Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Jahr: 2013 Seite 1 von 31

Ins Netz gegangen (31.12.)

Ins Netz gegan­gen am 31.12.:

Messias mit angezogener Handbremse

Gut, dass es das mod­erne Urhe­ber­recht vor 225 Jahren noch nicht gab. Son­st hätte sich Mozart wom­öglich nie getraut, Hän­dels „Mes­si­ah“ zu bear­beit­en. Oder Hän­dels Erben hät­ten gar nicht genehmigt, dass da ein ander­er Kom­pon­ist die Instru­men­ta­tion des Ora­to­ri­ums ändert, die Arien umschreibt oder manch­es, was ursprünglich der Chor zu sin­gen hat­te, nun den Solis­ten anver­traut. Und das wäre schade gewe­sen, denn es hätte uns um die Mozart-Fas­sung des Hän­delschen „Mes­sias“ gebracht.

So ein Cov­er ist natür­lich ger­ade dann inter­es­sant, wenn das Orig­i­nal sowieso schon bekan­nt ist. Und das muss man für Hän­dels berühmtestes Ora­to­ri­um auch heute noch annehmen. Da ist eine Auf­führungsvari­ante also eine angenehme Abwech­slung: Man hört die bekan­nten Chöre – natür­lich wird auch bei Mozart ein kräftiges „Hal­lelu­ja“ gejubelt – und die ver­traut­en Arien, aber man hört auch etwas Neues, auch wenn Mozart die Par­ti­tur nur sehr behut­sam mod­ernisiert. Geän­dert ist vor allem die Instru­men­ta­tion, die mit zusät­zlichen Holzbläsern mehr Farbe ins Spiel bringt. Und neu klin­gen auch einige Arien. Oder zumin­d­est weniger bekan­nt. Denn es ist ja nicht das erste Mal, dass der Bach­chor mit der Lud­wigshafen­er Staat­sphil­har­monie die Mozart-Fas­sung in der Chris­tuskirche auf­führt.

Zum ersten Mal geschieht das allerd­ings ohne Ralf Otto: Der erkrank­te Chor­leit­er wurde kurzfristig durch Wol­fram Koloseus erset­zt – immer­hin ein erfahren­er Mozart-Diri­gent. Das wird in der Chris­tuskirche aber nicht so recht deut­lich. Vielle­icht war die Vor­bere­itungszeit ein­fach zu kurz. Jeden­falls klingt das sel­ten so, als wären Sänger, Instru­men­tal­is­ten und Diri­gent mit einan­der und dem Werk wirk­lich ver­traut. Von Num­mer zu Num­mer hangeln sie sich, mal bess­er, mal etwas hake­liger. Aber über weite Teile bleibt der Ein­druck, dass alle Beteiligten noch sehr in und an den Noten kleben – freies und lebendi­ges Musizieren ist das sel­ten.

Aus­gerech­net im ersten Teil, dem wei­h­nachtlichen Teil des Ora­to­ri­ums, wirkt dieser „Mes­sias“ deshalb selt­sam entrückt und fern: Das scheint die Musik­er über­haupt nicht zu berühren. Manch­es von dieser großar­ti­gen Musik ist sog­ar richtig schlaff. Sich­er, da sind dur­chaus ansprechende Momente dabei – aber gut ver­steckt in viel Mit­tel­maß. Auch die Solis­ten kön­nen das nicht ret­ten: Klaus Mertens wirft seine langjährige Erfahrung ins Gewicht, die man der rou­tinierten, aber dur­chaus pointierten Inter­pre­ta­tion immer anhört. Tenor Chris­t­ian Rathge­ber singt dage­gen auf­fal­l­end jugendlich und frisch, aber manch­mal auch etwas durch­set­zungss­chwach. Ähn­lich­es ist in der Damen­riege zu beobacht­en: Sopranistin Sarah Wegen­er kann mit klar­er und sub­til­er Gestal­tung überzeu­gen, wird manch­mal – etwa in der Arie „Er wei­det seine Herde“ auch richtig ver­führerisch, während die Mez­zoso­pranistn Nohad Beck­er etwas unschein­bar bleibt.
Blass bleibt aber eben auch vieles vom Rest. Die Staat­sphil­har­monie klingt durch­weg recht schroff, der Chor anfangs erstaunlich lust­los. Viele rhyth­mis­che und dynamis­che Akzente, die der sehr extro­viert dirigierende Koloseus den Musik­ern und Sängern zu ent­lock­en ver­sucht, ver­schleifen und ver­puffen wirkungs­los. Immer­hin bessert sich das zunehmend: Vor allem der Bach­chor find­et zur gewohn­ten Form, die hier sehr poliert und hell klingt. Ger­ade im zweit­en Teil fängt das an, zu strahlen. Schade nur, dass dann aus­gerech­net der Schluss­chor, das alles bestäti­gende große „Amen“, wieder so über­vor­sichtig zaghaft klingt, als wür­den Chor und Orch­ester mit ange­zo­gen­er Hand­bremse musizieren.

