Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Jahr: 2008 Seite 1 von 14

„Wir haben unse­re Kör­per, aber wir sind sie nicht.“—Thomas Meine­cke, Musik, 311

“it takes a long time for a world to vanish, much lon­ger than you would think.„ &mdash (paul aus­ter, in the coun­try of last things, 28)

„Was ist das eigent­lich für eine Instanz, fra­ge ich mich, […] die den Fluß mei­ner Gedan­ken ord­nen will? Sich manch­mal sogar her­aus­nimmt, zu bestim­men: Hier wird jetzt nicht wei­ter­ge­dacht. Und das dann auch durch­zu­set­zen vermag.“—Thomas Meine­cke, Musik, 367

stark im glauben und in der musik: paulus im dom

Pau­lus-Jahr, Kom­po­nis­ten-Jubi­lä­um, Weih­nach­ten – Anläs­se gibt es mehr als genug, Felix Men­dels­son-Bar­thol­dy Ora­to­ri­um „Pau­lus“ jetzt auf­zu­füh­ren. Aber eigent­lich ist der bes­te Grund ja schon, die­ses gro­ße Werk über­haupt zum Klin­gen zu brin­gen. Vor allem, wenn man sich dar­auf so aus­ge­zeich­net ver­steht wie Dom­ka­pell­meis­ter Mathi­as Breit­schaft – dann braucht man wirk­lich kei­nen äuße­ren Anlass mehr. Die Erwar­tun­gen der vie­len Main­zer – selbst Steh­plät­ze waren schon knapp – wur­den im Dom also bestimmt nicht ent­täuscht.
Von Anfang bis Ende, von der Stei­ni­gung des Ste­pha­nus über die Wand­lung des Sau­lus zum Pau­lus bis zum Abschied des Mär­ty­rers von sei­ner Gemein­de zeich­ne­te Breit­schaft mit den Dom­chö­ren und dem Main­zer Kam­mer­or­ches­ter eine inten­si­ve Klang­ge­schich­te des siche­ren Bestehens im Glau­ben. Der Haupt­ak­teur dabei war – wenig über­ra­schend an die­sem Ort – die Chö­re, also vor allem die Dom­kan­to­rei mit den ver­stär­ken­den Män­ner­stim­men des Dom­cho­res. Die gaben näm­lich den ent­schei­den­den Kick, berei­te­ten mit ihrer nach­drück­li­chen Prä­senz ein aus­ge­zeich­ne­tes Klang­fun­da­ment.
Breit­schaft führ­te sei­ne Musi­ker in dra­ma­ti­scher Auf­la­dung genau und dis­zi­pli­niert, mit klar gezeich­ne­ten Struk­tu­ren und deut­li­chen Höhe­punk­ten in den wei­ten Bögen – so macht das rich­tig viel Freu­de. Und außer­dem gelang ihm noch etwas Beson­de­res: Zwei Chö­re schie­nen sich in den Keh­len der Sän­ger zu ver­ste­cken. So völ­lig ver­schie­de­nen klang das in den Chör­sät­zen einer­seits und den Cho­rä­len ande­rer­seits. Indem Breit­schaft die­sen Unter­schied aber so deut­lich mar­kier­te und gleich­zei­tig auch die Ver­bin­dung zwi­schen allen Tei­len des Wer­kes beson­ders stärk­te, erschien das nicht gera­de knap­pe Ora­to­ri­um hier wie aus einem Guss.
Das Solis­ten­quar­tett spiel­te oder sang dabei wun­der­bar mit, vor allem der kräf­ti­ge Sopran von Kaja Börd­ner und der stark aus­dif­fe­ren­zier­te Bari­ton Johan­nes Kös­ters als Pau­lus.
In der Ver­bin­dung mit den aus­ge­feil­ten Chor­pas­sa­gen und gera­de ihrer klang­li­chen Fes­tig­keit beton­te Breit­schaft damit ganz beson­ders die per­so­na­le, indi­vi­du­el­le Sei­te des Glau­ben, die Erfah­rung Got­tes. Die­se Gewiss­heit der reli­giö­sen Grund­la­ge macht das Pau­lus-Ora­to­ri­um so anrüh­rend – selbst Athe­is­ten muss so eine über­zeu­gen­de Dar­bie­tung zumin­dest Respekt ent­lo­cken.

