Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Jahr: 2013 Seite 2 von 31

Jedes Jahr neu: Bachs Weihnachtsoratorium

Es gehört zur Vor­weih­nachts­zeit wie der Advents­kranz, der Glüh­wein und der Leb­ku­chen: Das Weih­nachts­ora­to­ri­um. Und mit „dem“ Weih­nachts­ora­to­ri­um ist natür­lich immer der 1734 kom­po­nier­te Kan­ta­ten­zy­klus von Johann Sebas­ti­an Bach gemeint. Jedes Jahr wie­der begeis­tert es in sei­ner Groß­ar­tig­keit. Die­se Musik für sechs Sonn­ta­ge – von Weih­nach­ten bis Epi­pha­nis – geballt an einem Abend zu hören, das ist immer wie­der beein­dru­ckend. Und das liegt nicht nur an der schie­ren Grö­ße, son­dern an der Viel­falt und Inten­si­tät der Bach’schen Musik, die auch heu­te noch, nach den unzäh­li­gen Auf­füh­run­gen, die jeder schon gehört hat, neu und unver­braucht klin­gen kann.

Da kommt es frei­lich sehr auf die Musi­ker an – und das sind kei­ne gerin­gen Anfor­de­run­gen: Chor und Solis­ten, Instru­men­ta­lis­ten und Diri­gent sind hier glei­cher­ma­ßen immer wie­der gefordert.Das Kon­zert der Main­zer Musik­hoch­schu­le in St. Ignaz mit dem Guten­berg-Kam­mer­chor, dem Neu­may­er-Cons­ort und Solis­ten aus dem „Barock vokal“-Programm, zeig­te sehr schön, dass man dazu aber nicht unbe­dingt gro­ße Namen braucht.

Diri­gen­ten des Weih­nachts­ora­to­ri­um ste­hen immer wie­der vor der Ent­schei­dung, ob sie eher auf Opu­lenz setz­ten oder als Musi­ker eine zurück­ge­nom­me Schlicht­heit bevor­zu­gen. Felix Koch, der die stu­den­ti­sche Beset­zung lei­te­te, hat die sel­te­ne Mög­lich­keit, bei­des gleich­zei­tig zu tun. Sein Chor ist rela­tiv klein besetzt und ent­spre­chend wen­dig und schlank im Klang, das Orches­ter spielt sicher auf Ori­gi­nal­in­stru­men­ten. Zusam­men kön­nen die ordent­lich auf­trump­fen, aber auch fast kam­mer­mus­ka­lisch und intim klin­gen.

Dafür sind aber die Solis­ten sehr groß­zü­gig besetzt: Ins­ge­samt neun jun­ge, von Andre­as Scholl im Kol­leg „Barock vokal“ auf die­se Auf­füh­rung vor­be­rei­te­te Sän­ger und Sän­ge­rin­nen tei­len sich Rezi­ta­ti­ve und Ari­en. Mit Aus­nah­me des Evan­ge­lis­ten, den Jonas Boy zugleich jugend­lich-frisch und sicher singt, wech­seln sich die Voka­lis­ten dabei im Lauf der Kan­ta­ten ab. Das macht das Ora­to­ri­um einer­seits abwechs­lungs­reich, sorgt ande­rer­seits aber auch für eine gewis­se Unein­heit­lich­keit.

Aber abwechs­lungs­reich war das Weih­nachts­ora­to­ri­um in St. Ignaz sowie­so. Natür­lich sind die von Felix Koch ange­schla­ge­nen Tem­pi zügig, aber nie über­trie­ben forsch. Er bringt die Ensem­bles zu einer federn­den, impul­si­ven und trei­ben­den Klang­ge­stalt. Im Gan­zen wirkt das aber vor allem ange­nehm unprä­ten­ti­ös: Koch bemüht sich um eine schlich­te Wahr­heit, die die Musik nicht als pom­pö­sen Mono­li­then zele­briert, son­dern hör­bar Offen­heit und Klar­heit anstrebt. Des­we­gen steht der gesun­ge­ne Text auch sehr im Vor­der­grund, von „Lal­len“ oder „mat­ten Gesän­gen“, wie es im Anfangs­chor der drit­ten Kan­ta­te heißt, war hier nichts zu spü­ren. Beson­ders schön gelin­gen aber immer die Momen­te, in denen die Musik – vor allem im Chor – leicht und hell wird: Hier fin­det Koch mit sei­ner Trup­pe in inni­gen und über­zeu­gen­den Klän­gen am ehes­ten zu sich. Und in die­sen Momen­ten lässt sich der Weih­nachts­mark­tru­bel ganz ein­fach ver­ges­sen und der eigent­lich Grund für das Fest rückt wie­der ins Bewusst­sein: Die Geburt des Erlö­sers.

