Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Jahr: 2012

Überall nur Blau

Auch wenn der Ein­band ganz gelb ist: “Blue­screen” von Mark Greif ist ein fan­tastis­ches Buch. Mir war Greif ja noch unbekan­nt — eine echte Lücke. Die Essays, die er “Ein Argu­ment vor sechs Hin­ter­grün­den” unter­titelte und die in der — von Greif mither­aus­gegebe­nen — Zeitschrift n+1 erschienen sind, drehen sich um Erschei­n­un­gen des mod­er­nen Lebens der Gegen­wart, um den sex­uelle Fetisch der Jugendlichkeit, um Über- und Unter­sex­u­aliserung, um YouTube oder um die Geschichte des HipHop (ein­er der besten Essays über­haupt: “Rap­pen ler­nen”, der aus­ge­hend von ein­er ganz per­sön­lichen Erfahrung einen bre­it­en Abriss des HipHops und sein­er Bedeu­tun­gen entwick­elt).

Die Ästhetisierung des ganzen Lebens ist die zen­trale These Greifs. Aber darum spin­nt sich ein wun­der­bar­er Kos­mos der Beobach­tun­gen und Erk­lärun­gen des All­t­ags der Gegen­wart und sein­er medi­alen, ästhetis­chen und kul­turellen Erschei­n­un­gen — so etwas wie eine Zeit­di­ag­nose in Schlaglichtern. Da geht es dann auch nicht mehr nur um die eigentliche Ästhetisierung, son­dern etwas all­ge­mein­er um das Prob­lem der medi­ale Ver­mit­tlung unser­er Erfahrun­gen und im Beson­deren um das Leben in Nar­ra­tio­nen: Greif sieht die Men­schen der Gegen­wart umstellt von Erzäh­lun­gen, die den Blick auf die “Wirk­lichkeit” behin­dern. Da kann man freilich auch ander­er Mei­n­ung sein: Die nar­ra­tive und medi­ale Erfahrung muss nicht unbe­d­ingt schlecht sein. Greif neigt sich da manch­mal etwas der kul­turpes­simistis­chen Sicht zu, die die medi­ale Ver­mit­tlung als Hin­der­nis ansieht, als Abkehr von einem — von Greif selb­st dur­chaus als solchen in sein­er Prob­lematik erkan­nten — ide­alen Zus­tand der Unmit­tel­barkeit.

Aber Essays wie “Rap­pen ler­nen” oder auch der “Hochsom­mer der Sexkinder” sind trotz­dem große Kul­turkri­tik: Erk­lärend, aber dur­chaus von einem Stand­punkt aus kri­tisch hin­ter­fra­gend, ohne besser­wis­serischen Ges­tus des Alleswis­sers und alle­serk­lär­ers allerd­ings, der sowieso schon weiß, was er von allem hält. In dieser Hin­sicht sind das eben Essays im besten Sinne: Ver­suche, Erk­lärun­gen zu find­en — Erk­lärun­gen z.B. für Phänomene wie das Real­i­ty-Fernse­hen. Und davon aus­ge­hend immer die Über­legung: Was macht das mit uns? Wie verän­dert das uns, unsere Hal­tung, unsere Wahrnehmungen, unsere Ein­stel­lun­gen, unser Ver­hält­nis zur Welt und zu unseren Mit­men­schen. In bester Essay-Tra­di­tion nimmt Greif sich da als Zwei­fler und Such­er auch nicht zu sehr zurück, son­dern bleibt als Per­son, als Erleben­der und Fra­gen­steller, immer präsent. Dass das außer­dem klar for­muliert, überzeu­gend argu­men­tiert und luzide geschrieben ist, gehört unbe­d­ingt zum pos­i­tiv­en Ein­druck dieses empfehlenswerten Ban­des.

Mark Greif: Blue­screen. Ein Argu­ment vor sechs Hin­ter­grün­den. Berlin: Suhrkamp 2011. 231 Seit­en. ISBN 978–3‑518–12629‑5.