(geschrie­ben für die main­zer rhein-zei­tung)

genies der klassik – bekannte und weniger bekannte

Genies waren sie egent­lich alle drei. Und doch hat nur Wolf­gang Ama­de­us Mozart geschafft, was Lou­is Spohr und Lui­gi Che­ru­bi­ni ver­wehrt blieb: Dau­er­haft im Bewusst­sein der Musik­lieb­ha­ber und auf den Kon­zert­po­di­en prä­sent zu sein. Sei­ne 29. Sin­fo­nie stand im vier­ten Sin­fo­nie­kon­zert des Thea­ters neben dem ein­zi­gen sin­fo­ni­schen Werk Che­ru­bi­nis, dass eher sel­ten zu hören ist. Auch Spohr ist wenn über­haupt mit Kam­mer­mu­sik zu hören – ganz bestimmt nicht mit sei­nem Con­cer­tan­te für zwei Vio­li­nen und Orches­ter. Denn wann sind schon zwei Vio­li­nis­ten von Rang bereit, sich gegen­sei­tig die Schau zu steh­len? Selbst Ingolf Tur­ban und Kol­ja Les­sing machen das nicht all­zu oft. Lei­der. Denn sie kön­nen es wahr­lich vor­treff­lich. Ihre per­fek­te, oft bei­na­he sym­bio­tisch schei­nen­de Ergän­zung in musi­ka­li­scher Hin­sicht demons­trier­ten sie im Staats­thea­ter schon vor dem ers­ten Ton – mit einer genau syn­chro­ni­sier­ten Ver­beu­gung. Und so fuh­ren sie dann auch fort. Klang­lich gelang ihnen der Spa­gat zwi­schen voll­kom­me­ner Über­ein­stim­mung und behar­ren­der Indi­vi­dua­li­tät erstaun­lich gut. Obwohl kei­ner der bei­den sei­ne eige­nen Qua­li­tä­ten ver­leug­ne­te, ergänz­ten sich Tur­bans deut­li­ches, prä­sen­tes Spiel und Les­sigs emo­tio­na­ler gefärb­te Klang­welt vor­züg­lich. Die Viel­falt der Ein­fäl­le, die immer neu­en Wen­dun­gen und nicht enden wol­len­der Mit­tei­lungs­drang Spohrs fan­den in den bei­den Solis­ten jeden­falls sehr ener­gi­sche, detail­ver­lieb­te und sorg­sa­me Für­spre­cher.
Stark war auch das Enga­ge­ment Cathe­ri­ne Rück­wardts mit dem Phil­har­mo­ni­schen Staats­or­ches­ter für Che­ru­bi­nis D‑Dur-Sin­fo­nie. Die birgt von sich aus eini­ges dra­ma­ti­sches Poten­zi­al und vie­le Gele­gen­hei­ten zum effekt­vol­len Auf­trump­fen. In sol­cher Umge­bung bewähr­te sich die ruhi­ge Hand der Diri­gen­tin ganz beson­ders. Denn Rück­wardt ließ sich nicht von der wir­kungs­mäch­ti­gen Ober­flä­che ver­füh­ren, son­dern schau­te tie­fer. Und ent­deck­te da nicht nur zau­ber­haf­te klang­li­che Bil­der, son­dern auch ein gekonnt aus­ge­ar­bei­te musi­ka­li­sche Erzäh­lung. Die­se Musik wogt im Thea­ter ganz plas­tisch hin und her, zwit­schert und plät­schert, stürmt vor­an, schreckt auch zurück, prallt sogar auf Wider­stän­de und lässt sich den­noch trei­ben, – und das alles ist auch noch in klas­si­sche For­men ver­packt: Ein typisch klas­si­ches Genie­werk eben.

(geschrie­ben für die main­zer rhein-zei­tung)

„Wie schwie­rig es doch im nach­hin­ein ist, jam­me­re ich mei­ner Schwes­ter vor, die inno­va­ti­ven Momen­te, in denen sich gesell­schaft­li­che Errun­gen­schaf­ten sonisch, näm­lich immer zuerst in der Musik ankün­di­gen, auch ihre pro­duk­ti­ven Wider­sprü­che, weni­ger retro­spek­tiv als in his­to­risch zeit­ge­nös­si­scher Per­spek­ti­ve, nach­zu­voll­zie­hen respek­ti­ven, in Anspie­lung auf mein end­lich zu rea­li­sie­ren­des Buch­pro­jekt, nar­ra­tiv zu rekonstruieren.“—Thomas Meine­cke, Musik, 34

