über Irène Schweiz­er aus Inter­views hier grob sortiert wur­den und höch­stens mit einzel­nen Sätzen not­dürftig zusam­menge­flickt wer­den. Der doku­men­tarische Anspruch – die anderen also ein­fach erzählen zu lassen (aber auch die Fra­gen stre­ichen, was manch­mal selt­same „Texte“ ergibt) – geht dann auch so weit, dass englis­chsprachige Antworten nicht über­set­zt wer­den. Viel Mate­r­i­al wird also mehr oder weniger sin­nvoll gerei­ht. Nach herkömm­lichen Maßstäben ist das eher die Samm­lung, die Vorar­beit zu ein­er eigentlichen Biografie, die das (ein-)ordnend und deu­tend erzählen würde.

Dadurch ist das vor allem eine Arbeits­bi­ogra­phie und/oder ein Musik­tage­buch: Wer wann mit wem wo gespielt hat, das gibt den Rah­men für die Lebens­beschrei­bung ab. Aber selb­st das geht mit der Zeit und den Seit­en der unendlichen Rei­hen von Kon­stel­la­tio­nen und Orten zunehmend unter, weil es ein­fach zu viel ist. Men­schen kom­men kaum/nicht vor, nur Funk­tio­nen: Musik­er, Kün­stler, Organ­isatoren, Labelchefs und (wenige) Jour­nal­iste) – deshalb bietet das Buch auch nur Innen­sicht­en aus dem Umfeld Schweiz­ers. Und Broeck­ing hil­ft durch seine Abwe­sen­heit als Autor eben auch nicht: Einen außenstehenden/neutralen (oder wenig­stens pseu­do-objek­tiv­en) Beobachter kann der Text nicht aufweisen. Ich denke, daraus rühren dann auch andere Schwächen. Vieles bleibt ein­fach ohne Erk­lärung. Und wenn ich keine Erk­lärung bekomme, brauche ich auch keine Biografie …

Zum Beispiel wird die Größe Schweiz­ers zwar immer wieder beschworen, sie bleibt dabei aber aus­ge­sprochen unklar, ohne Kon­turen und ohne Grund. Das liegt vielle­icht auch daran, dass die Musik in den (sowieso äußerst knap­pen) Beschrei­bun­gen (Analy­sen kom­men mit Aus­nahme des zehn­seit­i­gen Anhangs „Jun­gle Beats“ von Oliv­er Senn & Toni Bech­told, der anhand exem­plar­isch aus­gewählter Auf­nah­men Schweiz­ers Musik, ihren Per­son­al­stil beschreibt, fast über­haupt nicht vor) selb­st so gener­isch bleibt: frei impro­visiert, dann wird mal dieser Ein­fluss (Cecil Tay­lor etwa) her­vorge­hoben, dann mal der jen­er betont (Monk etwa). Und immer wieder wird von den Inter­viewten darauf hingewiesen, dass sie keine Noten mag. Aber was sie wie spielt, kann man halt nicht so recht lesen, nur in ver­streuten Hin­weisen und Andeu­tun­gen (die auch eher ihre Präsenz und Energie auf der Bühne betr­e­f­fen). Auch die aus­gewählten Zitate aus Kri­tiken und Presse­bericht­en bleiben erschreck­end gener­isch. Ähn­lich ist es um die poli­tis­che Dimen­sion des Lebens von Irène Schweiz­er und ihrer Musik bestellt: Bei­des wird vor allem behauptet („diese Musik ist poli­tisch“), aber wie und warum, das ste­ht nir­gends, das wird nicht erk­lärt (und ger­ade da würde es (für mich) span­nend wer­den …). Das alles führt dazu, dass mich die Lek­türe etwas unbe­friedigt zurück­ge­lassen hat: Sich­er kommt man um diesen Band kaum herum, wenn man sich mit Schweiz­er und/oder ihrer Musik befasst. Aber Antworten kann er kaum geben.

