Einen Nagel mit wenigen Hammerschlägen so in ein Stück Holz zu schlagen, dass ist kein Handwerk mehr, sondern ein Kunststück (das ich nicht selbst vollbrachte):
Jahr: 2016
In der Sonderausstellung “Schrei nach Gerechtigkeit” des Dommuseums Mainz:
Arg viele Besucher hat die Ausstellung wohl nicht (als ich da war, war ich öfters sehr alleine), das Aufsichtspersonal hat Zeit zum Lesen …
Timo Ruttkamp, Farbenblind (es spielt Dominik Susteck):
https://soundcloud.com/ruttkamp/timo-ruttkamp-farbenblind
Alles wird Teil einer Geschichte sein, viele Jahre danach.Sabine Scholl, Wir sind die Früchte des Zorns, 169
Ins Netz gegangen am 8.1.:
- “Mein Kampf”: Wer hat Angst vor einem Buch? | Zeit — ich glaube, nils markwardt text zur “mein kampf”-edition hat das potential, der beste dazu zu werden — schon wegen dem beginn (“Faschismus ist bewaffneter Phonozentrismus. Klingt komisch, ist aber so.”), aber auch wegen sätzen wie
Die Tatsache, dass Hitler drin ist, wo Hitler draufsteht, sollte 2016 in Guido-Knopp-Country ja eigentlich keinen mehr überraschen.
oder
Für alle anderen dürfte die gleichermaßen stumpfe wie mäandernde Melange aus Rassismus, Antisemitismus und Imperialismus, die nur ansatzweise den Versuch macht, so etwas wie eine Argumentation zu simulieren, kaum verführerisch wirken. Menschenhass zu predigen, das kriegt heute jede mittelmäßig gemachte Broschüre von Rechtsradikalen hin.
oder dem schluss
Falls jemand dieser Tage nun aber gar nicht ohne “Irgendwas-mit-Hitler” auskommen kann, dem sei vielleicht einfach ans Herz gelegt, sich statt Mein Kampf einen der ausgewiesenen Lieblingsfilme von Hitler zu besorgen: Walt Disneys Schneewittchen und die Sieben Zwerge. Da hat auch die ganze Familie was von.
- Nachruf: Freigeist mit dem Ohr nach innen | taz — die taz reicht ihren nachruf von franziska buhre auf paul bley nach:
Wohl deshalb hat Paul Bley eine Vielzahl an Alben mit Solo-Improvisationen eingespielt, sich dem eigenen Freigeist auf diese Weise von Neuem vergewissert. Aus dem beträchtlichen Repertoire an Kompositionen seiner ersten Frau, der Pianistin Carla Bley, schöpfte er ein Leben lang, gemeinsam mit ihr und anderen experimentierfreudigen Gleichgesinnten, darunter die Saxofonisten Sonny Rollins und Archie Shepp, die Pianisten Sun Ra und Cecil Taylor sowie die Trompeter Bill Dixon und Michael Mantler, hatte er 1964 in New York die „Oktoberrevolution des Jazz“ angezettelt und die Jazz Composers Guild gegründet.
- Joachim Bessing: »2016 – The Year Punk Broke« Tagebuch — joachim bessing hat angefangen, zu bloggen (er nennt es tagebuch …), unter dem schönen titel “the year punk broke” — manchmal etwas arg insiderisch, aber das könnte durchaus spannend werden …
- Pierre Boulez — Der Unruhestifter | Süddeutsche Zeitung — reinhard brembeck hebt in seinem boulez-nachruf die historische dimension von dessen schaffen besonders hervor.
- Zum Tod des Dirigenten Pierre Boulez: Der Vorkämpfer der Moderne | NZZ — der große nachruf von peter hagmann auf pierre boulez
Wegweisend und einflussreich, wie er war, hinterlässt er ein Erbe von imposanter Dimension.
Mit Boulez’ Tod geht die Moderne zu Ende – die Moderne im strengen Sinn. Ihr hat er sich verschrieben, als er 1944 in Paris Olivier Messiaen begegnete. Und ihr ist er treu geblieben über alle restaurativen Bewegungen des späten 20. Jahrhunderts hinweg: in seinen Grundauffassungen, im Repertoire dessen, was ihn interessierte, in seinem Komponieren. Wie kein anderer Vertreter seiner Zunft repräsentierte, ja lebte er die Moderne – und hat er für sie gestritten, bissig zunächst, in den reiferen Jahren mit gütiger Hartnäckigkeit.
