Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: titus meyer

Die andere DNA der Sprache: Titus Meyers Palindrom-Roman

meyer, andere dna (cover)Kann man einen Roman als Palin­drom schrei­ben? Oder ein Palin­drom als Roman schrei­ben und lesen? Titus Mey­er ver­sucht es zumin­dest. Ande­re DNA heißt das Ergeb­nis (natür­lich selbst eines der vie­len Palin­dro­me in die­sem Palin­drom), das – wie schon sein Band mit Palin­drom-Gedich­ten – bei Rei­ne­cke & Voß erschie­nen ist. Ich habe jetzt nicht kon­trol­liert, ob das wirk­lich ein Palin­drom ist. 56 Sei­ten sind zwar für einen Roman erst ein­mal nicht viel Text, aber sehr, sehr, sehr viel, um ein Palin­drom zu über­bli­cken. Ich ver­traue da also mal Autor und Ver­lag …

Geglie­dert ist Ande­re DNA als lose Fol­ge von kur­zen Abschnit­ten (meist 1–2 Sei­ten, manch­mal auch mehr) mit so schö­nen Titeln wie „Sin­ne­ten­nis“, „Bana­le Magd“ oder „Ein­sie­de­lei“, aber auch eher gene­risch („Tod“, „Zeit“, „Moral“ zum Bei­spiel). Hier gibt es tat­säch­lich so etwas wie the­ma­ti­sche Zusam­men­hän­ge der wil­den syn­tak­ti­schen Kon­struk­tio­nen Mey­ers. Als gan­zes konn­te ich dem Buch aber weder einen kohä­ren­ten Inhalt noch ein wirk­li­ches The­ma ent­neh­men. Dar­um geht es wohl auch gar nicht. Denn mit Erzäh­len hat das hier natür­lich nichts zu tun. Es ist ja schon die Fra­ge, ob man so etwas über­haupt Schrei­ben nen­nen kann. Und wer schreibt dann hier? Der Autor oder die Regel?

Aber wahr­neh­men lässt sich trotz­dem etwas. Die Spra­che selbst, aber auch die bereits erwähn­ten Sinn­zu­sam­men­hän­ge oder Sinn­kon­struk­te, die las­sen sich also beob­ach­ten. Aber meist nur gra­nu­lar: Ein paar Sät­ze, viel mehr sind das sel­ten („Ein­sie­de­lei“ ist so ein Fall, wo das auch mal über län­ge­re Stre­cke gelingt) – dann stol­pert der Text wie­der, der Sinn löst sich in alle Rich­tun­gen auf. Ich konn­te das nur in klei­ne­ren Dosen lesen, nach ein paar weni­gen Sät­zen schon fängt der Kopf an zu schwir­ren.

Es gibt dabei durch­aus schö­ne Stel­len, wo auf ein­mal neue, gewag­te, schö­ne For­mu­lie­run­gen auf­blit­zen. Auf irgend­wel­che Zusam­men­hän­ge darf man aber wirk­lich nicht zu sehr hof­fen. Vor allem aber stell­te sich mir immer wie­der die Fra­ge: Kann man das lesen? Und: Wie liest man so etwas eigent­lich? Klas­si­sches her­me­neu­ti­sches Lesen funk­tio­niert jeden­falls über­haupt nicht, das wird ganz schnell klar. Ich habe mich dann oft beim Lesen qua­si selbst beob­ach­tet und gemerkt, wie man aus kleins­ten Hin­wei­sen Zusam­men­hän­ge, ja sogar „Geschich­ten“ kon­stru­ie­ren will. Bis man – oder eben der Text – sich wie­der bremst und sich irgend­wann ein­fach der Spra­che aus­lie­fert, auch wenn das tro­cken und wüst scheint.

Und natür­lich hat Ande­re DNA auch Momen­te einer Leis­tungs­schau nach dem Mot­to: Seht her, auch das kann „Spra­che“, das kann Lite­ra­tur (und so etwas ver­track­tes bekom­me ich als Autor hin …): Die Tech­no­lo­gi­zi­tät der Spra­che pur sozu­sa­gen als lite­ra­ri­schen Text ver­kör­pern und auf­zei­gen. Ob das aber mehr ist? Ich bin mir nicht so sicher. Etwas ande­res ist es auf jeden Fall. Und dann schwingt natür­lich auch noch ein gewis­ses kom­pe­ti­ti­ves Moment – ein so lan­ges Palin­drom gab es noch nie! – immer etwas mit. Ins­ge­samt aber habe ich das dann doch eher als pro­of of con­cept denn als mög­li­che (Weiter)Entwicklung einer zeit­ge­mä­ßen, zeit­ge­nös­si­schen Lite­ra­tur gele­sen. Aber viel­leicht habe ich dabei auch zu sehr von der Ober­flä­che ablen­ken las­sen, wer weiß …

Titus Mey­er: Ande­re DNA. Leip­zig: Rei­ne­cke & Voß 2016. 56 Sei­ten. ISBN 9783942901208.