Ian Bostridge: Schu­berts Win­ter­reise. Lieder von Liebe und Schmerz. München: Beck 2015. 405 Seit­en. ISBN 978–3‑406–68248‑3.
Meine Ein­drücke von Ian Bostridges großem, umfassenden Buch über die Schu­bertsche Win­ter­reise haben einen eige­nen Ein­trag bekom­men, und zwar hier: klick.

außer­dem gele­sen:

  • Katha­ri­na Rög­gla: Crit­i­cal White­ness Stud­ies und ihre poli­tis­chen Hand­lungsmölichkeit­en für Weiße Anti­ras­sistIn­nen. Wien: man­del­baum kri­tik & utopie 2012 (Intro. Eine Ein­führung). 131 Seit­en.
  • Sel­ma Meer­baum-Eisinger: Blüten­lese. Gedichte. Stuttgart: Reclam 2013. 136 Seit­en.
  • Moni­ka Rinck: Wir. Phänomene im Plur­al. Berlin: Ver­lagshaus Berlin 2015 (Edi­tion Poet­i­con 10).

Geheimarmee von Improvisatoren

Das sind Erfahrun­gen und Hal­tun­gen, die verbinden. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass wir eine Geheimarmee von Impro­visatoren waren, ver­schworen, rebel­lisch, unbeir­rbar. Unsere Mis­sion war der Avant­garde-Jazz und Irène [Schweiz­er] war an vorder­ster Front. Kei­th Tip­pett, in: Chris­t­ian Broeck­ing, Dieses unbändi­ge Gefühl der Frei­heit, 117

Über Lieder von Liebe und Schmerz: Ian Bostridge erklärt Schuberts Winterreise

Es ist nicht mehr als ein klein­er Auss­chnitt der fort­dauern­den Erkun­dung des kom­plex­en und schö­nen Net­zes von Bedeu­tun­gen – musikalis­che und lit­er­arische, textuelle und meta­textuelle –, inner­halb dessen die Win­ter­reise ihren Zauber her­vor­bringt.S. 396

bostridge, schuberts winterreise (cover)– Mit diesem Schluss endet der britis­che Tenor Ian Bostridge (übri­gens ein aus­ge­bilde­ter His­torik­er) sein großes, faszinieren­des und in sein­er bere­ich­ern­den Klugheit aus­ge­sprochen lesenswertes Buch über Schu­berts Win­ter­reise. Aber es ist ein Satz, der das, was auf den knapp vier­hun­dert Seit­en zuvor passiert ist, sehr gut auf den Punkt bringt. Lieder von Liebe und Schmerz hat der deutsche Ver­lag Bostridges Buch im Unter­ti­tel benan­nt. Das englis­che Orig­i­nal finde ich passender: Anato­my of an Obses­sion. Denn bei­des, das sezierende Unter­suchen als auch die obses­sive Beschäf­ti­gung mit dem Kunst­werk, bringt das Ver­hält­nis von Bostridge zur Win­ter­reise sehr gut auf den Punkt. Und bei­des, die Analyse und die emo­tionale Bindung, merkt man dem Text eigentlich auf jed­er Seite an: Jede Seite dieses großar­ti­gen Buch­es, das Lied für Lied die Win­ter­reise unter die Lupe nimmt, lässt die obses­sive Liebe und die jahrzehn­te­lange Beschäf­ti­gung mit Musik und Text, mit Dichter und Kom­pon­ist, mit Hin­ter­grün­den und Bedeu­tun­gen spüren.