(geschrie­ben für die Main­zer Rhein-Zei­tung.)

Ins Netz gegangen (11.12.)

Ins Netz gegan­gen am 11.12.:

  • Kath­rin Pas­sig über Wolf­gang Herrn­dorf und sein Buch »Arbeit und Struk­tur« – Lite­ra­tur – Kath­rin Pas­sig über Wolf­gan Herrn­dorf, sein Blog/​Buch, das Pro­blem der Ster­be­hil­fe und die Schwie­rig­keit, sich „ver­nünf­tig“ selbst zu töten.

    Man hat es nicht leicht mit den Schrift­stel­lern. Sie ver­tre­ten ihre Mei­nung schön und über­zeu­gend, auch wenn es sich um eine mäßig durch­dach­te Mei­nung han­delt. Eben­so schwie­rig ist es mit ihren Freun­den. Als ich zusag­te, die­sen Bei­trag zu schrei­ben, woll­te ich für eine bes­se­re Rege­lung der Ster­be­hil­fe in Deutsch­land plä­die­ren – nicht gera­de für die Extrem­form der Libe­ra­li­sie­rung, die Herrn­dorf sich wünsch­te, aber doch dafür, dass Ster­be­wil­li­ge es leich­ter haben soll­ten als er. Aber vor dem Gesetz besteht kein Unter­schied zwi­schen mei­nem Wunsch und denen ande­rer Hin­ter­blie­be­ner, die aus aku­tem Unglück her­aus die Todes­stra­fe für Kin­der­mör­der for­dern, ohne sich dafür zu inter­es­sie­ren, dass das Recht noch ande­re Situa­tio­nen als die ihre zu berück­sich­ti­gen hat.

    Es ist ein­fach, anhand von Arbeit und Struk­tur die Nach­tei­le des bestehen­den Sys­tems zu kri­ti­sie­ren. Aber es ergibt sich kei­nes­wegs ein­fach dar­aus, wie ein ande­res Sys­tem aus­zu­se­hen hät­te.

  • Publi­ka­ti­on von „Mein Kampf“ – „Der Auf­trag ist gestoppt“ – Süddeutsche.de – die spin­nen wirk­lich in Bay­ern: Nach 70 Jah­ren hin und her um Hit­lers „Mein Kampf“ beschlie­ßen sie nun, das sei volks­ver­het­zend und bla­sen kur­zer­hand die schon ziem­lich weit fort­ge­schrit­te­ne wis­sen­schaft­lich kom­men­tier­te Edi­ti­on des IfZ ab.

    Nun trifft die Staats­re­gie­rung die Ent­schei­dung im Allein­gang. Das Buch sei volks­ver­het­zend, sag­te Staats­kanz­lei­che­fin Hadert­hau­er. Wenn Ver­la­ge das Buch in Zukunft ver­öf­fent­li­chen woll­ten, wer­de die Staats­re­gie­rung Straf­an­zei­ge stellen./

  • ZDF-Geschichts­fern­se­hen: Pein­lichs­te Miss­ge­schi­cke der Histo­ry – FAZ – Nach­dem ich gele­sen habe, was Ste­fan Nig­ge­mei­er über die ZDF-Ver­su­che, mit Geschich­te Fern­se­hen und Quo­te zu machen, geschrie­ben hat, möch­te ich mir den Kram wirk­lich nicht mehr anse­hen:

    Manch­mal wirkt es, als muss­ten die Autoren blind in einen Con­tai­ner mit wie­der­zu­ver­wer­ten­dem Mate­ri­al grei­fen und es irgend­wie zu einem gemein­sa­men Ober­be­griff zusam­men­klöp­peln.

  • xkcd: File Exten­si­ons – xkcd ist heu­te mal wie­der außer­ge­wöhn­lich gut:
  • Twit­ter /​medieval­gill: Fee­ling fris­ky? Pls con­sult … – RT @AndyKesson: For tho­se who missed it, the medieval sex flow chart, cour­te­sy of @sirthopas and @medievalgill. Stop! Sin!
  • Zustell­pra­xis von Paket­diens­ten: Post war da – Geld – Süddeutsche.de – Jour­na­lis­mus ist anders: Eine SZ-Schrei­be­rin hat ihr Paket nicht bekom­men. Und schimpft. Ohne die Gegen­sei­te zu hören
  • Georg Büch­ner: Aus­stel­lung zum 200. Geburts­tag | ZEIT ONLINE – Der Tages­spie­gel ist von der Darm­städ­ter Büch­ner-Aus­stel­lung auch nicht so ganz begeis­tert:

Zeit

Und von jetzt ab und eine gan­ze Zeit über
Wird es kei­nen Sie­ger mehr geben
Auf eurer Welt, son­dern nur mehr
Besieg­te.
Ber­tolt Brecht, Der Unter­gang des Ego­is­ten Johann Fat­zer

Kunst

So sieht also eine (fast) 55jährige Kla­ri­net­tis­tin aus, die CDs ver­kau­fen will:

Sabine Meyer auf dem Cover des jpc-couriers, ganz ohne Falten ...