Aus-Lese #42

Viel zu lan­ge gewar­tet mit der nächs­ten Aus-Lese, des­we­gen ist das jetzt eine Aus­le­se der Aus-Lese …

Fried­rich Fors­s­man: Wie ich Bücher gestal­te. Göt­tin­gen: Wall­stein 2015 (Ästhe­tik des Buches, 6). 79 Sei­ten.

forssman, wie ich bücher gestalte„Ein Buch ist schön, wenn die Gestal­tung zum Inhalt paßt.“ (71) – in die­sem klei­nen, harm­lo­sen Satz steckt eigent­lich schon das gesam­te gestal­te­ri­sche Cre­do Fors­s­mans (des­sen Name ich immer erst beim zwei­ten Ver­such rich­tig schrei­be …) drin. Fors­s­man, als Gestal­ter und Set­zer der Spät­wer­ke Arno Schmidts schon fast eine Legen­de, inzwi­schen auch durch die Neu­ge­stal­tung der Reclam­schen „Uni­ver­sal Biblio­thek“ in fast allen Hän­den, will in die­sem klei­nen Büch­lein – 79 Sei­ten sind nicht viel, wenn es um Buch­ge­stal­tung, Typo­gra­phie, Her­stel­lung und all das drum­her­um gehen soll – zei­gen, wie er selbst Bücher gestal­tet, das heißt, nach wel­chen Kri­te­ri­en er arbei­tet. Ein Werk­statt­be­richt soll das sein – und das ist es auch, nicht nur, weil es so aus­sieht.

Locker plau­dert er, könn­te man sagen, über die Arbeit an der Her­stel­lung eines Buches. Das betrifft letzt­lich all die Aspek­te, die über den „rei­nen“ Text als Inhalt hin­aus­ge­hen: Typo­gra­phie, Satz, For­mat, Her­stel­lung, Umschlag und vie­les mehr. Fors­s­man plau­dert, sage ich, weil er sich dezi­diert als Theo­rie-Ver­äch­ter dar­stellt. Letzt­lich sind das alles Regel- und Geschmack­fra­gen: Ein Buch ist schön, wenn es gut ist – und es ist gut, wenn es schön ist. Viel mehr steckt da eigent­lich nicht dahin­ter. Fors­s­man sieht Buch­ge­stal­tung aus­drück­lich als Kunst­hand­werk, das bestimm­ten Regeln gehorcht. Die – und den guten Geschmack bei der Beur­tei­lung ihrer Anwen­dung – lernt man, indem man ande­re Bücher der Ver­gan­gen­heit (und Gegen­wart) anschaut und stu­diert. Frei­heit und Tra­di­ti­on bzw. Regel sind die Pole, zwi­schen denen jeder Kunst­hand­wer­ker sich immer wie­der ver­or­tet. Beim Lesen klingt das oft tra­di­tio­nel­ler und lang­wei­li­ger, als Fors­manns Bücher dann sind. Das liegt wahr­schein­lich nicht zuletzt dar­an, dass er sehr stark auf eine aus­ge­feil­te und kon­se­quen­te Durch­ge­stal­tung des gesam­ten Buches Wert legt – vom Bin­dungs­leim bis zur kor­rek­ten Form der An- und Abfüh­rungs­stri­che hat er alles im Blick. Und, dar­auf weist er auch immer wie­der hin, Regel­haf­tig­keit und Tra­di­ti­on heißt ja nicht, dass alles vor­ge­ge­ben ist: Es gibt Frei­heits­gra­de, die zu nut­zen im Sin­ne einer Inter­pre­ta­ti­on des vor­lie­gen­den Tex­tes die Auf­ga­be des Buch­ge­stal­ters ist. Und dabei gilt dann doch wie­der:

Die Beweis­last liegt immer beim Ver­än­de­rer, in der Typo­gra­phie erst recht. (42)

Ili­ja Tro­ja­now: Macht und Wider­stand. Frank­furt am Main: Fischer. 479 Sei­ten.

ilija trojanow, macht und widerstandEin ganz schö­ner Bro­cken, und ein ganz schön hef­ti­ger dazu. Nicht wegen der lite­r­a­rir­schen Form, son­dern wegen des Inhalts – der ist nicht immer leicht ver­dau­lich. Es geht um Bul­ga­ri­en unter sozialistischer/​kommunistischer Herr­schaft, genau­er gesagt, um die „Arbeit“ und die Ver­bre­chen der Staats­si­cher­heit. Das erzählt Tro­ja­now auf der Grund­la­ge von Archiv­ak­ten, die zum Teil auch ihren Weg ins Buch gefun­den haben (selt­sa­mer­wei­se wer­den sie – und nur sie – in klein­schrei­bung ange­kün­digt …). Tro­ja­now kon­stru­iert eine Geschich­te aus zwei Polen – Macht und Wider­stand natür­lich – die sich in zwei Män­nern nie­der­schla­gen und recht eigent­lich, das wird ganz schnell klar, per­so­ni­fi­zie­ren. Die sind dadurch für mei­nen Geschmack manch­mal etwas ein­di­men­sio­nal gewor­den: Der eine ist eben die mehr oder weni­ger rei­ne Ver­kör­pe­rung des Prin­zipes Wider­stand, der ande­ren der Macht (bzw. des prin­zi­pi­en­lo­sen Oppor­tu­nis­mus). In abwech­seln­den Kapi­teln wech­selt auch immer die Per­spek­ti­ve ent­spre­chend. Geschickt gelingt Tro­ja­now dabei ein har­mo­ni­scher Auf­bau, der Infor­ma­tio­nen sehr har­mo­nisch und all­mäh­lich wei­ter­gibt. Sei­nen haupt­säch­li­chen Reiz zieht Macht und Wider­stand viel­leicht aber doch dar­aus, dass es sozu­sa­gen Lite­ra­tur mit Wahr­heits­an­spruch ist, den Fik­tio­na­li­täts­pakt also auf­kün­digt (und dar­an im Text durch die ein­ge­streu­ten Akten­über­set­zun­gen, die sonst für den lite­ra­ri­schen Text wenig tun, immer wie­der erin­nert). Das macht die Bewer­tung aber zugleich etwas schwie­rig: Als rein lite­ra­ri­scher Text über­zeugt es mich nicht, in sei­ner Dop­pel­funk­ti­on als Lite­ra­tur und his­to­risch-poli­ti­sche Auf­klä­rung ist es dage­gen groß­ar­tig.