- Zum Tod des Jazzpianisten Paul Bley: Spielen mit dem Risiko | NZZ — ueli bernays schreibt in der nzz den nachruf auf den am samstag verstorbenen paul bley
Das ist mal ein Buch, das mir wirklich so manche Nuss zu knacken gegeben hat: Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung von Titus Meyer, erschienen im rührigen kleinen Verlag Reinecke & Voß, dessen Programm lauter so abseitige Kostbarkeiten enthält (und der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat). Selten war (und bin) ich mir so andauernd unklar, wie ich zu den hier versammelten Texten stehe. Und das ist zunächst mal ein sehr gutes Zeichen — heißt es doch, dass die Texte anregen: zum Denken, zum Prüfen, zum Überlegen und auch zum Knobeln. Denn alle Texte in Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung beruhen auf einer palindromischen und/oder anagrammatischen Struktur. Und die muss man (wenn man will, gnädigerweise gibt der Band auch eine “Auflösung” an) erst einmal entschlüsseln, um das zugrundelegende Formprinzip zu erkennen und zu verstehen.
Zu einem Ende bin ich damit immer noch nicht gekommen, weiterhin habe ich eigentlich keine wirkliche Position: auf der einen Seite steht die Bewunderung ob der Kunstfertigkeit und die Begeisterung am Rätseln. Auf der anderen Seite aber auch viel Ratlosigkeit, weil ich (mich) oft nicht so recht entscheiden kann, ob die Gedichte wirklich für sich allein stehen können oder doch nur ein Beispiel für abstrakte Formüberlegungen und ‑spielereien sind. Vielleicht ist das falsch gedacht, aber wenn ich ihre Produktionsbesonderheiten und damit aber auch ihre formale Bedingtheit probeweise außen vor lasse, sind mir viele Texte auch nach mehrmaligem Lesen noch fremd: Ich finde keinen Ansatzpunkt, der mir eine Annäherung ermöglicht. Andere zünden sofort, machen Spaß oder öffnen neue Perspektiven — tun also genau das, was ich mir von Gedichten erhoffe.
Also doch alles wie bei einem gewöhnlichen Lyrikband? Durchaus (auch der Titel ist ja durchaus vorstellbar) — aber schon der Vergleich ist ja wiederum eigentlich falsch. Denn was ist denn so außergewöhnlich an Meyers Werken? Doch eigentlich nur die Seltenheit und Konsequenz ihrer formalen Gestalt und deren Entstehung, die in großen Teilen aktueller Lyrik so nicht vorkommet. Und schon gar nicht so offengelegt vorkommt: Denn Meyer gibt im Inhaltsverzeichnis zu jedem Text das Bau- & Formprinzip an, mit dem Verweis auf sein Ordnungsschema legt der Dichter sozusagen seine Werkstatt bloß und macht damit auch deutlich, dass seine Texte immer eine dezidierte Form haben (und hat mir in einigen Fällen überhaupt erst verraten, wie der Text funktioniert …). Das ist vielleicht der größte Unterschied zu manch anderer aktueller Lyrik, die sich um formale Momente wenig bis gar nicht kümmert (mit Ausnahme von rhythmischen und klanglichen Aspekten eventuell) oder aus anderen Gründen auf gewöhnlichere, traditionellere Momente setzt. Was Meyer aber davon abgesehen auf jeden Fall auszeichnet, ist der Umstand, dass seine Lyrik ihre Schriftlichkeit konsequent ernst nimmt, sie fast schon zelebriert, den Buchstaben (und manchmal auch größere Entitäten wie etwa Silben) als für sich stehende Werte in der und für die Lyrik ins Zentrum rückt. Von Buchstaben-Palindromen über Zeilen-Buchstaben-Palindrome, Sator-Quadrat und das verrückte Vertikalpalindrom (bei dem der Text nach einer 180°-Drehung den gleichen Text gibt!) über Silben- & Wort-Palindrome zu Anagrammgedichten, Pangrammgedichten (mit allen Buchstaben des Alphabets) und Schüttelreimen reicht die Bandbreite der konstruktivistischen Gedichte (wenn ich die mal vorübergehend so nennen mag) bei Meyer denn auch — man kann Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung denn auch durchaus als Kompedium der seltenen Formen lesen.
