Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Jahr: 2016

Kunststück

Einen Nagel mit weni­gen Ham­mer­schlä­gen so in ein Stück Holz zu schla­gen, dass ist kein Handw­erk mehr, son­dern ein Kun­st­stück (das ich nicht selb­st voll­brachte):

nagel im holz

Beim Schrei nach Gerechtigkeit

In der Son­der­ausstel­lung “Schrei nach Gerechtigkeit” des Dom­mu­se­ums Mainz:

Der "Schrei nach Gerechtigkeit" hat Gesellschaft bekommen ...

Der “Schrei nach Gerechtigkeit” hat Gesellschaft bekom­men …

Arg viele Besuch­er hat die Ausstel­lung wohl nicht (als ich da war, war ich öfters sehr alleine), das Auf­sichtsper­son­al hat Zeit zum Lesen …

Taglied 11.1.2016

Timo Rut­tkamp, Far­ben­blind (es spielt Dominik Susteck):
https://soundcloud.com/ruttkamp/timo-ruttkamp-farbenblind

Geschichte

Alles wird Teil ein­er Geschichte sein, viele Jahre danach.Sabine Scholl, Wir sind die Früchte des Zorns, 169

Ins Netz gegangen (8.1.)

Ins Netz gegan­gen am 8.1.:

  • “Mein Kampf”: Wer hat Angst vor einem Buch? | Zeit — ich glaube, nils mark­wardt text zur “mein kampf”-edition hat das poten­tial, der beste dazu zu wer­den — schon wegen dem beginn (“Faschis­mus ist bewaffneter Phonozen­tris­mus. Klingt komisch, ist aber so.”), aber auch wegen sätzen wie

    Die Tat­sache, dass Hitler drin ist, wo Hitler drauf­ste­ht, sollte 2016 in Gui­do-Knopp-Coun­try ja eigentlich keinen mehr über­raschen.

    oder

    Für alle anderen dürfte die gle­icher­maßen stumpfe wie mäan­dernde Melange aus Ras­sis­mus, Anti­semitismus und Impe­ri­al­is­mus, die nur ansatzweise den Ver­such macht, so etwas wie eine Argu­men­ta­tion zu simulieren, kaum ver­führerisch wirken. Men­schen­hass zu predi­gen, das kriegt heute jede mit­telmäßig gemachte Broschüre von Recht­sradikalen hin.

    oder dem schluss

    Falls jemand dieser Tage nun aber gar nicht ohne “Irgend­was-mit-Hitler” auskom­men kann, dem sei vielle­icht ein­fach ans Herz gelegt, sich statt Mein Kampf einen der aus­gewiese­nen Lieblings­filme von Hitler zu besor­gen: Walt Dis­neys Schnee­wittchen und die Sieben Zwerge. Da hat auch die ganze Fam­i­lie was von.

  • Nachruf: Freigeist mit dem Ohr nach innen | taz — die taz reicht ihren nachruf von franziska buhre auf paul bley nach:

    Wohl deshalb hat Paul Bley eine Vielzahl an Alben mit Solo-Impro­vi­sa­tio­nen einge­spielt, sich dem eige­nen Freigeist auf diese Weise von Neuem vergewis­sert. Aus dem beträchtlichen Reper­toire an Komposi­tio­nen sein­er ersten Frau, der Pianistin Car­la Bley, schöpfte er ein Leben lang, gemein­sam mit ihr und anderen exper­i­men­tier­freudi­gen Gle­ich­gesin­nten, darunter die Sax­o­fon­is­ten Son­ny Rollins und Archie Shepp, die Pia­nisten Sun Ra und Cecil Tay­lor sowie die Trompeter Bill Dixon und Michael Mantler, hat­te er 1964 in New York die „Okto­ber­rev­o­lu­tion des Jazz“ angezettelt und die Jazz Com­posers Guild gegrün­det.

  • Joachim Bess­ing: »2016 – The Year Punk Broke« Tage­buch — joachim bess­ing hat ange­fan­gen, zu bloggen (er nen­nt es tage­buch …), unter dem schö­nen titel “the year punk broke” — manch­mal etwas arg insid­erisch, aber das kön­nte dur­chaus span­nend wer­den …
  • Pierre Boulez — Der Unruh­es­tifter | Süd­deutsche Zeitung — rein­hard brem­beck hebt in seinem boulez-nachruf die his­torische dimen­sion von dessen schaf­fen beson­ders her­vor.
  • Zum Tod des Diri­gen­ten Pierre Boulez: Der Vorkämpfer der Mod­erne | NZZ — der große nachruf von peter hag­mann auf pierre boulez

    Weg­weisend und ein­flussre­ich, wie er war, hin­ter­lässt er ein Erbe von imposan­ter Dimen­sion.