John Hirst: Die kür­zes­te Geschich­te Euro­pas. Ham­burg: Atlan­tik 2015. 206 Sei­ten.

hirst, europaEine inter­es­san­te Lek­tü­re bie­tet die­se Geschich­te Euro­pas, sie ist durch­aus erfri­schend, die extre­me Ver­knap­pung. Aber halt auch immer wie­der pro­ble­ma­tisch – vie­les fehlt, vie­les ist unge­nau bis feh­ler­haft. Aber um Voll­stän­dig­keit (der behan­del­ten The­men oder der Dar­stel­lung) kann es in einer „kür­zes­ten Geschich­te“ natür­lich über­haupt nicht gehen.

Hirst geht es im ers­ten Teil – „Die kür­zes­te Ver­si­on der Geschich­te“ über­schrie­ben – vor allem um die For­mie­rung Euro­pas: Wie wur­de Euro­pa das, was es heu­te ist (oder vor weni­gen Jah­ren war)? Er stützt sich dabei vor allem auf drei Phä­no­me­ne und sie­delt das maß­geb­lich im Über­gang von Anti­ke zu Mit­tel­al­ter an: Euro­pa ist die Ver­bin­dung von der „Kul­tur des anti­ken Grie­chen­lands und Roms“, dem Chris­ten­tum und der „Kul­tur der ger­ma­ni­schen Krie­ger“. Immer wie­der betont er, dass Euro­pa als Idee und Gestalt eben maß­geb­lich eine Mischung sei. Und die ver­steht man nur, wenn man ihre Gene­se im Blick hat (das alles gilt übri­gens für ihn bis in die Jetzt­zeit – ich bin mir nicht sicher, ob er dabei nicht doch die Macht & Not­wen­dig­keit der Geschich­te über­schätzt …): Nur mit Kennt­nis die­ser Wur­zeln ver­steht man also die Gegen­wart. Er fasst sei­ne Über­le­gun­gen zum Zusam­men­wir­ken sei­ner Grund­fak­to­ren immer wie­der in schö­nen Dia­gram­men zusam­men, die dann zum Bei­spiel so aus­se­hen:

Die ers­ten Tei­le – wo es um die eigent­li­che Geschich­te und For­mie­rung Euro­pas als Euro­pa geht – sind dabei gar nicht so schlecht: Natür­lich ist das alles sehr ver­kürzt, aber übri­gens auch gut les­bar. Danach, wo es unter Über­schrif­ten wie „Ein­fäl­le und Erobe­run­gen“, „Staats­for­men“, „Kai­ser und Päps­te“ um Lini­en und Ten­den­zen der euro­päi­schen Geschich­te in Mit­tel­al­ter und Neu­zeit geht, wird es für mei­nen Geschmack aber zu epi­so­disch und auch his­to­risch oft zu unge­nau. In der Kon­zep­ti­on fehlt mir zu viel Kul­tur und Kul­tur­ge­schich­te: Hirst geht wei­test­ge­hend von klas­si­scher poli­ti­scher Geschich­te aus, ergänzt das noch um etwas Phi­lo­so­phie und ein biss­chen Reli­gi­on. Und: Hirst denkt für mei­nen Geschmack auch zu sehr in moder­nen Begrif­fen, was manch­mal zu schie­fen Bewer­tun­gen führt (übri­gens auch ande­ren bei His­to­ri­kern (immer noch) ein belieb­ter Feh­ler …)

Man­che Wer­tung und Ein­schät­zung stößt bei mir auf grö­ße­ren Wider­stand. Manch­mal aber auch ein­fa­ches hand­werk­li­ches Pfu­schen, wenn Hirst etwa Davids Zeich­nung „Schwur im Ball­haus“ unhin­ter­fragt als getreu­es Abbild einer wirk­li­chen Hand­lung am Beginn der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on liest und inter­pre­tiert (dass er den Leser sonst mit Quel­len nicht wei­ter behel­ligt, ist natür­lich dem For­mat geschul­det). Selt­sam fand ich auch sein Bild der mit­tel­al­ter­li­chen Kir­che vor Gre­gor VII und ihr Ver­hält­nis zur Poli­tik: „Ört­li­che Macht­ha­ber und die Mon­ar­chen Euro­pas hat­ten sie [die Kir­che] unter­gra­ben, schlecht­ge­macht und aus­ge­plün­dert.“ (149) – ein­deu­ti­ger kann man kaum Posi­ti­on bezie­hen …

Damit ist Hirst ins­ge­samt also sicher nicht die letz­te Auto­ri­tät zur Geschich­te Euro­pas, nichts­des­to­trotz aber durch­aus eine sti­mu­lie­ren­de Lek­tü­re. So weit wie Gus­tav Seibt, der das in der SZ ein „Meis­ter­werk der Ver­ein­fa­chung“ nann­te, wür­de ich aller­dings nicht gehen.