Monstrum, dies aufgrund
seelischster Meisten vergaste
Zaumtier Palindrom.Aprilmond (die Schlussverse)
Vielleicht zeigen Meyers Texte aber doch mehr als nur den kunstfertigen Umgang mit Sprache, der eine gewisse artifizielle Freude am vertrackten Rätselhaftigkeit meines Erachtens nicht verbergen kann. Vielleicht geht es hier auch um die Negierung oder besser noch, die Zerstörung von Sinnerwartungen: Man könnte vielleicht sagen, erst solche Gedichte sind der Free Jazz der Lyrik, denn selten (na gut, Dada funktioniert auf dieser Ebene ähnlich) bis gar nicht wird die Materialität der Sprache der Lyrik so radikal gedacht und umgesetzt. Vielleicht kommt ja daher meine initiale “Unzufriedenheit” (blödes Wort, viel zu viel …) mit vielen Texten — weil sie einfach sind, was und wie sie sind und nicht irgendwas vermitteln, erzählen, zeigen, beweisen sollen und wollen — und daran scheitert dann mein krypto-hermeneutisches Lesen zumindest beim ersten Durchgang regelmäßig, es stolpert sozusagen beim Gang auf der “Hermeneutiktreppe” (um einen der schönen Meyerschen Neologismen zu verwenden). Aber das macht gar nichts: Denn erstens ist das ein guter Anlass, mal wieder über Lektüreerwartungen und Lesetechniken nachzudenken und andere Herangehensweisen zu proben, und zweitens zeigt es eben, dass Literatur mehr sein kann als nur sinnhaftes Erzählen oder Beschreiben in Prosa oder Lyrik (und dann sogar richtig gut wird). Gut, das ist natürlich überhaupt keine neue Beobachtung und gerade in zeitgenössischer Lyrik merkt man das auch an anderen Stellen — aber eben nicht so wie bei Meyer, der das Lesen auf seine Form viel stärker zurückwirft als andere Autorinnen das vermögen.
Der Vergleich mit dem Free Jazz passt vielleicht auch insofern, als aus diesen Gedichten immer wieder eine große Freiheit spricht. Das ist natürlich paradox: Freiheit in einer künstlichen, strengen Form — aber gerade sie ist es, die sie ermöglicht, weil sie das Sinndiktat einfach aufhebt. Auch wenn ich das in meiner Lektüre sehr stark mache, heißt das aber auch nicht, dass die Meyersche Lyrik vollkommen sinnbefreit ist. Mit etwas Spürsinn und Kreativität kann man hier durchaus faszinierende Zusammenhänge finden (ganz egal, ob die vom Autor intendiert oder gesehen wurden …) — nicht immer gelingt das für ganze Gedichte, aber doch für einzelne Wort- und Versgruppen. Dann kommen aber wieder Brüche, “enttäuschte” Erwartungen, Widersprüche und Konfrontationen ins Spiel. Und in diesem Zusammenspiel aus strenger (nachgerade mathematischer) Konstruktion und Inkohärenzen auf allen Sinnebenen ist das Lyrik, die unbedingt heutig, aktuell ist.
Und noch ein Gedanke, der beim Lesen in diesem Band immer wieder kommt: Sprache ist eine Wundertüte. Und das ist natürlich ein Punkt, für den ich mich immer wieder neu begeistern kann … Meyer löst Sprache wie nur wenig Literatinnen aus dem Korsett der Alltagsverwendung und ihrer “normalen” Bedeutung: Das ist ja immer die Krux für Spracharbeiter, dass ihr Medium und Material so normal, so alltäglich ist (und deshalb so wenig kunstvoll — ausweichen nur im “Stil”) — oder es wird schnell sehr fremd (Joyce oder Schmidt zum Beispiel, selbst dem in dieser Hinsicht viel harmloseren Jirgl wird das immer wieder vorgehalten). Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung ist auch in anderer Hinsicht eine sprachliche Wundertüte — und daran zeigt sich vielleicht erst die Meisterschaft Meyers: Auch wenn die Konstruktionsprinzipien gleich oder ähnlich sind, so haben doch alle daraus resultierenden Gedichte ihren eigenen Ton, ihr eigenes Setting, ihren speziellen Klang, ihren individuellen Stil von verspielten Clownereien bis zu düsteren Nachdenklichkeiten.