Ins Netz gegangen (21.12.)

Ins Netz gegan­gen am 21.12.:

Taglied 20.12.2013

Bevor ich ganz in die Wei­h­nachtsmusik abtauche, noch eine der besten Chor­musiken über­haupt: Gus­tav Mahlers “Ich bin der Welt abhan­den gekom­men” im großar­ti­gen Arrange­ment von Clytus Gottwald (hier gesun­gen vom öster­re­ichis­chen Cho­rus sine nomine)

Gus­tav Mahler / Clytus Gottwald (Arr.) Ich bin der Welt abhan­den gekom­men

Beim Klick­en auf das und beim Abspie­len des von YouTube einge­bet­teten Videos wer­den (u. U. per­so­n­en­be­zo­gene) Dat­en wie die IP-Adresse an YouTube über­tra­gen.

Wiener Kongress

… als ver­frühter Auf­takt zum 200-jähri­gen Jubiläum des Wiener Kongress schon mal eine Ein­schätzung von Arno Schmidt:

Damals in Wien wurde seit­ens der Monar­chen und ihrer Kan­zler organ­isiert: die Restau­ra­tion, die Große Läh­mung, die »Heilige Allianz« — das Windei, an dem wir auch heute wieder saugen. Unser dummes Volk freilich — zu dessen Merk­malen es gehört, daß es kitschi­gen For­mulierun­gen gegenüber beson­ders wider­stand­s­los ist — hat sich die sin­istren Fak­ten dessen, was damals mit ihm gemacht wurde, durch fol­gende Über­schrift aus dem Gedächt­nis weg=eskamotieren lassen: »Der Kon­greß tanzt«: so bringt man dem »Unter­tan« Geschichte bei: es lebe die Mnemotech­nik!Arno Schmidt, Aus dem Leben eines Fauns

Naturschönheiten

Das Ver­läßlich­ste sind Naturschön­heit­en. Dann Büch­er; dann Brat­en mit Sauer­kraut. Alles andere wech­selt und gaukelt.
Arno Schmidt, Aus dem Leben eines Fauns

Taglied 17.12.2013

Max Reger, Nachtlied op. 138

Max Reger: Nachtlied — S:t Jacobs Ung­dom­skör , Stock­holm, Swe­den; Dir.: Mikael Wedar

Beim Klick­en auf das und beim Abspie­len des von YouTube einge­bet­teten Videos wer­den (u. U. per­so­n­en­be­zo­gene) Dat­en wie die IP-Adresse an YouTube über­tra­gen.

Aus-Lese #23

Arezu Wei­tholz: Wenn die Nacht am still­sten ist. München: Antje Kun­st­mann 2012. 224 Seit­en.

Wenn die Nacht am still­sten ist soll wohl so etwas wie ein Abge­sang auf die Poplit­er­atur sein. Als solch­er ist es aber schwach. Inter­es­sant ist die darin erzählte Beziehungs­geschichte: Die Beziehung der Erzäh­lerin zu Lud­wig, die ger­ade endete, und die zu ihrer Nut­ter, die zu enden dro­ht — mit dem Tod. Da geht es dann irgend­wie um die Frage: Kann man post­mod­ern-the­o­retisch klug sein und trotz­dem fühlen/lieben, in Beziehung, Liebe, Leben wahrhaftig sein? Dazwis­chen gibt es — die Ref­erenz auf die Poplit­er­atur lässt grüßen — haufen­weise mehr oder min­der schlaue und raf­finierte Anspielun­gen, im Gegen­satz zum Orig­i­nal aber keine Ironie. Lei­der kom­men der Autorin immer wieder Sen­ten­zen in den Weg, von den sie sich offen­bar nicht tren­nen mochte — da wird des dann manch­mal etwas platt und klis­chee­be­laden: Sätze wie “Ich will wahr sein.” (155) sind irgend­wie doch immer pein­lich. Am besten gefiel mir der erste Teil — “Die Nacht” über­schrieben -, der auch erzähltech­nisch vom eher banalen, oft unge­nau erzählten Rest pos­i­tiv unter­schieden ist.

“Am Ende geht es um den Moment.” (9 & 223) behauptet der Text am Anfang und Schluss — aber eigentlich stimmt das gar nicht, es geht eben selb­st dem Text schon immer um mehr, das mit dem Moment klappt ja ger­ade nicht.