Roland Bar­thes: Der Eif­fel­turm. Ber­lin: Suhr­kamp 2015. 80 Sei­ten.

barthes, eiffelturmZum 100. Geburts­tag des gro­ßen Roland Bar­thes hat Suhr­kamp sei­nen klei­nen Text über den Pari­ser Eif­fel­turm in einem schön gemach­ten Büch­lein mit ergän­zen­den Fotos ver­öf­fent­licht (das bei mir aller­dings schon beim ers­ten Lesen zer­fiel …). Bar­thes unter­sucht nicht nur, was der Eif­fel­turm eigent­lich ist – näm­lich ein (annä­hernd) lee­res Zei­chen -, son­dern vor allem, was er bedeu­tet und was er mit Paris und dem Beob­ach­ter oder bes­ser Betrach­ter macht. So kon­sta­tiert er unter ande­rem, dass der Eif­fel­turm einen neu­en Blick (aus der Höhe eben) auf die Stadt als neue Natur, als mensch­li­chen Raum ermög­licht und eröff­net. Und damit ist der Eif­fel­turm für Bar­thes die Mate­ria­li­sa­ti­on des­sen, was die Lite­ra­tur im 19. Jahr­hun­dert schon längst geleis­tet hat­te, näm­lich die Ermög­li­chung, die Struk­tur der Din­ge (als „kon­kre­te Abs­trak­ti­on“) zu sehen und zu ent­zif­fern. Der beson­de­re Kniff des Eif­fel­turms besteht und dar­in, dass er – im Unter­schied zu ande­ren Tür­men und Monu­men­ten – kein Innen hat: „Den Eif­fel­turm besich­ti­gen heißt sich zu sei­nem Para­si­ten, nicht aber zu sei­nem Erfor­scher machen.“ (37), man glei­tet immer nur auf sei­ner Ober­flä­che.

Damit und durch die Eta­blie­rung eines neu­en Mate­ri­als – dem Eisen statt dem Stein – ver­kör­pert der Eif­fel­turm einen neu­en Wert – den der funk­tio­nel­len Schön­heit. Gera­de durch sei­ne Nutz­lo­sig­keit (die ihn vor sei­ner Erbau­ung so suspekt mach­te) befä­higt ihn beson­ders – weil kei­ne tat­säch­li­che Nut­zung sich mit ein­mengt -, zum Sym­bol der Stadt Paris zu wer­den: „Der Eif­fel­turm ist durch Met­ony­mie Paris gewor­den.“ (51) – und mehr noch, er ist „die unge­hemm­te Meta­pher“ über­haupt: „Blick, Objekt, Sym­bol, der Eif­fel­turm ist alles, was der Mensch in ihn hin­ein­legt.“ (63). Genau das ist es natür­lich, was ihn für den struk­tu­ra­lis­ti­schen Semio­ti­ker Bar­thes so inter­es­sant und anzie­hend macht. Und die­se Fas­zi­na­ti­on des Autors merkt man dem Text immer wie­der an.

Micha­el Fehr: Sime­li­berg. 3. Auf­la­ge. Luzern: Der gesun­de Men­schen­ver­sand 2015. 139 Sei­ten.

Grau
nass
trüb
ein Schwei­zer Wet­ter
ziem­lich ab vom Schuss (5)

fehr, simeliberg- so fängt das „Satz­ge­wit­ter“ von Micha­el Fehrs Sime­li­berg an. Die Metho­de bleibt über die fast 140 Sei­ten gleich: Die Sät­ze der har­ten, schwei­ze­risch gefärb­ten Pro­sa wer­den durch ihre Anord­nung der Lyrik ange­nä­hert (das typo­gra­phi­sche Dis­po­si­tiv ist sogar ganz unver­fälscht das der Lyrik), statt Satz­zei­chen benutzt Fehr Zei­len­um­brü­che. Die­se zei­len­wei­se Iso­lie­rung von Satz­tei­len und Teil­sät­zen ver­leiht dem Text nicht nur eine eigen­ar­ti­ge Gestalt, son­dern auch ein ganz eige­nes Lese­er­leb­nis: Das ist im Kern „ech­te“ Pro­sa, die durch ihre Anord­nung aber leicht wird, den Boden unter den Füßen ver­liert, ihre Fes­tig­keit und Sicher­heit (auch im Bedeu­ten und Mei­nen) auf­ge­ge­ben hat: Sicher im Sin­ne von unver­rückt und wahr ist hier kaum etwas, die Form lässt alles offen. Dabei ist die erzähl­te Geschich­te in ihrem Kri­mi­ch­a­rak­ter (der frei­lich kei­ne „Auf­lö­sung“ erfährt) bei­na­he harm­los: Ein abge­le­ge­ner Hof, selt­sa­me Todes­fäl­le, eine gigan­ti­sche Explo­si­on, eine Unter­su­chung, die Kon­fron­ta­ti­on von Dorf und Stadt, von Ein­hei­mi­schen und Zuge­zo­ge­nen. Genau wie die Geschich­te bleibt alles im Unge­fäh­ren, im Düs­te­ren und Schlam­mi­gen – die Figu­ren sind Schat­ten­ris­se, ihre Moti­va­ti­on wie ihre Spra­che bruch­stück­haft. Und genau wie die Men­schen (fast) alle selt­sa­me Son­der­lin­ge sind, ist auch der Text son­der­bar – aber eben son­der­bar fas­zi­nie­rend, viel­leicht gera­de durch sei­ne Här­te und die abgrün­di­ge Dun­kel­heit, die er aus­strahlt. Und die Fehr weder mil­dern will noch kann durch eine „ange­neh­me­re“, das heißt den Leser­er­war­tun­gen mehr ent­spre­chen­de, Erzähl­wei­se.

