Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

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Hineingehört #3

Nichts als Hoffnung (aber immerhin)

Tindersticks, No Treasure but Hope (Cover)Ein neu­es Tin­der­sticks-Album ist ja schon ein Ereig­nis. Auch das fast mys­tisch schwe­ben­de und leich­te No Tre­asu­re but Hope fällt in die Kate­go­rie. Dabei ist es fast unge­wöhn­lich für ein Tin­der­stick-Album, weil vie­les (nicht alles aber) etwas hel­ler und freund­li­cher ist als auf älte­ren Ver­öf­fent­li­chun­gen. Natür­lich bleibt Stuart Stap­les Stuart Stap­les, aber er klingt hier deut­lich welt­zu­ge­wand­ter, ja sogar freund­li­cher und locker(er), nicht mehr so ange­strengt, schwer, gequält wie auf frü­he­ren Alben. Dabei bleibt die Musik irgend­wie schon noch zwi­sch­ne der Lei­der­schaft von Nick Cave und der Ver­zweif­lung von Leo­nard Cohen ange­sie­delt.

Ins­ge­samt wirkt das auf mich – nach den ers­ten paar Durch­gän­gen – aller­dings etwas fla­cher: Das ist mir oft zu aus­ge­feilt, klang­lich zu detail­ver­liebt, fast prä­ten­ti­ös. Da fehlt mir dann doch etwas Unmit­tel­bar­keit – und damit genau jene Qua­li­tät, die mich an frü­he­ren Alben stark in den Bann gezo­gen hat: Die emo­tio­na­le Stär­ke, die Unmit­tel­bar­keit der Gefüh­le, die die (älte­re) Musik immer wie­der (und immer noch, das funk­tio­niert auch nach Jah­ren des wie­der­hol­ten Hörens noch, ich habe es gera­de aus­pro­biert – und das zeigt die wah­re Grö­ße die­ser Musik) aus­zeich­net, das fehlt mir hier. Viel­leicht – das ist frei­lich nur eine Ver­mu­tung – sind Tin­der­stick ein­fach zu gut gewor­den. Das ist aber wahr­schein­lich Blöd­sinn, auch die letz­ten Alben waren ja schon aus­ge­zeich­net pro­du­ziert.

Hier schlägt aber wohl doch stär­ker der Kunst­wil­le durch. Und dafür sind die For­ma­te der Pop­songs dann aber doch wie­der zu kon­ven­tio­nell und des­halb zu schwach, das bleibt dann manch­mal etwas schram­mel­ing-mit­tel­mä­ßig. Das heißt nun aber über­haupt nicht, dass No tre­asu­re but hope schlecht sei. Auch hier gibt es wun­der­ba­re Momen­te und schö­ne, erfül­len­de Lie­der. „Trees fall“ zum Bei­spiel, oder „Carou­sel“ mit der typi­schen Tin­der­stick-Stim­mung, der melan­cho­lisch­ne Grun­die­rung. Und auch „See my Girls“ hat dann doch wie­der sehr dring­li­che, inten­si­ve Momen­te (und eine schö­ne Gitar­re). Das titel­ge­ben­de „No tre­asu­re but hope“ ist in der sehr redu­zier­ten Kon­zen­tra­ti­on auf Kla­vier und Gesang durch­aus ein klei­nes kam­mer­mu­si­ka­li­sches, inti­mes Meis­ter­werk – und ein­fach schön.

Tin­der­sticks: No Tre­asu­re but Hope. Lucky Dog/​City Slang 2019. Slang 50236.

Verspieltes Klavier

Stefan Aeby, Piano Solo (Cover)Ste­fan Aebys ers­te Solo­auf­nah­me (soweit ich sehe zumin­dest), im letz­ten Jahr bei Intakt erschie­nen. Das ist, mehr noch als die Trio­auf­nah­men, im Gan­zen oft sehr ver­spielt, aber ins­ge­samt vor allem sehr har­mo­nisch: kla­re Struk­tu­ren und kla­re Tona­li­tä­ten bestim­men den Gesamt­ein­druck.

Beson­ders wird Pia­no solo aber vor allem durch den Kla­vier­klang, das ist viel­leicht, zusam­men mit sei­ner klang­li­chen Ima­gi­na­ti­ons­kraft, Aebys größ­ter Stär­ke. Denn der ist viel­schich­tig und fein­sin­nig, mit gro­ßem Nuan­cen­reich­tum. Hier kommt nun noch dazu, dass das Kla­vier von Aeby im Stu­dio – er hat das wohl voll­stän­dig allei­ne auf­ge­nom­men – teil­wei­se ver­frem­det, ergänzt und bear­bei­tet wur­de.

Vie­les ist dann auch – wie erwar­tet – sehr schön. Aber vie­les ist auch nicht beson­ders über­wäl­ti­gend: So rich­tig umge­haut hat mich eigent­lich nichts. Das ist soli­de, durch­aus mit inspier­ten und inspie­ren­den Momen­ten, über­haupt kei­ne Fra­ge. Mir scheint es aber ins­ge­se­amt einen Ticken zu banal, einen Tick zu flach in der oft unge­bro­che­nen Schön­heit, in der Suche nach Har­mo­nie und Wohl­klang. Dabei gibt es dann auf Pia­no solo auch vie­le Klang­ef­fek­te. Die machen das aber manch­mal – und teil­wei­se sogar über wei­te­re Stre­cken – etwas arg künst­lich für mei­nen Geschmack („Dance on a Cloud“ wäre dafür ein Bei­spiel). „Fling­ga“ dage­gen ist dann aber wie­der her­aus­ra­gend: da kann sein run­der, wei­cher, abge­stimm­ter Ton sich voll ent­fal­ten.