    Mit Boulez’ Tod geht die Mod­erne zu Ende – die Mod­erne im stren­gen Sinn. Ihr hat er sich ver­schrieben, als er 1944 in Paris Olivi­er Mes­si­aen begeg­nete. Und ihr ist er treu geblieben über alle restau­ra­tiv­en Bewe­gun­gen des späten 20. Jahrhun­derts hin­weg: in seinen Grun­dauf­fas­sun­gen, im Reper­toire dessen, was ihn inter­essierte, in seinem Kom­ponieren. Wie kein ander­er Vertreter sein­er Zun­ft repräsen­tierte, ja lebte er die Mod­erne – und hat er für sie gestrit­ten, bis­sig zunächst, in den reifer­en Jahren mit gütiger Hart­näck­igkeit.

  • Zum Tod des Jaz­zpi­anis­ten Paul Bley: Spie­len mit dem Risiko | NZZ — ueli bernays schreibt in der nzz den nachruf auf den am sam­stag ver­stor­be­nen paul bley

Der wundersame Wort- und Buchstabendreher Titus Meyer

meyer, meiner buchstabeneuter milchwuchtordnungDas ist mal ein Buch, das mir wirk­lich so manche Nuss zu knack­en gegeben hat: Mein­er Buch­stabeneuter Milch­wuch­tord­nung von Titus Mey­er, erschienen im rühri­gen kleinen Ver­lag Rei­necke & Voß, dessen Pro­gramm lauter so abseit­ige Kost­barkeit­en enthält (und der mir fre­undlicher­weise ein Rezen­sion­sex­em­plar zur Ver­fü­gung gestellt hat). Sel­ten war (und bin) ich mir so andauernd unklar, wie ich zu den hier ver­sam­melten Tex­ten ste­he. Und das ist zunächst mal ein sehr gutes Zeichen — heißt es doch, dass die Texte anre­gen: zum Denken, zum Prüfen, zum Über­legen und auch zum Kno­beln. Denn alle Texte in Mein­er Buch­stabeneuter Milch­wuch­tord­nung beruhen auf ein­er palin­dromis­chen und/oder ana­gram­ma­tis­chen Struk­tur. Und die muss man (wenn man will, gnädi­ger­weise gibt der Band auch eine “Auflö­sung” an) erst ein­mal entschlüs­seln, um das zugrun­dele­gende Form­prinzip zu erken­nen und zu ver­ste­hen.

Zu einem Ende bin ich damit immer noch nicht gekom­men, weit­er­hin habe ich eigentlich keine wirk­liche Posi­tion: auf der einen Seite ste­ht die Bewun­derung ob der Kun­st­fer­tigkeit und die Begeis­terung am Rät­seln. Auf der anderen Seite aber auch viel Rat­losigkeit, weil ich (mich) oft nicht so recht entschei­den kann, ob die Gedichte wirk­lich für sich allein ste­hen kön­nen oder doch nur ein Beispiel für abstrak­te For­müber­legun­gen und ‑spiel­ereien sind. Vielle­icht ist das falsch gedacht, aber wenn ich ihre Pro­duk­tions­beson­der­heit­en und damit aber auch ihre for­male Bed­ingth­eit probe­weise außen vor lasse, sind mir viele Texte auch nach mehrma­ligem Lesen noch fremd: Ich finde keinen Ansatzpunkt, der mir eine Annäherung ermöglicht. Andere zün­den sofort, machen Spaß oder öff­nen neue Per­spek­tiv­en — tun also genau das, was ich mir von Gedicht­en erhoffe.