jahresziel erreicht

ges­tern habe ich beim trai­ning die 5000-km-mar­ke über­schrit­ten (oder bes­ser gesagt über­lau­fen). damit ist mein haupt­jah­res­ziel für 2008 erreicht. trotz der ver­let­zung im mai, die mich eini­ge wochen lauf­pau­se gekos­tet hat. mein zwei­tes ziel, den sub 3:00-marathon, habe ich im okto­ber lei­der um 34 sekun­den ver­fehlt. naja, damit muss ich mir wenigs­tens kei­ne gedan­ken für das ziel im nächs­ten jahr machen – für frank­furt bin ich schon wie­der ange­mel­det. ansons­ten will ich eigent­lich weni­ger auf zeit lau­fen, son­dern eher kilo­me­ter sam­meln. und das mög­lichst kon­ti­nu­ier­lich – also ohne zwangs­pau­se. und natür­lich soll auch mein täg­li­che-lau­fen-serie wei­ter anhal­ten – da habe ich ja noch einen rekord zu kna­cken. aber bis dahin muss ich noch eini­ge kilo­me­ter unter die füße neh­men.

st. petersburg und mainz

Der Zusam­men­prall zwei­er Kul­tu­ren gilt oft als ein Zei­chen von Unheil. Das muss aber nicht unbe­dingt so sein. Gera­de in der Musik haben sich immer wie­der gro­ße Ereig­nis­se aus dem Auf­ein­an­der­tref­fen voll­kom­men unter­schied­li­cher Sti­le und Musi­ker ereig­net. Das advent­li­che Chor­kon­zert im Dom war genau so ein Fall. Im Zen­trum stand zwar der St. Peters­bur­ger Kna­ben­chor. Aber die Main­zer lie­ßen es sich nicht neh­men, den Mäd­chen­chor wenigs­tens ein biss­chen sin­gen zu las­sen. Und das war eine groß­ar­ti­ge Idee. Denn einen gro­ßen Teil sei­ner Wir­kung und Ein­drück­lich­keit zog die­se Advents­mu­sik aus die­ser Kon­fron­ta­ti­on. Hier tra­ten zwei völ­lig ver­schie­de­ne Chor­tra­di­tio­nen ins Blick­feld, zwei ganz gegen­sätz­li­che Klang­kul­tu­ren.
Den Anfang mach­te der Main­zer Mäd­chen­chor. Nicht viel war es, was sie san­gen. Aber es reich­te Kars­ten Storck, um das Niveau und die Qua­li­tät sei­nes Ensem­bles wie­der ein­mal plas­tisch bewusst zu machen. Egal, ob ver­träumt und sanft schwin­gend wie der Satz des Weih­nachts­lie­des „Maria durch ein Dorn­wald ging“ oder federnd zupa­ckend wie bei der aus­ge­wähl­ten Magni­fi­cat-Ver­to­nung: Immer bewie­sen sie vol­le Prä­senz, vor­bild­li­che Klar­heit und Ein­heit des Klang­kör­pers, der alle Struk­tu­ren klar erken­nen ließ.
Und dann der Wech­sel zu den rus­si­schen Jun­gen. Das war nicht nur ein ande­res Geschlecht, das war eine ganz ande­re Idee des Chor­klangs. Denn Trans­pa­renz und kom­po­si­to­ri­sche Struk­tu­ren waren jetzt über­haupt nicht mehr wich­tig. Jetzt ging es vor allem dar­um, den Raum mit Klang aus­zu­fül­len – ein Vor­ha­ben, das im Main­zer Dom zu sehr anre­gen­den Ergeb­nis­sen führ­te.
Alles war immer im Fluss, jeder Über­gang wur­de von Wla­di­mir Ptschol­kin so sorg­sam abge­fe­dert, dass er nahe­zu uner­kenn­bar wur­de. Es war eine schein­bar nie ver­sie­gen­de Fül­le wei­cher Klang­bil­der, die sie aus den Wer­ken vor­wie­gend rus­si­scher Kom­po­nis­ten her­aus­hol­ten. Und es war immer wie­der ver­blüf­fend, wie naht­los sie sich in den Raum schmieg­ten, wie die gar nicht so vie­len Kin­der und Jugend­li­che die Ener­gien flie­ßen lie­ßen. Einen Sie­ger gab es in die­sem Kon­zert natür­lich nicht, nur zwei völ­lig unter­schied­li­che klang­li­che Ergeb­nis­se. Aber schön waren bei­de.