Die Idee, den Kla­vier­klang nicht allei­ne zu las­sen, ihn auf­zu­pep­pen, zu erwei­tern, zu ver­frem­den, ist ja ganz schön und nett. Aber das Ergeb­nis oder bes­ser die Ergeb­nis­se über­zeu­gen mich nicht immer voll­ends. Vor allem scheint mir die klang­li­che Erwei­te­rung oder Ver­frem­dung nicht immer aus­rei­chend musi­ka­lisch begrün­det und zwin­gend. Zumin­dest wur­de mir das beim Hören nicht ent­spre­chend klar. Und dann bleibt es halt vor allem eine (tech­ni­sche) Spie­le­rei. Trotz alle­dem ist Pia­no solo aber den­noch eine defi­ni­tiv schö­ne, über­zeu­gen­de Auf­nah­me mit ein­neh­men­den Klang­bil­dern.

Ste­fan Aeby: Pia­no solo. Intakt Records 2019. Intakt CD 332.

Die Winterreise als Gruppenwanderung

Schubert, Winterreise (Cover)Das ist Schu­berts Win­ter­rei­se – und auch wie­der nicht. Denn sie ist – teil­wei­se – für Streich­quar­tett tran­skri­biert und mit Inter­mez­zi ver­se­hen von Andre­as Höricht.

Die Idee scheint ja erst ein­mal ganz viel­ver­spre­chend: Die Win­ter­rei­se – bzw. ihre „wich­tigs­ten“ (das heißt vor allem: die bekann­tes­ten) Lie­der – auf die Musik zu redu­zie­ren, zum Kern vor­zu­sto­ßen, den Text zu sub­li­mie­ren. Das Ergeb­nis ist aber nicht mehr ganz so viel­ver­spre­chend. Die Inter­mez­zi, die zwar viel mit Schu­bert­schen Moti­ven spie­len und ver­su­chen, die Stimmung(en) auf­zu­grei­fen, sind ins­ge­samt dann doch eher über­flüs­sig. Und die Lie­der selbst: Nun ja, bei mir läuft men­tal dann doch immer der Text mit. Und es gibt durch­aus schö­ne Momen­te, wo das Kon­zept auf­zu­ge­hen scheint. Im gan­zen bleibt mir das aber zu wenig: Da fehlt zu viel. Selbst eher mit­tel­mä­ßi­ge Inter­pre­ta­tio­nen haben heu­te ein Niveau, das mehr an Emo­ti­on und Ein­druck, mehr Inhalt und Struk­tur ver­mit­telt als es die­se Ver­si­on beim Voy­a­ger-Quar­tett tut. Als beken­nen­der Win­ter­rei­se-Fan und ‑Samm­ler darf das bei mir natür­lich nicht feh­len. Ich gehe aber stark davon aus, dass ich in Zukunft eher zu einer gesun­ge­nen Inter­pre­ta­ti­on grei­fen wer­de …

Franz Schu­bert: Win­ter­rei­se for string quar­tet. Voy­a­ger Quar­tet. Solo Musi­ca 2020. SM 335.

Dreifache Freiheit

Kaufmann/Gratkowski/de Joode, Oblengths (Cover)Sowohl Kauf­mann als auch Grat­kow­ski sind Impro­vi­sa­to­ren, deren Arbeit ich immer ver­su­che im Blick zu haben. Sie ver­kör­pern näm­lich eine Form der impro­vi­sier­ten Musik oder des frei­en Jazz (oder wie immer man das genau klas­si­fi­zie­ren mag), die ver­schie­de­ne Aspek­te ver­eint und zusam­men­bringt: Sie sind Künst­ler, die viel am und mit dem Klang arbei­ten (gera­de bei Achim Kauf­mann fällt mir das immer wie­der auf, wie klang­stark er das Kla­vier zu spie­len weiß) und zugleich im frei­en Impro­vi­sie­ren und Zusan­men­spiel Struk­tu­ren ent­ste­hen las­sen kön­nen, die das Hören span­nend und über­ra­schungs­voll machen. Das gilt auch für ihre Zusam­men­ar­beit mit Wil­bert de Joo­de, die auf Oblengths doku­men­tiert ist. Auf­ge­nom­men wur­de ein Aben im Janu­ar 2014 im Köl­ner Loft, ver­öf­fent­licht hat es das immer wie­der und immer noch groß­ar­ti­ge Label Leo Records.

Das bes­te an die­ser Auf­nah­me ist die Kom­bi­na­ti­on von glei­chen oder ähn­li­cher Musi­zer­wei­sen der drei Trio­part­ner und der immer wie­der über­ra­schen­den Viel­falt an kon­kre­ten klang­li­chen Ereig­nis­sen, die dar­aus ent­ste­hen. Da ist schon viel Geknar­ze, Gerum­pel, Krat­zen und Fie­pen. Aber auch viel Wohl­klang: Oblengths, das ist eine der gro­ßen Stär­ken die­ses Tri­os, war­tet mit einer unge­wohn­ten Band­brei­te vom Geräusch bis zum har­mo­ni­schen Drei­klang und klas­sisch gebau­ten Melo­dien oder Moti­ven auf. Man merkt beim Hören aber eben auch unmit­tel­bar, dass das hier kein Selbst­zweck ist, son­dern ein­ge­setzt wird, um Zusam­men­hän­ge her­zu­stel­len und umfas­sen­de­ren Aus­druck zu ermög­li­chen. Dazu passt auch, dass der Klang­raum ein wirk­lich wei­tes Reper­toire umfasst und auch im lei­sen, ver­ein­zel­ten, sogar im stil­len Moment noch sehr aus­dif­fe­ren­ziert ist. Ich wür­de nicht sagen, dass das Trio erzählt – aber irgend­wie erge­ben sich dann doch so etwas wie Geschich­ten, Abfol­gen von Momen­ten, die zusam­men­ge­hö­ren und eine gemein­sa­me Struk­tur haben.