Hans-Jost Frey: Hen­ri­ci. Solo­thurn: Urs Enge­ler 2014. 84 Sei­ten.

frey, henriciAuch wie­der ein net­tes, sym­pa­thi­sches Büch­lein: In über 60 kur­zen Geschich­ten, Anek­do­ten, Skiz­zen hin­ter­fragt Hen­ri­ci (den man sich wohl als alter ego des Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lers Frey vor­stel­len darf) den All­tag der Gegen­wart, unser Tun und unser Spre­chen. Das ist ein­fach schön ver­spielt, ver­liebt ins Spie­len, genau­er gesagt, ins Wort­spiel: Durch das spie­le­ri­sche Arbei­ten mit gedan­ken­los geäu­ßer­ten Wor­ten und Sät­zen, mit Gemein­plät­zen, hin­sicht­lich ihres Klan­ges und ihrer Seman­tik bringt Frey immer wie­der die Bedeu­tun­gen zum Tan­zen. Das sind oft oder sogar über­wie­gend gar kei­ne welt­ver­än­dern­den Beob­ach­tun­gen, die die­se Minia­tu­ren erzäh­len. Aber sie haben die Kraft, das All­täg­li­che, das Nor­ma­le, das man immer wie­der als Gege­ben unhin­ter­fragt ein­fach so hin­nimmt und wei­ter­führt, für die Beob­ach­tung und Inspek­ti­on zu öff­nen: Denn im spie­le­ri­schen Ver­dre­hen der Wor­te zeigt Frey immer wie­der, was die eigent­lich leis­ten (kön­nen), wenn man sie nicht bloß unbe­dacht äußert, son­dern auch in bana­len Situa­tio­nen auf ihre Mög­lich­kei­ten und Bedeu­tun­gen abklopft – da kommt Erstaun­li­ches, oft aus­ge­spro­chen Komi­sches dabei her­aus. Eine sehr sym­pa­thi­sche (und leicht zugäng­li­che) Art des (Sprach)Philosophierens …

Titus Mey­er: Mei­ner Buch­sta­be­neu­ter Milch­wucht­ord­nung. Leip­zig: Rei­ne­cke & Voß 2015. 84 Sei­ten.

Zu die­sem ganz wun­der­ba­ren Büch­lein mit dem zau­ber­haf­ten Titel Mei­ner Buch­sta­be­neu­ter Milch­wucht­ord­nung von Titus Mey­er, das vol­ler fas­zi­nie­rend artis­ti­scher Sprach­kunst­wer­ke steckt, habe ich schon vor eini­ger Zeit ein paar Sät­ze ver­lo­ren: klick.

Wolf­gang Herrn­dorf: Bil­der dei­ner gro­ßen Lie­be. Ein unvoll­ende­ter Roman. Her­aus­ge­ge­ben von Kath­rin Pas­sig und Mar­cus Gärt­ner. RM Buch und Medi­en 2015. 141 Sei­ten.

herrndorf, bilder deiner großen liebeBil­der dei­ner gro­ßen Lie­be ist ein unver­öf­fent­lich­tes und auch unfer­ti­ges Manu­skript aus dem Nach­lass Wolf­gang Herrn­dorfs, das Kath­rin Pas­sig und Mar­cus Gärt­ner (die mit Herrn­dorf eng bekannt/​befreundet waren) zur Ver­öf­fent­li­chung „arran­giert“ haben. Denn das vor­han­de­ne Text­ma­te­ri­al setzt an ver­schie­de­nen Stel­len des geplan­ten Romans an und ist auch unter­schied­lich stark aus­ge­ar­bei­tet. Das merkt man auch beim Lesen – eini­ges passt (etwa chro­no­lo­gisch und topo­gra­phisch) nicht zusam­men, an eini­gen Stel­len bre­chen Epi­so­den mit Stich­wor­ten oder Halb­sät­zen ab. Trotz­dem liest man eben Herrn­dorf: Wie­der eine Art Road-Novel, dies­mal von der „ver­rück­ten“ Isa auf ihrem Weg durch das Land berich­tend, wobei sie eini­ge span­nen­de Begeg­nun­gen erlebt. Ein sehr bun­ter, etwas chao­ti­scher und deut­lich unfer­ti­ger Text – ich bin mir nicht sicher, ob Herrn­dorf damit ein Gefal­len getan wur­de, das noch zu ver­öf­fent­li­chen. Sicher, das ist nett zu lesen. Aber in die­ser Form ist es eben über­haupt nicht auf der Ebe­ne, auf der Herrn­dorfs ande­re Tex­te ange­sie­delt sind. Für Herrn­dorf-Fans sicher ein Muss, die ande­ren kön­nen das ohne gro­ßen Ver­lust aus­las­sen.