Sabi­ne Mey­er auf dem Cover des jpc-cou­riers, ganz ohne Fal­ten …

Und ich dach­te, bei klas­si­scher Musik käme es nicht aufs Äuße­re an … Aber die Pho­to­shop-Manie macht wohl vor nie­man­den mehr halt.

Neue Ideen

John Cage

Ins Netz gegangen (5.12.)

Ins Netz gegan­gen am 4.12.:

  • Mord: Der Para­graf | ZEIT ONLINE – Nied­ri­ge Beweg­grün­de soll­ten kein Maß­stab mehr sein
    Der Mord-Para­graf des Straf­ge­setz­bu­ches muss drin­gend über­ar­bei­tet wer­den. Bei­lei­be nicht nur, weil er von Nazi-Juris­ten for­mu­liert wur­de.
  • Gelie­fert | zynæs­the­sie – wun­der­ba­re Lie­fe­rung. RT @zynaesthesie: Gelie­fert
  • Archaeo­lo­gy in Greece Online – An indis­pen­si­ble tool for rese­ar­chers in all disci­pli­nes who wish to learn about the latest archaeo­lo­gi­cal dis­co­veries in Greece and Cyprus, Archaeo­lo­gy in Greece Online/​Chronique des fouilles en ligne is a rich­ly illus­tra­ted topo­gra­phi­cal data­ba­se with a map­ping fea­ture to loca­te field pro­jects within sites and regi­ons.
  • Lyri­ke­rin Elke Erb : „Es ist Leben, kon­kret, nicht Spie­le­rei“ – DIE WELT – Elke Erb spricht über das Schrei­ben und Leben:

    Es ist eine akti­ve Welt und es kommt dar­auf an, wie man spricht. Es ist doch ganz egal, wovon man spricht, Haupt­sa­che, es wird anstän­dig erzählt.

    Die Spra­che ist ein leben­di­ges Ding und nicht etwas, was schon fest­ge­legt ist. Was man übri­gens auch sehen kann, wenn die Klein­le­ben­di­gen kom­men, die klei­nen Kin­der, wenn sie die Spra­che nach­bil­den wol­len und Vor- und Nach­sil­ben aus­pro­bie­ren.

    Und natür­lich, ganz zen­tral:

    Die Spra­che lebt, wie gesagt. Es ist Leben, kon­kret, nicht Spie­le­rei.

    (Die Fra­gen von Doro­thea von Tör­ne kom­men mir aller­dings durch­aus selt­sam vor, wie hin­ge­schmis­se­ne Bro­cken, die war­ten, ob Erb irgend­wie dar­auf reagie­ren mag …

  • Ein letz­tes Gespräch mit Peter Kurz­eck: „Wie sollst du dir jetzt den erset­zen?“ – Feuil­le­ton – FAZ – Ein Gespräch mit Peter Kurz­eck im Sep­tem­ber 2013 über Wal­ter Kem­pow­ski, Chro­nis­ten und Schrift­stel­ler und das Tage­buch­schrei­ben, das noch ein­mal Kurz­ecks Posi­ti­on (zum Schrei­ben und zur Welt) sehr schön zusam­men­fasst:

    Ja, man denkt, man sei für die Bewah­rung der Welt zustän­dig.

    Schön auch die­se bei­läu­fi­ge Bemer­kung:

    Man muss schon auf­pas­sen, was man liest.

Kein Versuch wurde unternommen, dieses Ergebnis zu verstehen

Wun­der­bar, die­ser Abs­tract, der tat­säch­lich in einem Tagungs­band (EOS Trans. AGU Vol 72 1991, No 27–53, S. 456) ver­öf­fent­licht wur­de:

Fractal Analysis of Deep Sea

Frac­tal Ana­ly­sis of Deep Sea

und da heißt es immer, die Geis­tes­wis­sen­schaf­ten wür­den lee­re Luft ver­öf­fent­li­chen, wäh­rend die Natur­wis­sen­schaf­ten durch stren­ge peer-reviews vor sol­chem Unsinn geschützt sei­en … (via wired)

Nebel

Es ist, es ist nichts, es ist
ein Satz aus der Zeit, als der Som­me­ren­gel
durch den Nebel flog und rief
Chris­toph Meckel, Nebel (aus: Blut im Schuh (2001), 15)

Twitterlieblinge November 2013

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http://twitter.com/ASchmidt_Zitate/status/400351591066521600

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Ins Netz gegangen (27.11.)