Achim Kauf­mann, Frank Grat­kow­ski, Wil­bert de Joo­de: Oblengths. Leo Records 2016. CD LR 748.

Aus-Lese #45

Rein­hard Jirgl: Oben das Feu­er, unten der Berg. Mün­chen: Han­ser 2016. 288 Sei­ten.

–Sie wur­den gebo­ren, arbei­te­ten, und sie star­ben. Wäre Leben so=einfach so=kurz wie die­ser Satz, Leben, wäre gewiß glück­vol­ler. Leben aber dau­ert län­ger als 1 Satz. (31)

jirgl, oben das feuerOben das Feu­er, unten der Berg – an dem Buch ist nicht nur der Titel selt­sam und rät­sel­haft. Ich bin ja eigent­lich ein gro­ßer Bewun­de­rer der Wer­ke Rein­hard Jirgls, aber mit die­sem Roman kann ich wenig bis gar nichts anfan­gen. Das, was von einer Geschich­te übrig ist, ist rät­sel­haft, schwankt zwi­schen Kri­mi und Ver­schwö­rungs­theo­rie, Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung und Ver­bit­te­rung. Die auf­tau­chen­den Figu­ren sind eigent­lich lau­ter kaput­te Men­schen. Oder: Sie wer­den kaputt gemacht, durch das „Sys­tem“, die Macht oder ähn­li­che Instan­zen. Die grau­sa­me Bru­ta­li­tät der Welt, der Macht und der Mäch­ti­gen, die die Moral nur als Deck­man­tel und Beru­hi­gung fürs Volk (wenn über­haupt) haben, benut­zen – den gan­zen Text durch­dringt eine sehr schwar­ze, pes­si­mis­ti­sche Welt­sicht. So weit, so gut (oder auch nicht, aber das ist ja erst mal egal). Frag­wür­dig bleibt mir aber doch ein­fach vie­les. Auf dem Schutz­um­schlag steht etwa: „Titel, Text­vo­lu­men und Rei­hen­fol­ge der Kapi­tel im Roman sind von dem alt­chi­ne­si­schen Ora­kel I‑Ging bestimmt.“ – Zum einen: was soll das? Ich habe kei­ne Ahnung … Zum ande­ren: Ich bezweif­le fast, dass das über­haupt stimmt …

In den fas­zi­nie­ren­den, genau­en, poe­ti­schen (d.i. lyri­schen) Beschrei­bun­gen, ja, der gera­de­zu über­bor­den­den Beschrei­bungs­ge­nau­ig­keit liegt viel­leicht die größ­te Stär­ke des Romans, auch durch die Spe­zi­al­or­tho­gra­fie, die näm­lich Mög­lich­kei­ten und Deu­tun­gen der Spra­che ver­deut­li­chen, ver­eindeu­ti­gen oder über­haupt erst eröff­nen kann. Auf der ande­ren Sei­te hat­te ich oft den Ein­druck eines „ver­wil­der­ten“ Text, der sich von sich selbst trei­ben lässt und der im Zick­zack-Kreis des Erzäh­lens „der“ Geschich­te kei­ne wie auch immer gear­te­te Ord­nung gel­ten lässt (zumin­dest kei­ne, die ich erken­nen könn­te). Selt­sam fin­de ich auch: Eigent­lich pas­siert das meis­te des Romans auf pri­va­ter, ja inti­mer Ebe­ne. Aber dann will der Roman doch die ganz gro­ßen The­men behan­deln (z.B. die Macht und die Moral) – das pas­siert dann (damit es jeder merkt) v.a./nur durch das neun­mal­klu­ge Dozie­ren der Figu­ren, in deren Erkennt­nis­sen, in deren Durch­schau­en der Welt und der Ver­schwö­run­gen) sich der Erzäh­ler (und viel­leicht auch der Autor) zu allem und jedem äußern kann, sei­ne Posi­ti­on als wah­re absi­chern und mit­tei­len kann.

?Wo in all­die­ser unermeßlichen=Unendlichkeit blieb eigent­lich ?mein Web­fa­den, ?meine=!ureigene Spur, die mich etwas Unver­wech­sel­ba­res in die­ses uner­schöpf­li­che Lebens­wisch­ha­der­ge­filz hät­te hin1prägen las­sen. (230)

Danie­la Danz: Lan­ge Fluch­ten. Göt­tin­gen: Wall­stein 2016. 146 Sei­ten.
Zu dem sehr gelun­gen klei­nen Roman von Danie­la Danz – die übri­gens auch vor­treff­li­che Lyrik schreibt – habe ich vor eini­gen Tagen schon etwas geschrie­ben: Lan­ge Fluch­ten, gebro­che­ne Men­schen.
Wil­helm Leh­mann: Ein Lese­buch. Aus­ge­wähl­te Lyrik und Pro­sa. Her­aus­ge­ge­ben von Uwe Pörk­sen, Jut­ta Johann­sen und Hein­rich Dete­ring. Göt­tin­gen: Wall­stein 2011. 160 Sei­ten.