Taglied 3.1.2012

Heute gibt es ganz viel Musik, näm­lich “The Illu­sive Eng­lish Organ”, die Aus­gabe 1201 der “Pipedreams”. Pipedreams ist eine unbe­d­ingt empfehlenswerte Sendung des amerikanis­chen Radios, die über deren Home­page auch bei uns zu hören ist: Jede Woche gibt es hier (auch per E‑Mail) zwei Stun­den fein­ste Orgel­musik, the­ma­tisch und/oder region­al ver­bun­den, mit großem Inter­esse an den Orgeln und ihren Spez­i­fi­ka. Mehr Infor­ma­tio­nen gibt’s auf der Home­page beim Publicradio/American Pub­lik Media: klick.

schweizer musik

(der kalauer musste sein). es geht natür­lich um irène schweiz­er, eine der besten leben­den pianistin­nen der impro­visierten musik, um das gle­ich mal klarzustellen.

beim anhören ihrer allerneuesten cd, einem live-mitschnitt (der lei­der klan­glich nicht ganz top of the line zu sein scheint …) fragte ich mich wieder ein­mal (und nicht zum ersten mal), was — für mich — eigentlich das große an ihrem spiel aus­macht. ich glaube, es ist ihre mis­chung aus energie und poe­sie. das klingt nach all­ge­mein­platz und ist es wahrschein­lich auch. aber in der kom­bi­na­tion dieser bei­den pole — nicht so sehr der mis­chung, als der vere­ini­gung zweier schein­bar­er gegen­sätze — liegt, glaube ich, ihr indi­vidu­eller stil. der macht sich bemerk­bar, egal, ob es sich um eigene kom­po­si­tio­nen han­delt oder um fremdes mate­r­i­al (hier zum beispiel von car­la bley, thelo­nious monk oder dol­lar brand). man­fred papst nen­nt das im book­let übri­gens “das Wech­sel­spiel von lyrisch­er Ver­schat­tung und hero­is­ch­er Gebärde auf kle­in­stem Raum” — wobei ich mir nicht sich­er bin, ob “hero­isch” den aus­druck dieser musik wirk­lich triff. vielle­icht, “hero­isch” dann im sinne von stand­fest, auch unbeugsam — indi­vid­u­al­is­tisch eben. aber nicht auftrumpfend, besiegend. gewis­sheit­en ver­sagt sie sich allerd­ings nicht, das ist mehr als reine brechung. vielle­icht ist das ja auch etwas, das ihre fasz­i­na­tion aus­macht: trotz der vielfalt der aus­drucks­for­men (schweiz­er ist in gewis­sem sinne auch eine “gelehrte” pianistin — und deshalb in so einem klas­sis­chen musen­tem­pel wieder der zürich­er ton­halle gar nicht so verkehrt am platz) schim­mert immer die posi­tion, der ort und die kraft der pianistin als selb­st­be­hauptetem sub­jekt durch: das gibt sie nicht auf, nie und nir­gends.

schon der titel markiert das sehr gut: “to whom it may con­cern”. das ist selb­st­gewiss und selb­st­be­wusst. aber eben auch — ver­mute ich — im vollen bewusst­sein der exk­lu­siv­ität (oder lim­ität) der kreise, die das tat­säch­lich wahrnehmen und die das inter­essiert: eigentlich müsste & sollte das ja möglichst alle ange­hen. so gut ist diese welt aber lei­der nicht … dafür ist die musik dieser welt aber so gut. grandios eigentlich sog­ar, wenn man sich etwa das “final end­ing” anhört, das in einem rie­seigen run­dum­schlag noch ein­mal alles erfasst und umfasst, ohne sein eigenes zu ver­lieren, das span­nend in jedem ton ist, aber doch ganz gelassen und natür­lich vor allem aus­ge­sprochen fol­gerichtig wirkt: vom mate­r­i­al kön­nte man es fast als eine etüde des free jazz anse­hen. aber dann höch­stens im chopin­schen sinn: etüde als konz­ert­stück und so weit­er.

das nur schnell beim ersten hören. die cd, aufgenom­men übri­gens im april 2011 in der züriche ton­halle anlässlich ihres 70. geburt­stages (kaum zu glauben!), wird meinen play­er sich­er nochöfter von innen sehen, das ist sich­er.

Irène Schweiz­er: To Wom It May Con­cern. Piano Solo Ton­halle Zürich. Intakt CD 200, 2012.

 

Taglied 2.1.2012

Wohin? Ja, wohin nur? … Eine wun­der­bare Bear­beitung von Eduard Steuer­mann.

Taglied 1.1.2012

ein­fach nur so:

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