Ins Netz gegan­gen am 27.11.:

  • Chro­nist sei­nes Lebens und sei­ner Epo­che: Zum Tod von Peter Kurz­eck – Lite­ra­tur Nach­rich­ten – NZZ.ch – Roman Bucheli weist in sei­nem Peter-Kurz­eck-Nach­ruf in der NZZ sehr rich­tig dar­auf hin, dass die Lebens­er­in­ne­rungs­be­schrei­bung allei­ne nicht das Ent­schei­den­de für die Grö­ße des Kurz­eck­schen Werks ist:

    Nicht Prousts gepfleg­te «mémoi­re invo­lon­tai­re» hat ihn umge­trie­ben, son­dern die pani­sche Angst, das Ver­lo­re­ne und Ver­gan­ge­ne im Ver­ges­sen noch ein­mal preis­ge­ben zu müs­sen. Er über­liess sich nicht dem Strom der Erin­ne­rung, son­dern brach­te sie, mit Nabo­kov, noch ein­mal und – so die uner­füll­ba­re Hoff­nung – lücken­los zum Spre­chen.
    […] Kurz­eck heg­te noch ein­mal, als hät­te es die Bruch­stel­len der Moder­ne und die neu­en For­men des Erzäh­lens nie gege­ben, den Traum von einem Gan­zen, das sich im lite­ra­ri­schen Kunst­werk nach­bil­den lässt. Er moch­te dabei auch nicht etwa auf das rhe­to­ri­sche Mit­tel ver­trau­en, dass im Teil das Gan­ze ent­hal­ten sein kön­ne, son­dern nahm sein Ver­fah­ren auf eine gera­de­zu bra­chia­le Wei­se wört­lich: Die Zeit soll­te im erzähl­ten Werk gleich­sam mass­stab­ge­recht noch ein­mal erste­hen. Er stand dar­um Bal­zac näher als Proust, und die deut­schen Erzäh­ler des 19. Jahr­hun­derts waren ihm min­des­tens eben­so ver­traut wie sei­ne an raf­fi­nier­ten Erzähl­tech­ni­ken geschul­ten Zeit­ge­nos­sen.

  • Tod im Neben­satz – taz.de – Jan Süsel­becks klu­ger Nach­ruf auf Peter Kurz­eck in der taz:

    In der Melan­cho­lie die­ser Proust’schen Dau­er­me­di­ta­ti­on, die zu sei­ner Mar­ke wur­de und ihm einen Platz in der Lite­ra­tur­ge­schich­te sicher­te, ging es Kurz­eck aber gar nicht um kon­kre­te Orte. Er war kein Regio­nal- oder gar Hei­mat­schrift­stel­ler. Kurz­eck träum­te sich in einen ganz eige­nen Sound des Den­kens und Schrei­bens hin­ein, in eine detail­ver­ses­se­ne, musi­ka­lisch vor sich hin kon­tra­punk­tie­ren­de Ästhe­tik der Pro­vinz, die tat­säch­lich alles ande­re als pro­vin­zi­ell war. Kurz­eck war auf der Suche nach uto­pi­schen Orten, die hät­ten exis­tie­ren kön­nen

  • Die Wahr­heit über die Wahr­heit: Archi­tek­tur­ge­schich­te (ganz) kurz gefasst – für so etwas muss man das Inter­net doch lie­ben: Archi­tek­tur­ge­schich­te (ganz) kurz gefasst (wirk­lich ganz kurz …)
  • Nach­ruf Peter Kurz­eck: Die gan­ze Zeit erzäh­len, immer | ZEIT ONLINE – Ein sehr anrüh­ren­der, inten­si­ver und lie­be­vol­ler Nach­ruf von Chris­toph Schrö­der:

    Der Tod von Peter Kurz­eck ist das Schlimms­te, was der deutsch­spra­chi­gen Lite­ra­tur seit vie­len Jah­ren pas­siert ist./

  • Koali­ti­ons­ver­trag: Der Kern des Net­zes – Tech­nik & Motor – FAZ – Da hat Micha­el Spehr wohl recht:

    Netz­neu­tra­li­tät eig­net sich also bes­tens als Lack­mus­test für Netzkompetenz./

    Und lei­der gibt es kaum Poli­ti­ker (und Mana­ger) in ent­spre­chen­den Posi­tio­nen, die den Test bestehen …

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