Lied für Lied – diese Gliederung greift das gut gemachte (ich habe – abge­se­hen von der prinzip­iell etwas unsin­ni­gen Über­set­zung englis­ch­er Über­set­zun­gen deutsch­er Texte – nur einen Über­set­zungs­fehler bemerkt – der ist allerd­ings etwas pein­lich, weil er das englis­che b‑minor mit b‑moll statt h‑moll über­set­zt und auf der sel­ben Seite auch noch richtig vorkommt …) und schön aus­ges­tat­tete Buch auch äußer­lich auf. Bostridge fol­gt damit zwar der Dra­maturgie Schu­berts (die ja, wie er mehrfach dar­legt, von der Rei­hen­folge Müllers abwe­icht), ges­tat­tet sich aber auch Frei­heit­en: Manche Kapi­tel sind auf­fal­l­end kurz, andere etwas auss­chweifend. Manche bieten eine sehr konzen­tri­erte Analyse von Text und Musik, andere liefern vor allem geschichtliche, poli­tis­che, wirtschaftliche, sozi­ol­o­gis­che Hin­ter­gründe. Wie er prinzip­ielle Beobach­tun­gen und Anmerkun­gen über die einzel­nen Lied­kapi­tel verteilt, das ist sehr geschickt. Die sind dadurch näm­lich immer mehr als bloße Kom­mentare oder Erläuterun­gen, das Buch wird nicht zu ein­er seriell-schema­tis­chen Analyse, son­dern zu einem großen Ganzen: Alles in allem ist das eine großar­tige Samm­lung von Wis­sen aus allen Bere­ichen zu den 1820er Jahren. Da liegt aber auch schon eines der Prob­leme, die ich damit hat­te (neben der meist fehlen­den Ref­eren­zierung des ange­sam­melten Wis­sens): Bei Bostridge wer­den die 1820er in Tech­nik, Ökonomie, Gesellschaft und Poli­tik zu einem frühen Höhep­unkt der Mod­ernisierung. Ich bin mir nicht so recht sich­er, ob das stimmt (und ob es hil­fre­ich wäre). Für ein endgültiges Urteil fehlt mir da freilich etwas Wis­sen, mir scheinen diese Jahre aber doch mehr Durch­gang als Gipfel zu sein.

Ein ander­er Punkt, bei dem ich Bostridge immer wieder wider­sprechen möchte, ist die Ironie. Die find­et er in der Win­ter­reise näm­lich wesentlich häu­figer und stärk­er als ich das immer nachvol­lziehen kann. Ähn­lich geht es mir mit der poli­tis­chen Dimen­sion von Text und Musik. In bei­den Fällen möchte ich Bostridges Deu­tun­gen gar nicht von vorn­here­in ver­w­er­fen, sie scheinen mir in diesen Aspek­ten aber etwas über­spitzt. Deut­lich wird das etwa bei seinen Aus­führun­gen zum „Köh­ler“, der (bzw. dessen Hütte, er selb­st ja ger­ade nicht) in der Win­ter­reise genau ein­mal vorkommt: Das kann man als mögliche poli­tis­che Chiffre lesen, so zwin­gend, wie Bostridge das darstellt, ist diese Lesart aber meines Eracht­ens nicht. Über­haupt hat mich seine poli­tis­che Lesart viel­er Lieder (bzw. eigentlich nur ihrer Texte, in diesem Deu­tungszusam­men­hang spielt die Musik keine Rolle) nicht so sehr befriedigt, zumal sie ja doch erstaunlich indif­fer­ent bleibt. Ähn­lich ist es übri­gens um Schu­bert selb­st hier bestellt: Zum einen wird er als poli­tis­ch­er Kün­stler, der extrem unter den harten Bedin­gun­gen der vor­mär­zlichen Zen­sur litt, dargestellt. Zugle­ich ist er für Bostridge aber auch ein Kom­pon­ist, der ganz unbe­d­ingt ein Ide­al des reinen, tran­szen­den­ten Kün­stler­tums ver­fol­gt – zwei Lesarten, die hier fast naht­los ineinan­der überge­hen, die ich aber nicht so recht zusam­men bekomme.

Das alles macht aber wenig bis nicht. Denn Bostridge zu lesen, ja eigentlich: zu schmök­ern, ist auf jeden Fall ein großer Gewinn. Zumal das Buch auch, ich sagte es schon, ein­fach schön ist und auch mit Abbil­dun­gen nicht geizt. Schade fand ich allerd­ings, um das Lob gle­ich wieder ein biss­chen einzuschränken, dass Bostridge so wenig über die Musik und ihre Details spricht. Mein Ein­druck war da, dass dieses Ele­ment in der Fülle der Zugänge und Mate­ri­alien, die er zur Win­ter­reise zusam­menge­tra­gen hat, etwas unterge­ht. Von einem Sänger hätte ich mir ger­ade auf diesem Gebi­et mehr musikol­o­gis­che Analyse und Beschrei­bung gewün­scht. Aber das wäre dann vielle­icht ein anderes Buch gewor­den.