lehmann, lesebuchAuf Wil­helm Leh­mann bin ich erst durch die zwei­te Aus­ga­be des Gel­ben Akro­ba­ten von Micha­el Braun und Micha­el Busel­mei­er auf­merk­sam gewor­den. Leh­mann, der von bis vor allem an der Küs­te leb­te, war als Leh­rer sowohl ein aus­ge­zeich­ne­ter Natur­be­ob­ach­ter als auch ein star­ker Dich­ter, wie ich anhand des Lese­buchs leicht fest­stel­len konn­te. Dort bie­ten die drei Her­aus­ge­ber eine Aus­wahl aus der mehr­bän­di­gen Werk­aus­ga­be: (viel) Lyrik, etwas aus den Tage­bü­chern, eini­ge Aus­zü­ge aus theoretischen/​poetologischen Essays und ein wenig Pro­sa. Inwie­weit das ein reprä­sen­ta­ti­ves Bild abgibt, kann ich nicht beur­tei­len. Sagen kann ich nur, dass das, was ich hier gele­sen habe, fas­zi­nie­ren­de Momen­te hat. Die mich am meis­ten berüh­ren­den Tex­te und Pas­sa­gen waren wohl die, wo sich der peni­ble und wis­sen­de Natur­be­ob­ach­ter mit dem bild­kräf­ti­gen Lyri­ker ver­bin­det.

Aus vie­len der Natur­be­schrei­bun­gen der Gedich­te spricht eine lei­se Weh­mut: Die Natur ist für Leh­mann ganz offen­bar ein Ort, an dem die göttliche/​geschöpfte/​schöpferische Ord­nung noch gilt und dann auch zu beob­ach­ten ist; sie bleibt vom Cha­os, der Gewalt und dem Schmerz der Men­schen (den sich die Men­schen gegen­sei­tig (und ihr) zufü­gen) unbe­rührt. Sol­che Lyrik ist, wie er es in einem Auf­satz ein­mal auf den Punkt bringt: „Poe­sie als Ein­wil­li­gung in das Sein“.

Gera­de in der Zeit des Zwei­ten Welt­krie­ges scheint sich das aber zu ändern: Zuneh­mend wer­den Natur und Menschenwelt/​Zeitgeschichte im Gedicht kon­fron­tiert, meist neben­ein­an­der gestellt (sozu­sa­gen ohne ter­ti­um com­pa­ra­tio­nis): Hier die gleich­för­mi­ge (im Sin­ne von in einem fes­ten Rhyth­mus sich wie­der­ho­len­de), ver­trau­te (d.h. auch: les­ba­re, ent­schlüs­sel­ba­re, ver­steh­ba­re) Natur, dort der uner­hör­te Schre­cken, das unge­se­he­ne und unge­ahn­te Grau­en des Welt­kriegs. Das bleibt aber immer sehr sub­til und – gera­de in den Beschrei­bun­gen und Schil­de­run­gen – sehr kunst­voll, in fein aus­ta­rier­ten Rhyth­men und mit oft sehr har­mo­nisch, fast selbst­ver­ständ­lich wir­ken­den Rei­men aus­ge­ar­bei­tet. Am bes­ten ver­deut­licht das viel­leicht ein Gedicht wie „Fal­len­de Welt“:

Das Schwei­gen wur­de
Sich selbst zu schwer:
Als Kuckuck fliegt sei­ne Stim­me umher.

Mit bron­ze­nen Füßen
Lan­det er an,
Gefleck­tes Kleid
Hat er ange­tan.

Die lose Welt,
Wird sie bald fal­len?
Da hört sie den Kuckuck
Im Grun­de schal­len.

Mit schnel­len Rufen
Ruft er sie fest.
Nun dau­ert sie
Den Zei­ten­rest.

Sabi­ne Bergk: Gils­brod. Novel­le. Ber­lin: Dittrich 2012. 132 Sei­ten.

bergk, gilsbrod (cover)Der Ver­lag nennt die auf der Opern­büh­ne spie­len­de Novel­le von Sabi­ne Bergk „Über­trei­bungs­li­te­ra­tur”. Das stimmt natür­lich, trifft den Kern des vor allem phan­tas­ti­schen und absur­den Tex­tes aber nur halb. Gils­brod ist eine Ein-Satz-Novel­le mit 130 Sei­ten unge­bro­che­nem stream of con­scious­ness. Das ist natür­lich nicht völ­lig neu, spon­tan fällt mir aus letz­ter Zeit etwa Xaver Bay­ers Wenn die Kin­der Stei­ne ins Was­ser wer­fen (2011) ein, das ähn­lich funk­tio­niert. Hier, also in Gils­brod, lesen wir das Bewusst­sein einer Opern­souf­fleu­se, die im ent­schei­den­den Moment der Thea­ter­di­va nicht aus­hilft und sie des­halb in eine impro­vi­sier­te Kadenz auf dem fal­schen Text treibt. Ein Ende hat der Text nicht, er bricht ein­fach ab. Bis dahin ist er aber dicht und unter­halt­sam, phan­tas­tisch und absurd, trau­rig und komisch zugleich. Oder zumin­dest abwech­selnd. Den natür­lich lässt sich so ein Bewusst­sein hin und her trei­ben, das ist eine hef­ti­ge Mischung von Ver­gan­gen­hei­ten und Gegen­war­ten, Rea­li­tä­ten und Träu­men, Wün­schen und Ängs­ten, geschich­tet und über­la­gert, auch mit Ver­sio­nen der (pseudo-)Erinnerung ver­se­hen, der sei­ne Ebe­nen im krei­sen­den Wie­der­ho­len her­aus­kris­tal­li­siert.