Ver­rückt sein heißt ja auch nur, dass man ver­rückt ist, und nicht bescheu­ert. (7)

außer­dem noch gele­sen:

  • Iris Hanika: Wie der Müll geord­net wird. Graz, Wien: Dro­schl 2015. 298 Sei­ten.
  • Ulri­ke Almut San­dig: Grimm. Gedich­te. Nach den Kin­der- und Haus­mär­chen von Jacob und Wil­helm Grimm, hg. von Bri­git­te Labs-Ehlert. Det­mold: Wege durch das Land 2015 (Wege durch das Land 23). 32 Sei­ten.
  • Urs Faes: Und Ruth. Frank­furt am Main, Wien, Zürich: Bücher­gil­de Guten­berg 2001 [Suhr­kamp 2001]. 181 Sei­ten.
  • Moni­que Schwit­ter: Eins im Andern. 5. Auf­la­ge. Graz: Dro­schl 2015. 232 Sei­ten.
  • Tho­mas Mel­le: Raum­for­de­rung. Erzäh­lun­gen. Frank­furt am Main: Suhr­kamp 2007. 200 Sei­ten.
  • Man­fred Mit­ter­may­er: Tho­mas Bern­hard. Eine Bio­gra­fie. Wien: Resi­denz Ver­lag 2015. 452 Sei­ten.
  • Peter Stamm: Nacht ist der Tag. Frank­furt am Main: Fischer Taschen­buch Ver­lag 2014. 253 Sei­ten.
  • Sig­mar Scholl­ak: Nar­ren­rei­se. Hal­le: Mit­tel­deut­scher Ver­lag 2015. 159 Sei­ten.
  • Sabi­ne Scholl: Wir sind die Früch­te des Zorns. Zürich: Seces­si­on Ver­lag für Lite­ra­tur 2013. 288 Sei­ten.
  • Anke Stel­ling: Boden­tie­fe Fens­ter. 4. Auf­la­ge. Ber­lin: Ver­bre­cher 2015. 249 Sei­ten.
  • Gun­nar Gun­n­ars­son: Advent im Hoch­ge­bir­ge. Erzäh­lung. Stutt­gart: Reclam 2006. 103 Sei­ten.
  • Hans Joa­chim Schäd­lich: Ver­such­te Nähe. Pro­sa. Rein­bek: Rowohl 1992.

Der wundersame Wort- und Buchstabendreher Titus Meyer

meyer, meiner buchstabeneuter milchwuchtordnungDas ist mal ein Buch, das mir wirk­lich so man­che Nuss zu kna­cken gege­ben hat: Mei­ner Buch­sta­be­neu­ter Milch­wucht­ord­nung von Titus Mey­er, erschie­nen im rüh­ri­gen klei­nen Ver­lag Rei­ne­cke & Voß, des­sen Pro­gramm lau­ter so absei­ti­ge Kost­bar­kei­ten ent­hält (und der mir freund­li­cher­wei­se ein Rezen­si­ons­exem­plar zur Ver­fü­gung gestellt hat). Sel­ten war (und bin) ich mir so andau­ernd unklar, wie ich zu den hier ver­sam­mel­ten Tex­ten ste­he. Und das ist zunächst mal ein sehr gutes Zei­chen – heißt es doch, dass die Tex­te anre­gen: zum Den­ken, zum Prü­fen, zum Über­le­gen und auch zum Kno­beln. Denn alle Tex­te in Mei­ner Buch­sta­be­neu­ter Milch­wucht­ord­nung beru­hen auf einer palin­dro­mi­schen und/​oder ana­gram­ma­ti­schen Struk­tur. Und die muss man (wenn man will, gnä­di­ger­wei­se gibt der Band auch eine „Auf­lö­sung“ an) erst ein­mal ent­schlüs­seln, um das zugrun­de­le­gen­de Form­prin­zip zu erken­nen und zu ver­ste­hen.

Zu einem Ende bin ich damit immer noch nicht gekom­men, wei­ter­hin habe ich eigent­lich kei­ne wirk­li­che Posi­ti­on: auf der einen Sei­te steht die Bewun­de­rung ob der Kunst­fer­tig­keit und die Begeis­te­rung am Rät­seln. Auf der ande­ren Sei­te aber auch viel Rat­lo­sig­keit, weil ich (mich) oft nicht so recht ent­schei­den kann, ob die Gedich­te wirk­lich für sich allein ste­hen kön­nen oder doch nur ein Bei­spiel für abs­trak­te Form­über­le­gun­gen und ‑spie­le­rei­en sind. Viel­leicht ist das falsch gedacht, aber wenn ich ihre Pro­duk­ti­ons­be­son­der­hei­ten und damit aber auch ihre for­ma­le Bedingt­heit pro­be­wei­se außen vor las­se, sind mir vie­le Tex­te auch nach mehr­ma­li­gem Lesen noch fremd: Ich fin­de kei­nen Ansatz­punkt, der mir eine Annä­he­rung ermög­licht. Ande­re zün­den sofort, machen Spaß oder öff­nen neue Per­spek­ti­ven – tun also genau das, was ich mir von Gedich­ten erhof­fe.