Es ist näm­lich wirk­lich selt­sam mit diesem Buch: Als Ganzes finde ich es immer noch ziem­lich großar­tig, es ist ein (über)reiches Buch, das dem Ver­ständ­nis der Win­ter­reise auf jeden Fall in großem Maße dient und das Hören (oder Musizieren) unge­mein bere­ich­ern kann. Im Detail finde ich aber vieles frag­würdig und würde oft wider­sprechen. Ein paar kleine, fast willkür­liche Beispiele: Den Nation­al­sozial­is­mus und den Zweit­en Weltkrieg aus ein­er typ­isch deutschen „roman­tis­chen Todes­be­sessen­heit“ (118) zu erk­lären wollen – das ist ein­fach Quatsch. Oder wenn ein Fer­maten­ze­ichen zu einem „allesse­hen­den Auge“ (178) wird. Manch­mal ist es auch vor allem eine große Fleißleis­tung, wenn er etwa zum „Früh­lingstraum“ über mehrere Seit­en das Vorkom­men von Eis­blu­men in der Kun­st- und Lit­er­aturgeschichte referiert, was aber wed­er mit Müller noch mit Schu­bert in Verbindung ste­ht. Da erschließt sich mir dann nicht so ganz der Zweck, den das für eine Analyse oder Inter­pre­ta­tion dieses Kunst­werkes haben soll.

Aber: Die Welt von Schu­berts Win­ter­reise kann der über­aus gebildete Bostridge mit seinem gesam­meltem Wis­sen und seinen genauen, vielfälti­gen, emphatis­chen Beobach­tun­gen eben doch ganz toll ent­fal­ten und wun­der­bar ver­mit­teln. Es ist übri­gens kein Verse­hen, wenn ich von Schu­berts Win­ter­reise sprach: Der Schw­er­punkt sein­er Betra­ch­tun­gen liegt auf Schu­bert und sein­er Musik, auch wenn der Text und sein Autor, Wil­helm Müller, nicht ganz außen vor bleiben. Auch die Rezep­tion der Win­ter­reise wird nicht vergessen. Und seine intime Ver­trautheit en detail & en gros mit dem Werk sowie seine dop­pelte Autorität als ausüben­der Sänger und forschen­der His­torik­er tun dem Buch sehr gut: Er weiß, wovon er redet. Und nach der Lek­türe seine Buch­es weiß man auch, was man da eigentlich hört (oder: hören kann!), wenn man der Win­ter­reise lauscht.

Ian Bostridge: Schu­berts Win­ter­reise. Lieder von Liebe und Schmerz. 2. Auflage. München: Beck 2015. 405 Seit­en. ISBN 978–3‑406–68248‑3.

Volkslieder 2.0

volkslieder 2.0 (cover)Das Volk­slied taucht in den let­zten Jahren immer mehr aus der Versenkung wieder auf – Pro­jek­te wie das Carus/SWR-Lieder­pro­jekt oder S.O.S. – Save Our Songs von Singer Pur sind nur Teil und Zeichen eines größeren rückbesin­nen­den Revivals. Das, was das SWR Vokalensem­ble Stuttgart und die SWR Big Band unter der Leitung von Morten Schuldt-Jensen mit Volk­slieder 2.0 vor­legen, ist freilich etwas anderes. Denn für ihre erste Zusam­me­nar­beit gehen die bei­den SWR-Klangkör­p­er einen Schritt weit­er und in eine andere Rich­tung.

Der Kom­pon­ist und Arrangeur Ralf Schmid warf dafür einen Blick auf die nor­wegis­che Tra­di­tion, während der Nor­weger Helge Sunde umgekehrt deutsche Volk­slieder bear­beit­ete. Dabei ste­ht für bei­de nicht das Volk­slied an sich im Zen­trum, son­dern dessen kün­st­lerische Potenz ohne nation­al­is­tis­chen Bal­last. Und vielle­icht ist es ganz fol­gerichtig, dass Schmid sich ohne Volk­slieder direkt mit Peer Gynt auseinan­der­set­zt, mit Griegs tra­di­tioneller Musik und Ibsens Text. Trotz aller Nähe zu einzel­nen Sätzen wie der „Mor­gen­stim­mung” oder „Solveigs Lied“ ver­lei­ht er Peer Gynt eine sehr eigen­ständi­ge Prä­gung, bringt etwa die Mor­gen­stim­mung als „toast på coast“ lock­er-beschwingt zum Tanzen und nutzt die Fusion­sen­ergie aus der vokalen Kraft und der eher met­allis­chen Energie der Big-Band in fein abges­timmten Arrange­ments.