Das funk­tio­niert recht gut, weil die Spre­che­rin aus der Posi­ti­on des unsichtbaren/​unscheinbaren Beob­ach­ters, der Souf­fleu­se, agiert. In der Pri­vat­my­tho­lo­gie wird der die­nend-unter­stüt­zen­de Hilfs­dienst die­ser Funk­ti­on für das Thea­ter, genau­er: die Oper, zur mys­ti­schen Erfah­rung hoch­sti­li­siert, zum erfül­len­den Lebens­traum. Es wird aber durch­aus auf geschick­te und unter­grün­di­ge, aber erkenn­ba­re Wei­se auch die eige­ne Posi­ti­on reflek­tiert, zum Bei­spiel im Ver­lust der Rest-Sicht­bar­keit durch den mit­ti­gen Souf­fleur­kas­ten und die Ver­ban­nung auf die Sei­ten­büh­ne, die nicht glei­cher­ma­ßen Teil der Auf­füh­rung ist: dort unter­hal­ten sich Tech­ni­ker und war­ten­de Sän­ger wäh­rend der Oper … Zugleich zu die­ser wahr­ge­nom­me­nen Mar­gi­na­li­sie­rung – im Kon­trast dazu und zu den Erin­ne­run­gen der prä­fi­gu­rie­ren­den Demü­ti­gun­gen der Schul­zeit (die sehr selt­sam als eine Art Kreu­zi­gung am Rut­schen­ge­rüst erin­nert wer­den, mit Lan­ze und Essig und allem drum­her­um …) ist der Bewuss­st­seins­strom aber auch die Kon­struk­ti­on einer tota­len Macht­po­si­ti­on: von ihr ist alles, ins­be­son­de­re eben die Diva Gils­brod abhän­gig – und damit das gan­ze Thea­ter, die Stadt, das Publi­kum: „mir gehört der Text“ (39).

Der Text ist aber nicht ohne Dra­ma­tur­gie gebaut, zum Bei­spiel ver­schrän­ken und ver­mi­schen sich die diver­sen Zei­ten und Ebe­nen immer mehr. Auch das „Vor­drin­gen“ in die Figur „Gils­brod“ wird geschickt zei­chen­haft genutzt: Es beginnt an der Gren­ze zwi­schen außen und innen des Kör­pers, den Zäh­nen der Sän­ge­rin, und dringt über den Mund­raum immer wei­ter vor/​hinein …

Im Grun­de ist Gils­brod eine gro­ße Rache­phan­ta­sie, die ja auch zu kei­nem Ende kommt: der Bewusst­seins­strom bricht in der gro­ßen (fal­schen!) Kadenz der Gils­brod ab, das „non so d’amarti“ ver­dich­tet sich, bis zu einer Art Man­tra – wenn man das hin­zu­zieht, könn­te es natür­lich auch eine (unbe­wuss­te) Lie­bes­phan­ta­sie sein: „Ich weiß nicht, dass ich dich lie­be“ …

[…] und des­halb gehen die Leu­te ja ins Thea­ter, weil sie nicht allei­ne lachen wol­len und sonst die ande­ren den­ken, sie wären ver­rückt, wie sol­len sie auch lachen, wenn sie nie­man­den zum Lachen haben, und so blei­ben sie lie­ber allein in ihrem Kum­mer, dabei ist es viel bes­ser, gemein­sam zu wei­nen und die Leu­te gehen ja ins Thea­ter, damit sie gemein­sam lachen und auch wei­nen kön­nen, wie auf der Beer­di­gung, sie beer­di­gen ihren Kum­mer im Thea­ter und beer­di­gen sich selbst, vor­zei­tig, sie beer­di­gen sich gegen­sei­tig und beer­di­gen alles, was ist, sie beer­di­gen die Lan­ge­wei­le, das Leben und die Hoff­nung der Figu­ren, die Flug­ver­su­che und die Wet­ter­wech­sel, sie beer­di­gen das Licht hin­ter den Vor­hang­de­cken wie zum Schlaf und zum Abschluss gibt es rau­schen­den Applaus und nie­mand denkt, dass sie ver­rückt sind, auch wenn alle nach vor­ne star­ren […] (69)
Titus Mey­er: Ande­re DNA. Leip­zig: Rei­ne­cke & Voß 2016. 56 Sei­ten. ISBN 978−3−942901−20−8.

Ein gan­zer Roman als Palin­drom, ein Palin­drom als Roman – geht das? Ein paar mei­ner Lek­tü­re­be­ob­ach­tun­gen zu die­ser Fra­ge und ande­ren, die mich beim Lesen von Mey­ers Husa­ren­stück beweg­ten, habe ich schon vor eini­gen Tagen hier notiert.

Chris­ti­an Broe­cking: Die­ses unbän­di­ge Gefühl der Frei­heit. Irè­ne Schwei­zer – Jazz, Avant­gar­de, Poli­tik. Die auto­ri­sier­te Bio­gra­fie. Ber­lin: Broe­cking Ver­lag 2016. 479 Sei­ten. ISBN 9783938763438.