Carl-Chris­t­ian Elze: ich lebe in einem wasser­turm am meer, was albern ist. Wies­baden: lux­books 2013 (luxbooks.labor). 112 Seit­en.

Ein schön­er Gedicht­band aus dem kleinen, feinen Wies­bade­nen lux­books-Ver­lag. Bei Elze geht es um das “Ich”. Und zwar schon ganz banal und offen­sichtlich: Ich ist fast immer schon im ersten Vers präsent, oft sog­ar als erstes Wort). Das “Ich” ist hier offen­bar eines, das viel zu viel weiß und reflek­tiert ;-), aber trotz­dem authen­tis­che Stimme bleibt: wis­send, aber füh­lend — Eine Kom­bi­na­tion, die recht sel­ten (gewor­den) ist in der deutschsprachi­gen Lyrik, da pen­delt das meis­tens zu ein­er der bei­den Seit­en. Soll­bruch­stellen sind in diesem Konzept aber manch­mal dur­chaus erkennbar: das ist nicht Lyrik, die her­metisch gegen alle Angriffe gewapp­net ist — im Gegen­teil, sie zeigt sich offen und dur­chaus auch ver­let­zlich. Defin­i­tiv nicht ganz meine Sache ist die sehr deut­liche Prosanähe der Langzeilen.

Typ­is­cher­weise geht es um das ewige, fre­undlich-obses­sive Ich, das fast unun­ter­broch­ene “ich bin …” macht das deut­lich. Das “Ich” ist hier eine ganze Menge, u.a. ein Mon­ster und ein Atom­kraftwerk …). Wie schon im Titel (der ein vork­om­mender Vers ist) wird dieses „ich bin” gerne mit einem “… was ist” kom­biniert. Offen­bar soll nicht nur über das Ich (über das Sub­jekt und seine Brüchigkeit­en, seine Kon­sti­tu­tion­sprob­leme) gesprochen wer­den, son­dern auch das Wort immer und immer wieder gesagt werde — bis es nicht nur seine Bedeu­tung ver­loren hat, son­dern auch als Wort bedeu­tungs­los gewor­den ist, weil es in so unzäh­li­gen Vari­anten, Beschrei­bun­gen und Meta­phern immer wieder neu ver­sucht wird (aber, das ist typ­isch für Elze: das bleibt (fast) immer heit­er, dieses let­ztlich doch bru­tale und weit gehende Scheit­ern, das wird nicht dunkel, depres­siv oder aggre­siv, son­dern fre­undlich, fast unbeschw­ert, etwas schweifend und ein­fach weit­er suchend — bis kurz vor Schluss des übri­gens schön gestal­teten Ban­des.

Schön­heit­en gibt es hier einige, aber manch­mal erscheinen die mir zumin­d­est beim ersten Lesen etwas undiszi­plin­iert, nicht ganz fer­tig aus­gear­beit­et.

ich pad­del in den lüften herum nach ein paar wahren worten (38)

Julia Schoch: Selb­sporträt mit Bona­parte. München, Zürich: Piper 2013. 142 Seit­en.

Ein kurz­er Text, aber dur­chaus ein stark­er, dieses Selb­sporträt mit Bona­parte von Julia Schoch. Und ein kluges, aber nicht tröstlich­es Buch: Was passiert, wenn zwei “Ver­gan­gen­heits­men­schen” in Liebe zu einan­der kom­men oder eben nicht zu einan­der find­en? Das erzählt Schoch präzise, mit vie­len sehr tre­f­fend­en Sätzen in einem kurzen, aber aus­re­ichend Romänchen: Das Scheit­ern ein­er Beziehung, die von Anfang an keine Chance hat — und ihr Sym­bol im Zufall des Roulette-Spiel(en)s find­et. Es geht dabei zwar offen­sichtlich um Lei­den­schaft, ist aber sehr über­legt, oft ana­lytisch, meis­tens trock­en, auch sprach­lich fern jeden Über­schwangs und lei­den­schaftlichen Aus­bruchs. Der Trick ist natür­lich, dass ger­ade die Geschicht selb­st nicht erzählt wird, son­dern höch­stens in Andeu­tun­gen klar wird. Erzählt wird stattdessen das Erzählen und das Erin­nern, die Frage der Ver­gan­gen­heit, ver­set­zt mit Frag­menten der Liebesgeschichte. Und das kon­nte mich dur­chaus erfreuen.

In Wirk­lichkeit ist Schreiben eine Form des Wartens. Solange ich dies schreibe, ist nichts zu Ende, kann es eine wieder­hol­ung geben. (96)

Ins Netz gegangen (15.12.)