Über­haupt gibt die Koop­er­a­tion zweier so her­aus­ra­gen­der Ensem­bles den Kom­pon­is­ten reiche Möglichkeit­en an die Hand. Die nutzen das zurück­hal­tend, aber sub­til und geschickt. Die Vielfalt der Klang­far­ben ist phänom­e­nal: Vom grellen Schmettern bis zum gehaucht­en Laut, von zack­ig-präzis­er Kraft über expres­sives Par­lan­do bis zu den weich fließen­den Melo­di­en, von fil­igra­nen poly­pho­nen Struk­turen bis zu kraftvollen cho­rischen Klangflächen — man merkt, dass das den Musik­ern sozusagen auf den Leib oder in die Stimme geschrieben wurde.

Der Nor­weger Helge Sunde steuert einen faszinieren­den Blick auf vier deutsche Volk­slieder bei: Das eigentlich so harm­lose Schlaflied­chen wird ihm zu einem Thriller – einem lebendig und detail­liert nachzuhören­den Kampf zwis­chen Kind und Schlaf, zwis­chen Traum und Unge­heuer, der ger­ade so noch die Kurve bekommt und im friedlichen Schlaf endet. Auch „Auf einem Baum“ erfährt eine Ver­wand­lung: Der Kuck­uck sitzt nicht ein­fach nur rum, man kann ihn in den agilen Stim­men des Vokalensem­bles tänzeln und flat­tern hören – und auch vom Baum fall­en, nach­dem der Jäger ihn abgeschossen hat. Und während „Wenn ich ein Vöglein wär“ zu ein­er astreinen Jazzbal­lade wird, kracht die „Lore-Ley“ aus­ge­sprochen funkig und rock­ig. Über­haupt haben Sun­des Bear­beitungskom­po­si­tio­nen etwas sehr ver­spieltes: Wie ein Kind, das im Spiel­waren­laden freie Auswahl hat, legt sich Sunde kaum Zurück­hal­tung auf – das offen­sichtlich­ste mei­det er meis­tens, aber die vokal-instru­me­nalen und klan­glichen Fähigkeit­en bei­der Ensem­bles nutzt er wei­dlich aus. Die Avant­garde-Spezial­is­ten des Stuttgarter Vokalensem­bles sin­gen das präzise, bleiben aber immer ganz entspan­nt, ganz egal, ob sie nun ger­ade san­ft säuseln oder wie in der „Lore-Ley“ selb­st zu einem Teil der Big Band wer­den. Und da gibt es immer wieder buntes und abwech­slungsre­ich­es zu hören – bei­de Grup­pen fan­gen die Stim­mungen der Lieder sehr geschickt auf und machen sie sehr deut­lich vernehm­bar. Das beste ist aber: Alles wirkt vol­lkom­men natür­lich, ungezwun­gen und har­monisch – weil sowohl Schmid als auch Sunde bei­den Ensem­bles ihren Raum lassen. Auch wenn diese vielschichtig-ver­track­te Musik so sich­er nicht selb­st zu Volksmusik wer­den wird – man wün­scht ihr, möglichst oft gespielt, gesun­gen und gehört zu wer­den.

Ralf Schmid, Helge Sunde: Volk­slieder 2.0. SWR Big Band, SWR Vokalensem­ble, Morten Schuldt-Jensen. SWR­mu­sic 2016.

(In ein­er etwas kürz­eren Fas­sung zuerst erschienen in »Chorzeit – Das Vokalmagazin« No. 28, Juni 2016.)

Halsbrecherische Amok-Musik im Namen der Liebe: Amok Amor in Rüsselsheim

Ein großar­tiges Set, das die vier jun­gen Her­ren von Amok Amor da für die kleine Schar inter­essiert­er Lausch­er auf der Hin­ter­bühne des Rüs­selsheimer The­aters spiel­ten. Dabei beschei­den sie sich mit gut 75 Minuten am Stück. Darein pack­en sie drei „Stücke“ und eine Zugabe. Von den Titel habe ich fast nichts ver­standen, zusam­men­gereimt habe ich mir: „Als Sozial­ist geboren, als Sozial­ist ster­ben“ und „Sons of Engels Marx“ (oder so ähn­lich, die Rich­tung ist aber klar …) — das macht aber nichts, die Titel (und Ensem­ble­na­men) von (Free) Jazz sind ja eh’ so eine Sache … Gle­ich­es gilt übri­gens für Selb­st­beschrei­bun­gen: Auf Chris­t­ian Lillingers Home­page ste­ht zu Amok Amor unter anderem:

This is urgent music. Amok Amor sur­veys the threats and prospects of music in our world today.
The music is aggres­sive yet gen­tle. Bla bla bla bla bla. The world is chang­ing, but this music will sur­vive.
Amok Amor is essen­tial lis­ten­ing for any­one who is con­cerned about the pri­ma­ry chal­lenges still fac­ing the human race and is won­der­ing where to find a ray of hope.

— stimmt alles und sagt natür­lich gar nichts …

Aber die Musik halt. Die ist bei Amok Amor genial. Aufmerk­sam gewor­den bin ich auf das Quar­tett, weil das eine der vie­len, vie­len For­ma­tio­nen ist, in denen der Schlag­w­erk­er Chris­t­ian Lillinger ger­ade seine Kun­st in die Waagschale wirft. Und so ziem­lich alles, was ich bish­er von & mit ihm gehört habe, ist zumin­d­est inter­es­sant bis großar­tig — etwa die Vier­ergruppe Gschlößl, Chris­t­ian Lillingers Grund oder Grü­nen.

Auch in Rüs­selsheim hat er seine hyper­n­ervösen Handge­lenke im Dauere­in­satz. Ein beschei­denes Schlagzeug reicht ihm, zumal er es auch noch während des Spie­lens umbaut (und auch den Büh­nen­bo­den zum Qui­etschen-Kreis­chen mit­be­nutzt …). Das rumpelt dröh­nend (die Tom Toms dumpf, die Snare tief), helle Cym­bals und Rim-Tänz­ereien kom­plet­tieren das zu einem zwis­chen wilden Chaos und straight­en Punk schwank­en­dem Dauer­feuer, das er von ersten Moment an mit dem Bassis­ten Pet­ter Eldh zusam­men ent­facht.

Anson­sten gilt: vielschichtige Vielfalt und Kom­plex­ität sind Pflicht und Kür zugle­ich. Immer, wenn man meint, etwas kapiert zu haben, ändert sich alles. Offen­bar genau kom­ponierte Cues, die erstaunlich präzise anges­teuert wer­den. Immer, wenn man die Struk­tur ver­standen zu haben meint, kippt das Klang­bild, stolpert der Beat, ver­rrutscht die Melodie, krachen die Har­monien in- und aufeinan­der und das ewige Spiel geht weit­er und von vorne los, anar­chis­tisch und präzise abges­timmt zugle­ich. Über­haupt: Das instru­men­tal­tech­nis­che Niveau ist irre, stu­pende Vir­tu­osität zeigen alle vier: Peter Evans an der Trompete und Wan­ja Slavin am Alt­sax­ophon sind ein faszinieren­des Duo im Quar­tett. Bassist Pet­ter Eldh blieb etwas blass, was aber auch am grum­mel­ing-ver­wasch­enen Sound des ver­stärk­ten Kon­tra­bass­es gele­gen haben kann.

Viel klar­er dage­gen die bei­den Bläs­er. Peter Evans gibt sich am Beginn läs­sig und straight, später lässt sich dann auch die Dörn­er-Schule deut­lich vernehmen: Hauchend, flüsternd, knal­lend, vor allem aber — dank Zirku­larat­mung auch unabläs­sig dabei — hyper­ak­tiv und reak­tiv. Auch Wan­ja Slavins Sax­ophon zeich­net ein wun­der­bar weich­er und klar­er Sound mit hoher Durch­set­zungskraft aus, zumal Slavin damit sehr tolle Far­ben und Klang­muster gestal­ten kann.