broecking, schweizer-biografie (cover)Eine gro­ße – und außer­dem auch noch auto­ri­sier­te – Bio­gra­fie der gro­ßen Jazz­pia­nis­tin Irè­ne Schwei­zer woll­te Chris­ti­an Broe­cking (den ich vor allem als Autor/​Interviewpartner sei­ner bei­den Respect-Bän­de ken­ne) hier wohl vor­le­gen. Raus­ge­kom­men ist ein müh­sa­mer Bro­cken. Den Broe­cking schreibt auf den immer­hin fast 500 Sei­ten viel­leicht (gefühlt zumin­dest) ein Dut­zend Sät­ze selbst. Die­se Bio­gra­fie ist näm­lich gar kei­ne, es gibt kei­nen Erzäh­ler und eigent­lich auch kei­nen Autor. An deren Stel­len tre­ten (fast) nur Quel­len, das heißt Zeit­zeu­gen, deren Aus­sa­gen zu und über Irè­ne Schwei­zer aus Inter­views hier grob sor­tiert wur­den und höchs­tens mit ein­zel­nen Sät­zen not­dürf­tig zusam­men­ge­flickt wer­den. Der doku­men­ta­ri­sche Anspruch – die ande­ren also ein­fach erzäh­len zu las­sen (aber auch die Fra­gen strei­chen, was manch­mal selt­sa­me „Tex­te“ ergibt) – geht dann auch so weit, dass eng­lisch­spra­chi­ge Ant­wor­ten nicht über­setzt wer­den. Viel Mate­ri­al wird also mehr oder weni­ger sinn­voll gereiht. Nach her­kömm­li­chen Maß­stä­ben ist das eher die Samm­lung, die Vor­ar­beit zu einer eigent­li­chen Bio­gra­fie, die das (ein-)ordnend und deu­tend erzäh­len wür­de.

Dadurch ist das vor allem eine Arbeits­bio­gra­phie und/​oder ein Musik­ta­ge­buch: Wer wann mit wem wo gespielt hat, das gibt den Rah­men für die Lebens­be­schrei­bung ab. Aber selbst das geht mit der Zeit und den Sei­ten der unend­li­chen Rei­hen von Kon­stel­la­tio­nen und Orten zuneh­mend unter, weil es ein­fach zu viel ist. Men­schen kom­men kaum/​nicht vor, nur Funk­tio­nen: Musi­ker, Künst­ler, Orga­ni­sa­to­ren, Label­chefs und (weni­ge) Jour­na­lis­te) – des­halb bie­tet das Buch auch nur Innen­sich­ten aus dem Umfeld Schwei­zers. Und Broe­cking hilft durch sei­ne Abwe­sen­heit als Autor eben auch nicht: Einen außenstehenden/​neutralen (oder wenigs­tens pseu­do-objek­ti­ven) Beob­ach­ter kann der Text nicht auf­wei­sen. Ich den­ke, dar­aus rüh­ren dann auch ande­re Schwä­chen. Vie­les bleibt ein­fach ohne Erklä­rung. Und wenn ich kei­ne Erklä­rung bekom­me, brau­che ich auch kei­ne Bio­gra­fie …

Zum Bei­spiel wird die Grö­ße Schwei­zers zwar immer wie­der beschwo­ren, sie bleibt dabei aber aus­ge­spro­chen unklar, ohne Kon­tu­ren und ohne Grund. Das liegt viel­leicht auch dar­an, dass die Musik in den (sowie­so äußerst knap­pen) Beschrei­bun­gen (Ana­ly­sen kom­men mit Aus­nah­me des zehn­sei­ti­gen Anhangs „Jungle Beats“ von Oli­ver Senn & Toni Bech­told, der anhand exem­pla­risch aus­ge­wähl­ter Auf­nah­men Schwei­zers Musik, ihren Per­so­nal­stil beschreibt, fast über­haupt nicht vor) selbst so gene­risch bleibt: frei impro­vi­siert, dann wird mal die­ser Ein­fluss (Cecil Tay­lor etwa) her­vor­ge­ho­ben, dann mal der jener betont (Monk etwa). Und immer wie­der wird von den Inter­view­ten dar­auf hin­ge­wie­sen, dass sie kei­ne Noten mag. Aber was sie wie spielt, kann man halt nicht so recht lesen, nur in ver­streu­ten Hin­wei­sen und Andeu­tun­gen (die auch eher ihre Prä­senz und Ener­gie auf der Büh­ne betref­fen). Auch die aus­ge­wähl­ten Zita­te aus Kri­ti­ken und Pres­se­be­rich­ten blei­ben erschre­ckend gene­risch. Ähn­lich ist es um die poli­ti­sche Dimen­si­on des Lebens von Irè­ne Schwei­zer und ihrer Musik bestellt: Bei­des wird vor allem behaup­tet („die­se Musik ist poli­tisch“), aber wie und war­um, das steht nir­gends, das wird nicht erklärt (und gera­de da wür­de es (für mich) span­nend wer­den …). Das alles führt dazu, dass mich die Lek­tü­re etwas unbe­frie­digt zurück­ge­las­sen hat: Sicher kommt man um die­sen Band kaum her­um, wenn man sich mit Schwei­zer und/​oder ihrer Musik befasst. Aber Ant­wor­ten kann er kaum geben.

Ian Bostridge: Schu­berts Win­ter­rei­se. Lie­der von Lie­be und Schmerz. Mün­chen: Beck 2015. 405 Sei­ten. ISBN 978−3−406−68248−3.
Mei­ne Ein­drü­cke von Ian Bostridges gro­ßem, umfas­sen­den Buch über die Schu­bert­sche Win­ter­rei­se haben einen eige­nen Ein­trag bekom­men, und zwar hier: klick.

außer­dem gele­sen:

  • Katha­ri­na Rög­g­la: Cri­ti­cal Whiten­ess Stu­dies und ihre poli­ti­schen Hand­lungsmö­lich­kei­ten für Wei­ße Anti­ras­sis­tIn­nen. Wien: man­del­baum kri­tik & uto­pie 2012 (Intro. Eine Ein­füh­rung). 131 Sei­ten.
  • Sel­ma Meer­baum-Eisin­ger: Blü­ten­le­se. Gedich­te. Stutt­gart: Reclam 2013. 136 Sei­ten.
  • Moni­ka Rinck: Wir. Phä­no­me­ne im Plu­ral. Ber­lin: Ver­lags­haus Ber­lin 2015 (Edi­ti­on Poe­ti­con 10).