Auf jeden Fall kann ich nur raten, das unbedingt selbst auszuprobieren — wenige Lektüren sind so anregend im eigentlichen Sinne. Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung ist faszinierend und schön, streng und verspielt, spaßig und tiefsinnig. Und damit ist es einfach ein gutes Buch, denn es nötigt der Leserin viel Aktivität ab: Das kann man nicht einfach so wegkonsumieren, hier muss man mitarbeiten. Aber auch: Hier darf und kann man das! Und sicher ist auch: Meyers Texte bieten viele Möglichkeiten, eigene Zugänge zu finden, über die konstruktive Schärfe natürlich, aber auch über das Moment der Klanglichkeit und der sprachlichen Raffinesse überhaupt, aber auch für Wortbildungsfans gibt es hier ganz tolle Entdeckungen (der Titel verweist ja schon darauf, darüber alleine — der Schlussvers aus “Wurmlochdichtung” — ließe sich noch ausgiebig nachdenken …) zu machen — da ist für (fast) jeden etwas dabei …
Staatsexamensangst?
Staat, Sex, Amen sangst
du Rabe. Leben?
Durabel eben!18
Ins Netz gegangen am 2.1.:
- Vor zwanzig Jahren starb Heiner Müller: Dramatiker des Aufstands — NZZ — tom schulz erinnert an heiner müller und seine (theater-)werke
- Soziologieprofessorin über Stadtplanung : „Der Eigenheimfokus ist realitätsfern“ — taz.de — sehr spannendes interview über stadtplanung, ihre möglichkeiten und ihre grenzen
- Sport: Laufen Sie den Ultramarathon | ZEIT ONLINE — tobias hürter hat ausprobiert, wie es ist, einen ultramarathon (und gleich den chiemgau 100) zu laufen — und verknüpft seine erfahrung mit aktuellen evolutionsbiologischen und medizinischen forschungen. sehr schön gemacht.
- Bilder der Seele | Schweizerische Gesellschaft für Symbolforschung — bildliche darstellung der seele in der geschichte — sehr reichhaltiges material!
- Mörderisches Millionengeschäft: In Ostafrika werden Albinos gejagt und verstümmelt — Gesellschaft/Leben — Organe von Albinos werden in Ostafrika gehandelt. Auf der Spur von Menschenjägern — eine sehr eindrucksvolle und harte reportage
- Leitkultur-Debatte: Integriert euch selber! — Debatten — FAZ — Claudius Seidl sehr schön über den schwierigen Begriff der Integration, der Tradition — und was das heute eigentlich noch sein und/oder bedeuten soll
- Radfahren in Berlin – Die Diskrepanz zwischen Realität und Theorie » Zukunft Mobilität — martin randelhoff zur radverkehrssituation in berlin — mit hinweisen, wie man das relativ einfach ändern, d.h. verbessern könnte:
Eine Stadt mit 3,5 Millionen Einwohnern, die sich selbst als „Fahrradstadt Berlin“ bezeichnet, benötigt mehr als eine (!) Vollzeitstelle für den Radverkehr. Der Aufgabenumfang und die Komplexität des Aufgabenspektrums machen vielmehr eine Fachabteilung von mindestens zehn Vollzeitstellen sowie jeweils einer Ingenieursstelle auf Bezirksebene notwendig. Ergänzt werden müssen diese durch Budget und Stellen für Instandhaltung der geschaffenen Infrastruktur sowie zur Planung und zum Bau von Radabstellanlagen. Und durch Schaffung von Stellen zur Durchsetzung von Verkehrsregeln wie Parkverboten, Rücksichtnahme bei Abbiegevorgängen sowie dem sicheren Zustand von Fahrrädern.