Also doch alles wie bei einem gewöhn­li­chen Lyrik­band? Durch­aus (auch der Titel ist ja durch­aus vor­stell­bar) – aber schon der Ver­gleich ist ja wie­der­um eigent­lich falsch. Denn was ist denn so außer­ge­wöhn­lich an Mey­ers Wer­ken? Doch eigent­lich nur die Sel­ten­heit und Kon­se­quenz ihrer for­ma­len Gestalt und deren Ent­ste­hung, die in gro­ßen Tei­len aktu­el­ler Lyrik so nicht vor­kom­met. Und schon gar nicht so offen­ge­legt vor­kommt: Denn Mey­er gibt im Inhalts­ver­zeich­nis zu jedem Text das Bau- & Form­prin­zip an, mit dem Ver­weis auf sein Ord­nungs­sche­ma legt der Dich­ter sozu­sa­gen sei­ne Werk­statt bloß und macht damit auch deut­lich, dass sei­ne Tex­te immer eine dezi­dier­te Form haben (und hat mir in eini­gen Fäl­len über­haupt erst ver­ra­ten, wie der Text funk­tio­niert …). Das ist viel­leicht der größ­te Unter­schied zu manch ande­rer aktu­el­ler Lyrik, die sich um for­ma­le Momen­te wenig bis gar nicht küm­mert (mit Aus­nah­me von rhyth­mi­schen und klang­li­chen Aspek­ten even­tu­ell) oder aus ande­ren Grün­den auf gewöhn­li­che­re, tra­di­tio­nel­le­re Momen­te setzt. Was Mey­er aber davon abge­se­hen auf jeden Fall aus­zeich­net, ist der Umstand, dass sei­ne Lyrik ihre Schrift­lich­keit kon­se­quent ernst nimmt, sie fast schon zele­briert, den Buch­sta­ben (und manch­mal auch grö­ße­re Enti­tä­ten wie etwa Sil­ben) als für sich ste­hen­de Wer­te in der und für die Lyrik ins Zen­trum rückt. Von Buch­sta­ben-Palin­dro­men über Zei­len-Buch­sta­ben-Palin­dro­me, Sator-Qua­drat und das ver­rück­te Ver­ti­kal­pa­lin­drom (bei dem der Text nach einer 180°-Drehung den glei­chen Text gibt!) über Sil­ben- & Wort-Palin­dro­me zu Ana­gramm­ge­dich­ten, Pan­gramm­ge­dich­ten (mit allen Buch­sta­ben des Alpha­bets) und Schüt­tel­rei­men reicht die Band­brei­te der kon­struk­ti­vis­ti­schen Gedich­te (wenn ich die mal vor­über­ge­hend so nen­nen mag) bei Mey­er denn auch – man kann Mei­ner Buch­sta­be­neu­ter Milch­wucht­ord­nung denn auch durch­aus als Kom­pe­di­um der sel­te­nen For­men lesen.

Mons­trum, dies auf­grund
see­lischs­ter Meis­ten ver­gas­te
Zaum­tier Palin­drom.April­mond (die Schluss­ver­se)

Viel­leicht zei­gen Mey­ers Tex­te aber doch mehr als nur den kunst­fer­ti­gen Umgang mit Spra­che, der eine gewis­se arti­fi­zi­el­le Freu­de am ver­track­ten Rät­sel­haf­tig­keit mei­nes Erach­tens nicht ver­ber­gen kann. Viel­leicht geht es hier auch um die Negie­rung oder bes­ser noch, die Zer­stö­rung von Sin­n­erwar­tun­gen: Man könn­te viel­leicht sagen, erst sol­che Gedich­te sind der Free Jazz der Lyrik, denn sel­ten (na gut, Dada funk­tio­niert auf die­ser Ebe­ne ähn­lich) bis gar nicht wird die Mate­ria­li­tät der Spra­che der Lyrik so radi­kal gedacht und umge­setzt. Viel­leicht kommt ja daher mei­ne initia­le „Unzu­frie­den­heit“ (blö­des Wort, viel zu viel …) mit vie­len Tex­ten – weil sie ein­fach sind, was und wie sie sind und nicht irgend­was ver­mit­teln, erzäh­len, zei­gen, bewei­sen sol­len und wol­len – und dar­an schei­tert dann mein kryp­to-her­me­neu­ti­sches Lesen zumin­dest beim ers­ten Durch­gang regel­mä­ßig, es stol­pert sozu­sa­gen beim Gang auf der „Her­me­neu­tik­trep­pe“ (um einen der schö­nen Mey­er­schen Neo­lo­gis­men zu ver­wen­den). Aber das macht gar nichts: Denn ers­tens ist das ein guter Anlass, mal wie­der über Lek­tü­re­er­war­tun­gen und Lese­tech­ni­ken nach­zu­den­ken und ande­re Her­an­ge­hens­wei­sen zu pro­ben, und zwei­tens zeigt es eben, dass Lite­ra­tur mehr sein kann als nur sinn­haf­tes Erzäh­len oder Beschrei­ben in Pro­sa oder Lyrik (und dann sogar rich­tig gut wird). Gut, das ist natür­lich über­haupt kei­ne neue Beob­ach­tung und gera­de in zeit­ge­nös­si­scher Lyrik merkt man das auch an ande­ren Stel­len – aber eben nicht so wie bei Mey­er, der das Lesen auf sei­ne Form viel stär­ker zurück­wirft als ande­re Autorin­nen das ver­mö­gen.