Über Lieder von Liebe und Schmerz: Ian Bostridge erklärt Schuberts Winterreise

Es ist nicht mehr als ein klei­ner Aus­schnitt der fort­dau­ern­den Erkun­dung des kom­ple­xen und schö­nen Net­zes von Bedeu­tun­gen – musi­ka­li­sche und lite­ra­ri­sche, tex­tu­el­le und meta­tex­tu­el­le –, inner­halb des­sen die Win­ter­rei­se ihren Zau­ber her­vor­bringt.S. 396

bostridge, schuberts winterreise (cover)– Mit die­sem Schluss endet der bri­ti­sche Tenor Ian Bostridge (übri­gens ein aus­ge­bil­de­ter His­to­ri­ker) sein gro­ßes, fas­zi­nie­ren­des und in sei­ner berei­chern­den Klug­heit aus­ge­spro­chen lesens­wer­tes Buch über Schu­berts Win­ter­rei­se. Aber es ist ein Satz, der das, was auf den knapp vier­hun­dert Sei­ten zuvor pas­siert ist, sehr gut auf den Punkt bringt. Lie­der von Lie­be und Schmerz hat der deut­sche Ver­lag Bostridges Buch im Unter­ti­tel benannt. Das eng­li­sche Ori­gi­nal fin­de ich pas­sen­der: Ana­to­my of an Obses­si­on. Denn bei­des, das sezie­ren­de Unter­su­chen als auch die obses­si­ve Beschäf­ti­gung mit dem Kunst­werk, bringt das Ver­hält­nis von Bostridge zur Win­ter­rei­se sehr gut auf den Punkt. Und bei­des, die Ana­ly­se und die emo­tio­na­le Bin­dung, merkt man dem Text eigent­lich auf jeder Sei­te an: Jede Sei­te die­ses groß­ar­ti­gen Buches, das Lied für Lied die Win­ter­rei­se unter die Lupe nimmt, lässt die obses­si­ve Lie­be und die jahr­zehn­te­lan­ge Beschäf­ti­gung mit Musik und Text, mit Dich­ter und Kom­po­nist, mit Hin­ter­grün­den und Bedeu­tun­gen spü­ren.

Lied für Lied – die­se Glie­de­rung greift das gut gemach­te (ich habe – abge­se­hen von der prin­zi­pi­ell etwas unsin­ni­gen Über­set­zung eng­li­scher Über­set­zun­gen deut­scher Tex­te – nur einen Über­set­zungs­feh­ler bemerkt – der ist aller­dings etwas pein­lich, weil er das eng­li­sche b‑minor mit b‑moll statt h‑moll über­setzt und auf der sel­ben Sei­te auch noch rich­tig vor­kommt …) und schön aus­ge­stat­te­te Buch auch äußer­lich auf. Bostridge folgt damit zwar der Dra­ma­tur­gie Schu­berts (die ja, wie er mehr­fach dar­legt, von der Rei­hen­fol­ge Mül­lers abweicht), gestat­tet sich aber auch Frei­hei­ten: Man­che Kapi­tel sind auf­fal­lend kurz, ande­re etwas aus­schwei­fend. Man­che bie­ten eine sehr kon­zen­trier­te Ana­ly­se von Text und Musik, ande­re lie­fern vor allem geschicht­li­che, poli­ti­sche, wirt­schaft­li­che, sozio­lo­gi­sche Hin­ter­grün­de. Wie er prin­zi­pi­el­le Beob­ach­tun­gen und Anmer­kun­gen über die ein­zel­nen Lied­ka­pi­tel ver­teilt, das ist sehr geschickt. Die sind dadurch näm­lich immer mehr als blo­ße Kom­men­ta­re oder Erläu­te­run­gen, das Buch wird nicht zu einer seri­ell-sche­ma­ti­schen Ana­ly­se, son­dern zu einem gro­ßen Gan­zen: Alles in allem ist das eine groß­ar­ti­ge Samm­lung von Wis­sen aus allen Berei­chen zu den 1820er Jah­ren. Da liegt aber auch schon eines der Pro­ble­me, die ich damit hat­te (neben der meist feh­len­den Refe­ren­zie­rung des ange­sam­mel­ten Wis­sens): Bei Bostridge wer­den die 1820er in Tech­nik, Öko­no­mie, Gesell­schaft und Poli­tik zu einem frü­hen Höhe­punkt der Moder­ni­sie­rung. Ich bin mir nicht so recht sicher, ob das stimmt (und ob es hilf­reich wäre). Für ein end­gül­ti­ges Urteil fehlt mir da frei­lich etwas Wis­sen, mir schei­nen die­se Jah­re aber doch mehr Durch­gang als Gip­fel zu sein.