Also doch alles wie bei einem gewöhn­lichen Lyrik­band? Dur­chaus (auch der Titel ist ja dur­chaus vorstell­bar) — aber schon der Ver­gle­ich ist ja wiederum eigentlich falsch. Denn was ist denn so außergewöhn­lich an Mey­ers Werken? Doch eigentlich nur die Sel­tenheit und Kon­se­quenz ihrer for­malen Gestalt und deren Entste­hung, die in großen Teilen aktueller Lyrik so nicht vorkom­met. Und schon gar nicht so offen­gelegt vorkommt: Denn Mey­er gibt im Inhaltsverze­ich­nis zu jedem Text das Bau- & Form­prinzip an, mit dem Ver­weis auf sein Ord­nungss­chema legt der Dichter sozusagen seine Werk­statt bloß und macht damit auch deut­lich, dass seine Texte immer eine dezi­dierte Form haben (und hat mir in eini­gen Fällen über­haupt erst ver­rat­en, wie der Text funk­tion­iert …). Das ist vielle­icht der größte Unter­schied zu manch ander­er aktueller Lyrik, die sich um for­male Momente wenig bis gar nicht küm­mert (mit Aus­nahme von rhyth­mis­chen und klan­glichen Aspek­ten eventuell) oder aus anderen Grün­den auf gewöhn­lichere, tra­di­tionellere Momente set­zt. Was Mey­er aber davon abge­se­hen auf jeden Fall ausze­ich­net, ist der Umstand, dass seine Lyrik ihre Schriftlichkeit kon­se­quent ernst nimmt, sie fast schon zele­bri­ert, den Buch­staben (und manch­mal auch größere Entitäten wie etwa Sil­ben) als für sich ste­hende Werte in der und für die Lyrik ins Zen­trum rückt. Von Buch­staben-Palin­dromen über Zeilen-Buch­staben-Palin­drome, Sator-Quadrat und das ver­rück­te Ver­tikalpalin­drom (bei dem der Text nach ein­er 180°-Drehung den gle­ichen Text gibt!) über Sil­ben- & Wort-Palin­drome zu Ana­gram­mgedicht­en, Pan­gram­mgedicht­en (mit allen Buch­staben des Alpha­bets) und Schüt­tel­reimen reicht die Band­bre­ite der kon­struk­tivis­tis­chen Gedichte (wenn ich die mal vorüberge­hend so nen­nen mag) bei Mey­er denn auch — man kann Mein­er Buch­stabeneuter Milch­wuch­tord­nung denn auch dur­chaus als Kom­pedi­um der sel­te­nen For­men lesen.

Mon­strum, dies auf­grund
seel­is­chster Meis­ten ver­gaste
Zaumti­er Palin­drom.April­mond (die Schlussverse)

Vielle­icht zeigen Mey­ers Texte aber doch mehr als nur den kun­st­fer­ti­gen Umgang mit Sprache, der eine gewisse arti­fizielle Freude am ver­track­ten Rät­sel­haftigkeit meines Eracht­ens nicht ver­ber­gen kann. Vielle­icht geht es hier auch um die Negierung oder bess­er noch, die Zer­störung von Sin­ner­wartun­gen: Man kön­nte vielle­icht sagen, erst solche Gedichte sind der Free Jazz der Lyrik, denn sel­ten (na gut, Dada funk­tion­iert auf dieser Ebene ähn­lich) bis gar nicht wird die Mate­ri­al­ität der Sprache der Lyrik so radikal gedacht und umge­set­zt. Vielle­icht kommt ja daher meine ini­tiale “Unzufrieden­heit” (blödes Wort, viel zu viel …) mit vie­len Tex­ten — weil sie ein­fach sind, was und wie sie sind und nicht irgend­was ver­mit­teln, erzählen, zeigen, beweisen sollen und wollen — und daran scheit­ert dann mein kryp­to-hermeneutis­ches Lesen zumin­d­est beim ersten Durch­gang regelmäßig, es stolpert sozusagen beim Gang auf der “Hermeneu­tik­treppe” (um einen der schö­nen Mey­er­schen Neol­o­gis­men zu ver­wen­den). Aber das macht gar nichts: Denn erstens ist das ein guter Anlass, mal wieder über Lek­türeer­wartun­gen und Lesetech­niken nachzu­denken und andere Herange­hensweisen zu proben, und zweit­ens zeigt es eben, dass Lit­er­atur mehr sein kann als nur sinnhaftes Erzählen oder Beschreiben in Prosa oder Lyrik (und dann sog­ar richtig gut wird). Gut, das ist natür­lich über­haupt keine neue Beobach­tung und ger­ade in zeit­genös­sis­ch­er Lyrik merkt man das auch an anderen Stellen — aber eben nicht so wie bei Mey­er, der das Lesen auf seine Form viel stärk­er zurück­wirft als andere Autorin­nen das ver­mö­gen.