(geschrie­ben für die main­zer rhein-zei­tung)

die faz sucht die idylle

und fin­det sie auf einem weih­nachts­markt in der ron­ne­burg. dumm nur, das davon gar nichts stimmt: weder mit­tel­al­ter­lich, noch fern­ab von kom­merz, noch abseits des tru­bels. dafür muss man noch nicht ein­mal da gewe­sen sein, da genügt schon das angeb­lich redak­tio­nel­le wer­be­film­chen: klick.

mit viel gefühl und genauigkeit: tschaikovskij und rachmaninov im staatstheater

Die ers­ten Töne kennt wahr­schein­lich jeder im aus­ver­kauf­ten Gro­ßen Haus des Staats­thea­ters. Tschai­kow­skijs ers­tes Kla­vier­kon­zert ist ein ewi­ger Hit, der immer für vol­le Säle sorgt. Vor allem, wenn er von einer Pia­nis­tin wie Evge­nia Rubi­no­va – auch in Mainz kei­ne unbe­kann­te Grö­ße mehr – vor­ge­tra­gen wird. Die ers­ten Töne also. Sie sind nicht nur ein Zei­chen des Wer­kes, son­dern sie zei­gen auch immer schon sehr deut­lich die Rich­tung, die die Inter­pre­ten neh­men. Im Staats­thea­ter wer­den meh­re­re Din­ge erkenn­bar. Ein­mal wird hier mit gro­ßer Genau­ig­keit und wirk­li­cher Lust am dif­fe­ren­zier­ten Klang musi­ziert. Ande­rer­seits der Klang an sich: Schon die ers­ten Töne der Pia­nis­ten zei­gen ihre geschmei­di­ge Kraft, ihre Fähig­keit, aus dem simp­len Flü­gel eine Unzahl an Klang­va­ria­tio­nen auf­stei­gen zu las­sen. Und schließ­lich die Ver­sen­kung in die Tie­fen der ima­gi­nä­ren Welt des Kla­vier­kon­zer­tes. Das sind alles alt­mo­di­sche, fast selbst­ver­ständ­li­che Tugen­den, die gera­de bei die­sem Kon­zert vie­le Musi­ker aber auf dem Altar der ober­fläch­li­chen Bril­lanz opfern. Nicht so die­ses Duo an den Tas­ten und auf dem Pult. Und das nicht aus Ver­le­gen­heit. Gera­de die bei­läu­fi­ge Non­cha­lance, mit der Rubi­no­va sich der vir­tuo­sen Pas­sa­gen ent­le­digt, zeigt ihre Fähig­kei­ten. Aber ihr geht es eben um etwas ande­res: Um die sub­ti­len Klang­fel­der und ihre viel­fäl­ti­gen Strö­mun­gen, die aus dem radi­kal nach innen gewand­ten Kampf zwi­schen Orches­ter und Solo­in­stru­ment erwach­sen. Die Genau­ig­keit, mit der sie sich dem poe­ti­schen Fein­zeich­nen hin­gibt, bringt immer wie­der erstaun­li­che Ergeb­nis­se und rich­ti­ge Ent­de­ckun­gen her­vor. So unmit­tel­bar leben­dig und andäch­tig-imit­füh­lend hört man das Seh­nen, die nie an ihre Ziel kom­men­de Suche nach Ver­hei­ßung und Erlö­sung aus der Unge­wiss­heit nur sel­ten.
Die zwei­te Kon­zert­hälf­te kehr­te die Ver­hält­nis­se voll­kom­men um. Zumin­dest was die Bekannt­heit der Musik angeht: Ser­gej Rach­ma­ni­nows „Sin­fo­ni­sche Tän­ze“, sei­ne letz­te Kom­po­si­ti­on, dürf­ten nur die wenigs­ten ken­nen – zumal das Phil­har­mo­ni­sche Staats­or­ches­ter sie hier zum ers­ten Mal spielt. Das ändert aber wenig an der Hin­ga­be, mit der Cathe­ri­ne Rück­wardt den Fluss die­ser Musik aus­brei­tet. Und es ist nicht ganz ein­fach, das zusam­men­zu­hal­ten. Aber es gelingt ihr trotz der klein­tei­lig auf­ge­lös­ten Struk­tur und der sehr abwechs­lungs­rei­chen Instru­men­ta­ti­on. Denn statt den momen­ta­nen Ner­ven­kit­zel und Ohren­schmei­che­lei­en zu erlie­gen, hält sie das kunst­vol­le Gleich­ge­wicht immer auf­recht. Und damit kommt Rach­ma­ni­now genau­so zu sei­nem Recht wie Tschai­kow­skij.
(geschrie­ben für die main­zer rhein-zei­tung)

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