Die ent­fal­ten sich immer wieder im schein­bar magis­chen Zusam­men­spiel: Eng geführte, auch tolle Unisono-Pas­sagen scheinen auf, dann ein abrupter Wech­sel oder allmäh­lich­es Abgleit­en in fein­ste, ideen­sprühende freie Impro­vi­sa­tio­nen. Die eine Art Gerüst und zumin­d­est groben Ver­lauf vorgebende Kom­po­si­tio­nen bauen gerne auf minimal(istisch)en Motiv­en auf, set­zen auf Wieder­hol­ung und Vari­a­tion. Über­haupt bietet Amok Amor eine Musik, die nur nach der Post­mod­erne denkbar ist: Voller Selb­stre­flex­ion und voller Anspielun­gen und Bezüge auf die gesamte Musikgeschichte des 20. Jahrhun­derts (na gut, nicht alles — aber sehr vieles …), aber kein „akademis­ches“ Pro­dukt, son­dern eine lebendi­ge Auseinan­der­set­zung mit Geschichte und Gegen­wart.

Vor allem aber hat Amok Amor als Quar­tett einen unver­schämten Dri­ve, die Musik bleibt im kon­tinuier­lichen, fes­sel­nden Flow. Da ist kein Leer­lauf zu spüren, nir­gends und niemals: Amok Amor saugt die Energie von Raum und Pub­likum auf und spuckt sie, wie ein umgekehrtes Schwarzes Loch, in Klang­for­men wieder und wieder aus, bis die Hörgänge ver­knotet sind und das Hirn raucht …

Ach, es war ein­fach großar­tig, enorm vital­isierend und enthu­si­as­mierend — wie Jazz eben sein soll/kann …

Amok Amor (Chris­t­ian Lillinger, Peter Evans, Wan­ja Slavin, Pet­ter Eldh). The­ater Rüs­selsheim, Stu­diobühne – 10. Mai 2017.

Arbeitsplatz (4)

Die sehr schöne und alte Kirche St. Markus in Brens­bach hat eine 1964 von Ober­linger gebaute ein­man­u­alige Orgel mit (fast nur ange­hängtem) Ped­al und der von mir nicht sehr gemocht­en geteil­ten Lade (der zusät­zliche Reg­istri­er­aufwand wiegt die möglichen Vorteile in mein­er Erfahrung eher nicht auf …). Wie so oft bei kleinen Orgel fehlt mir aber eine ordentliche, tra­gende 8′-Stimme, dafür sind die oberen Lagen gut vertreten.

Arbeitsplatz (3)

An der Orgel der Schlosskirche in Bad König, erbaut um 1750 von Johann Jost Schle­ich, vor eini­gen Jahrzehn­ten (nach heuti­gen Gesicht­spunk­ten nicht sehr gut) überarbeitet/restauriert von Wern­er Bosch:

Arbeitsplatz (2)

Die Orgel der Evan­ge­lis­chen Johan­niterkirche in Ober-Mossau, von einem (mir) unbekan­nten Erbauer aus der Mitte des 19. Jahrhun­derts — manch­mal etwas rup­pig und lär­mend, vor allem aber am Spieltisch viel zu eng (wenn der Gottes­di­enst — und vor allem die Predigt … — lange dauert, wird es hart, weil ich nie weiß, wo ich meine Beine unter­brin­gen soll …). Irgend­wann hat mal irgendw­er (ein Orgel­bauer oder vielle­icht doch ein Orgelschüler?) auf der Leiste vor den Tas­ten des einzi­gen Man­u­als mit inzwis­chen recht abge­grif­f­e­nen Elfen­bein­tas­ten die Oktaven angeze­ich­net.

tastatur orgel mossau

Arbeitsplatz (1)

In der kleinen Kirche der kleinen Gemeinde Güt­ters­bach im Oden­wald ste­ht eine schöne, 1740 vom kurpfälzis­chen Hof- und Lan­dorgel­bauer Johann Friedrich Ernst Müller geschaf­fene Orgel, die — abge­se­hen von ein­er kleinen, behut­samen Erweiterung um ein zweireg­istriges Ped­al — noch weit­ge­hend im orig­i­nalen Zus­tand ist — inklu­sive “Noli me tan­gere” und der Wer­ck­meis­ter-III-Stim­mung, die auch noch einen Halbton höher als heute gewöhn­lich liegt. Die Orgel hat nicht nur einige sehr schöne, charak­ter­is­tis­che Stim­men, son­dern auch eine aufwendig gear­beit­ete Tas­tatur:

tastenfront klaviatur orgel güttersbach

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