Der Ver­gle­ich mit dem Free Jazz passt vielle­icht auch insofern, als aus diesen Gedicht­en immer wieder eine große Frei­heit spricht. Das ist natür­lich para­dox: Frei­heit in ein­er kün­stlichen, stren­gen Form — aber ger­ade sie ist es, die sie ermöglicht, weil sie das Sin­ndik­tat ein­fach aufhebt. Auch wenn ich das in mein­er Lek­türe sehr stark mache, heißt das aber auch nicht, dass die Mey­er­sche Lyrik vol­lkom­men sinnbe­fre­it ist. Mit etwas Spürsinn und Kreativ­ität kann man hier dur­chaus faszinierende Zusam­men­hänge find­en (ganz egal, ob die vom Autor intendiert oder gese­hen wur­den …) — nicht immer gelingt das für ganze Gedichte, aber doch für einzelne Wort- und Vers­grup­pen. Dann kom­men aber wieder Brüche, “ent­täuschte” Erwartun­gen, Wider­sprüche und Kon­fronta­tio­nen ins Spiel. Und in diesem Zusam­men­spiel aus strenger (nachger­ade math­e­ma­tis­ch­er) Kon­struk­tion und Inko­hären­zen auf allen Sin­nebe­nen ist das Lyrik, die unbe­d­ingt heutig, aktuell ist.

Und noch ein Gedanke, der beim Lesen in diesem Band immer wieder kommt: Sprache ist eine Wun­dertüte. Und das ist natür­lich ein Punkt, für den ich mich immer wieder neu begeis­tern kann … Mey­er löst Sprache wie nur wenig Lit­er­atin­nen aus dem Korsett der All­t­agsver­wen­dung und ihrer “nor­malen” Bedeu­tung: Das ist ja immer die Krux für Sprachar­beit­er, dass ihr Medi­um und Mate­r­i­al so nor­mal, so alltäglich ist (und deshalb so wenig kun­stvoll — auswe­ichen nur im “Stil”) — oder es wird schnell sehr fremd (Joyce oder Schmidt zum Beispiel, selb­st dem in dieser Hin­sicht viel harm­loseren Jir­gl wird das immer wieder vorge­hal­ten). Mein­er Buch­stabeneuter Milch­wuch­tord­nung ist auch in ander­er Hin­sicht eine sprach­liche Wun­dertüte — und daran zeigt sich vielle­icht erst die Meis­ter­schaft Mey­ers: Auch wenn die Kon­struk­tion­sprinzip­i­en gle­ich oder ähn­lich sind, so haben doch alle daraus resul­tieren­den Gedichte ihren eige­nen Ton, ihr eigenes Set­ting, ihren speziellen Klang, ihren indi­vidu­ellen Stil von ver­spiel­ten Clownereien bis zu düsteren Nach­den­klichkeit­en.

Auf jeden Fall kann ich nur rat­en, das unbe­d­ingt selb­st auszupro­bieren — wenige Lek­türen sind so anre­gend im eigentlichen Sinne. Mein­er Buch­stabeneuter Milch­wuch­tord­nung ist faszinierend und schön, streng und ver­spielt, spaßig und tief­sin­nig. Und damit ist es ein­fach ein gutes Buch, denn es nötigt der Leserin viel Aktiv­ität ab: Das kann man nicht ein­fach so wegkon­sum­ieren, hier muss man mitar­beit­en. Aber auch: Hier darf und kann man das! Und sich­er ist auch: Mey­ers Texte bieten viele Möglichkeit­en, eigene Zugänge zu find­en, über die kon­struk­tive Schärfe natür­lich, aber auch über das Moment der Klan­glichkeit und der sprach­lichen Raf­fi­nesse über­haupt, aber auch für Wort­bil­dungs­fans gibt es hier ganz tolle Ent­deck­un­gen (der Titel ver­weist ja schon darauf, darüber alleine — der Schlussvers aus “Wurm­lochdich­tung” — ließe sich noch aus­giebig nach­denken …) zu machen — da ist für (fast) jeden etwas dabei …

Staat­sex­a­m­en­sangst?
Staat, Sex, Amen sangst
du Rabe. Leben?
Dura­bel eben!18

Titus Mey­er: Mein­er Buch­stabeneuter Milch­wuch­tord­nung. Leipzig: Rei­necke & Voß 2015. 83 Seit­en. ISBN 9783942901154.

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