Ins Netz gegan­gen am 15.12.:

Feine Klangkunst: Yulianna Avdeeva in Mainz

Robert Schu­mann war begeis­tert von ihnen: Fréderich Chopins 24 Préludes op. 28, die er als „Skizzen, Etu­de­nan­fänge, oder will man, Ruinen, einzelne Adler­fit­tige, alles bunt und wild durcheinan­der“ charak­ter­isierte. Vor allem waren sie ihm ein Zeichen der Kün­heit und Genial­ität des Kom­pon­is­tenkol­le­gen. Und wenn man sich anhört, wie Yulian­na Avdee­va den Zyk­lus im Frank­furter Hof spielte, möchte man Schu­mann unbe­d­ingt zus­tim­men.

Das liegt nicht daran, dass Avdee­va bei ihrem Mainz­er Gast­spiel im Rah­men der Rei­he „Inter­na­tionale Pianis­ten“ die Vir­tu­osität der 24 kurzen Stücke beson­ders betonte. Son­dern daran, dass sie den ganzen Zyk­lus beseelte. Und das heißt vor allem, dass sie aus­ge­sprochen vielfältig spielte. Manch­mal ist das pure Ver­führun­gen, dann wieder reine Vir­tu­osität, mal sind es heit­er per­lende schein­bare Leichtigkeit­en, mal düstere Visio­nen. Aber alles lebt, immer atmet der Klavier­ton. Und stets ist die Poe­sie der Préludes zu hören – nicht nur der Noten, son­dern auch des Klangs. Denn vor allem im leis­eren, gedämpften Reg­is­ter kann Avdee­va aus dem Flügel im Frank­furter Hof viel her­aus­holen. Ohne Schwulst spielt sie, aber mit einem feinen Ohr für die Zwis­chen­re­iche der Stim­mungen, die leicht­en Ein­trübun­gen, aber auch die vor­sichti­gen opti­mistis­chen Anwand­lun­gen – und den fähi­gen Fin­gern, das genau umzuset­zen. So zeigen sich die Préludes bei ihr in der Verbindung von Vir­tu­osität und Innigkeit als wirk­lich roman­tis­che Musik.

Das liegt auch daran, dass ihr warmer, san­ft gerun­de­ter Ton mit der nöti­gen Sta­bil­ität für diese Vielfalt nur in sehr geschwinden und laut­en Pas­sagen etwas hart und grell wird. Dafür ist ihre Klangfülle im pianis­si­mo grandios. Aber sowieso ist es gar nicht so sehr das auf­brausende Moment, das in ihrer Inter­pre­ta­tion begeis­tert, son­dern das zurückgenommene, melan­cholis­che: Da sind die Töne ein­fach viel far­biger, selb­st in der Schwarz-Weiß-Welt noch vielfältiger dif­feren­ziert als in den stürmerischen Préludes, die bei Avdee­va oft etwas grell und fast geschwätzig wirken.

Fast magisch klan­gen unter ihren Hän­den auch die eher sel­ten zu hören­den „Drei Klavier­stücke“ von Franz Schu­bert. Späte Werke sind das, geschrieben im Todes­jahr des Kom­pon­is­ten, deren nach­den­klichen Töne man heute fast schon die Ahnung des Todes unter­stellen möchte. Voller Sub­til­ität und mit einem sehr fra­gen­den, immer suchen­den Ton spielt Avdee­va sie als Musik, die nicht alles weiß und ihre Lück­en ken­nt – eine Musik der Vergewis­serung und Suche, die hier in stark­er emo­tionaler Span­nung mit sou­verän­er Zartheit fast die Zeit aufzuheben ver­mag.
Sergej Prokof­jews siebte Klavier­son­ate wirk­te zwis­chen diesen bei­den Roman­tik­ern fast wie ein Fremd­kör­p­er – nicht wegen sein­er Moder­nität, son­dern wegen sein­er lebendi­gen Schroffheit, die bei Avdee­va freilich nur in ein­er etwas glattge­bügel­ten Ver­sio­nen erscheinen: Ger­ade die Ner­vosität der Musik spielt hier keine beson­dere Rolle. Das liegt auch dran, dass große Gesten bei ihr immer bloße Gesten bleiben und nie so zwin­gend sind wie der inten­sive Aus­druck, den sie ger­ade den unschein­baren Momenten der Sonate mit auf den Weg gibt. Die wirk­liche Emo­tion steckt eben immer im Detail – und die Inten­sität eben­so.

(geschrieben für die mainz­er rhein-zeitung.)

Seite 1 von 31

Präsentiert von WordPress & Theme erstellt von Anders Norén