Der Ver­gleich mit dem Free Jazz passt viel­leicht auch inso­fern, als aus die­sen Gedich­ten immer wie­der eine gro­ße Frei­heit spricht. Das ist natür­lich para­dox: Frei­heit in einer künst­li­chen, stren­gen Form – aber gera­de sie ist es, die sie ermög­licht, weil sie das Sinn­dik­tat ein­fach auf­hebt. Auch wenn ich das in mei­ner Lek­tü­re sehr stark mache, heißt das aber auch nicht, dass die Mey­er­sche Lyrik voll­kom­men sinn­be­freit ist. Mit etwas Spür­sinn und Krea­ti­vi­tät kann man hier durch­aus fas­zi­nie­ren­de Zusam­men­hän­ge fin­den (ganz egal, ob die vom Autor inten­diert oder gese­hen wur­den …) – nicht immer gelingt das für gan­ze Gedich­te, aber doch für ein­zel­ne Wort- und Vers­grup­pen. Dann kom­men aber wie­der Brü­che, „ent­täusch­te“ Erwar­tun­gen, Wider­sprü­che und Kon­fron­ta­tio­nen ins Spiel. Und in die­sem Zusam­men­spiel aus stren­ger (nach­ge­ra­de mathe­ma­ti­scher) Kon­struk­ti­on und Inko­hä­ren­zen auf allen Sin­ne­be­nen ist das Lyrik, die unbe­dingt heu­tig, aktu­ell ist.

Und noch ein Gedan­ke, der beim Lesen in die­sem Band immer wie­der kommt: Spra­che ist eine Wun­der­tü­te. Und das ist natür­lich ein Punkt, für den ich mich immer wie­der neu begeis­tern kann … Mey­er löst Spra­che wie nur wenig Lite­ra­tin­nen aus dem Kor­sett der All­tags­ver­wen­dung und ihrer „nor­ma­len“ Bedeu­tung: Das ist ja immer die Krux für Sprach­ar­bei­ter, dass ihr Medi­um und Mate­ri­al so nor­mal, so all­täg­lich ist (und des­halb so wenig kunst­voll – aus­wei­chen nur im „Stil“) – oder es wird schnell sehr fremd (Joy­ce oder Schmidt zum Bei­spiel, selbst dem in die­ser Hin­sicht viel harm­lo­se­ren Jirgl wird das immer wie­der vor­ge­hal­ten). Mei­ner Buch­sta­be­neu­ter Milch­wucht­ord­nung ist auch in ande­rer Hin­sicht eine sprach­li­che Wun­der­tü­te – und dar­an zeigt sich viel­leicht erst die Meis­ter­schaft Mey­ers: Auch wenn die Kon­struk­ti­ons­prin­zi­pi­en gleich oder ähn­lich sind, so haben doch alle dar­aus resul­tie­ren­den Gedich­te ihren eige­nen Ton, ihr eige­nes Set­ting, ihren spe­zi­el­len Klang, ihren indi­vi­du­el­len Stil von ver­spiel­ten Clow­ne­rei­en bis zu düs­te­ren Nach­denk­lich­kei­ten.

Auf jeden Fall kann ich nur raten, das unbe­dingt selbst aus­zu­pro­bie­ren – weni­ge Lek­tü­ren sind so anre­gend im eigent­li­chen Sin­ne. Mei­ner Buch­sta­be­neu­ter Milch­wucht­ord­nung ist fas­zi­nie­rend und schön, streng und ver­spielt, spa­ßig und tief­sin­nig. Und damit ist es ein­fach ein gutes Buch, denn es nötigt der Lese­rin viel Akti­vi­tät ab: Das kann man nicht ein­fach so weg­kon­su­mie­ren, hier muss man mit­ar­bei­ten. Aber auch: Hier darf und kann man das! Und sicher ist auch: Mey­ers Tex­te bie­ten vie­le Mög­lich­kei­ten, eige­ne Zugän­ge zu fin­den, über die kon­struk­ti­ve Schär­fe natür­lich, aber auch über das Moment der Klang­lich­keit und der sprach­li­chen Raf­fi­nes­se über­haupt, aber auch für Wort­bil­dungs­fans gibt es hier ganz tol­le Ent­de­ckun­gen (der Titel ver­weist ja schon dar­auf, dar­über allei­ne – der Schluss­vers aus „Wurm­loch­dich­tung“ – lie­ße sich noch aus­gie­big nach­den­ken …) zu machen – da ist für (fast) jeden etwas dabei …

Staats­examens­angst?
Staat, Sex, Amen sangst
du Rabe. Leben?
Dura­bel eben!18

Titus Mey­er: Mei­ner Buch­sta­be­neu­ter Milch­wucht­ord­nung. Leip­zig: Rei­ne­cke & Voß 2015. 83 Sei­ten. ISBN 9783942901154.

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