Ein ande­rer Punkt, bei dem ich Bostridge immer wie­der wider­spre­chen möch­te, ist die Iro­nie. Die fin­det er in der Win­ter­rei­se näm­lich wesent­lich häu­fi­ger und stär­ker als ich das immer nach­voll­zie­hen kann. Ähn­lich geht es mir mit der poli­ti­schen Dimen­si­on von Text und Musik. In bei­den Fäl­len möch­te ich Bostridges Deu­tun­gen gar nicht von vorn­her­ein ver­wer­fen, sie schei­nen mir in die­sen Aspek­ten aber etwas über­spitzt. Deut­lich wird das etwa bei sei­nen Aus­füh­run­gen zum „Köh­ler“, der (bzw. des­sen Hüt­te, er selbst ja gera­de nicht) in der Win­ter­rei­se genau ein­mal vor­kommt: Das kann man als mög­li­che poli­ti­sche Chif­fre lesen, so zwin­gend, wie Bostridge das dar­stellt, ist die­se Les­art aber mei­nes Erach­tens nicht. Über­haupt hat mich sei­ne poli­ti­sche Les­art vie­ler Lie­der (bzw. eigent­lich nur ihrer Tex­te, in die­sem Deu­tungs­zu­sam­men­hang spielt die Musik kei­ne Rol­le) nicht so sehr befrie­digt, zumal sie ja doch erstaun­lich indif­fe­rent bleibt. Ähn­lich ist es übri­gens um Schu­bert selbst hier bestellt: Zum einen wird er als poli­ti­scher Künst­ler, der extrem unter den har­ten Bedin­gun­gen der vor­märz­li­chen Zen­sur litt, dar­ge­stellt. Zugleich ist er für Bostridge aber auch ein Kom­po­nist, der ganz unbe­dingt ein Ide­al des rei­nen, tran­szen­den­ten Künst­ler­tums ver­folgt – zwei Les­ar­ten, die hier fast naht­los inein­an­der über­ge­hen, die ich aber nicht so recht zusam­men bekom­me.

Das alles macht aber wenig bis nicht. Denn Bostridge zu lesen, ja eigent­lich: zu schmö­kern, ist auf jeden Fall ein gro­ßer Gewinn. Zumal das Buch auch, ich sag­te es schon, ein­fach schön ist und auch mit Abbil­dun­gen nicht geizt. Scha­de fand ich aller­dings, um das Lob gleich wie­der ein biss­chen ein­zu­schrän­ken, dass Bostridge so wenig über die Musik und ihre Details spricht. Mein Ein­druck war da, dass die­ses Ele­ment in der Fül­le der Zugän­ge und Mate­ria­li­en, die er zur Win­ter­rei­se zusam­men­ge­tra­gen hat, etwas unter­geht. Von einem Sän­ger hät­te ich mir gera­de auf die­sem Gebiet mehr musi­ko­lo­gi­sche Ana­ly­se und Beschrei­bung gewünscht. Aber das wäre dann viel­leicht ein ande­res Buch gewor­den.

Es ist näm­lich wirk­lich selt­sam mit die­sem Buch: Als Gan­zes fin­de ich es immer noch ziem­lich groß­ar­tig, es ist ein (über)reiches Buch, das dem Ver­ständ­nis der Win­ter­rei­se auf jeden Fall in gro­ßem Maße dient und das Hören (oder Musi­zie­ren) unge­mein berei­chern kann. Im Detail fin­de ich aber vie­les frag­wür­dig und wür­de oft wider­spre­chen. Ein paar klei­ne, fast will­kür­li­che Bei­spie­le: Den Natio­nal­so­zia­lis­mus und den Zwei­ten Welt­krieg aus einer typisch deut­schen „roman­ti­schen Todes­be­ses­sen­heit“ (118) zu erklä­ren wol­len – das ist ein­fach Quatsch. Oder wenn ein Fer­ma­ten­zei­chen zu einem „alles­se­hen­den Auge“ (178) wird. Manch­mal ist es auch vor allem eine gro­ße Fleiß­leis­tung, wenn er etwa zum „Früh­lings­traum“ über meh­re­re Sei­ten das Vor­kom­men von Eis­blu­men in der Kunst- und Lite­ra­tur­ge­schich­te refe­riert, was aber weder mit Mül­ler noch mit Schu­bert in Ver­bin­dung steht. Da erschließt sich mir dann nicht so ganz der Zweck, den das für eine Ana­ly­se oder Inter­pre­ta­ti­on die­ses Kunst­wer­kes haben soll.

Aber: Die Welt von Schu­berts Win­ter­rei­se kann der über­aus gebil­de­te Bostridge mit sei­nem gesam­mel­tem Wis­sen und sei­nen genau­en, viel­fäl­ti­gen, empha­ti­schen Beob­ach­tun­gen eben doch ganz toll ent­fal­ten und wun­der­bar ver­mit­teln. Es ist übri­gens kein Ver­se­hen, wenn ich von Schu­berts Win­ter­rei­se sprach: Der Schwer­punkt sei­ner Betrach­tun­gen liegt auf Schu­bert und sei­ner Musik, auch wenn der Text und sein Autor, Wil­helm Mül­ler, nicht ganz außen vor blei­ben. Auch die Rezep­ti­on der Win­ter­rei­se wird nicht ver­ges­sen. Und sei­ne inti­me Ver­traut­heit en detail & en gros mit dem Werk sowie sei­ne dop­pel­te Auto­ri­tät als aus­üben­der Sän­ger und for­schen­der His­to­ri­ker tun dem Buch sehr gut: Er weiß, wovon er redet. Und nach der Lek­tü­re sei­ne Buches weiß man auch, was man da eigent­lich hört (oder: hören kann!), wenn man der Win­ter­rei­se lauscht.

Ian Bostridge: Schu­berts Win­ter­rei­se. Lie­der von Lie­be und Schmerz. 2. Auf­la­ge. Mün­chen: Beck 2015. 405 Sei­ten. ISBN 978−3−406−68248−3.

Ins Netz gegangen (18.11.)

Ins Netz gegan­gen am 18.11.:

  • SCHUBERT online – Die Öster­rei­chi­sche Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten hat mehr als 1000 hand­schrift­li­che und gedruck­te Quel­len Franz Schu­berts ins Inter­net gestellt:

    Die Online-Daten­bank www.schubert-online.at ent­hält digi­ta­le Repro­duk­tio­nen von mehr als 500 Noten­au­to­gra­phen und mehr als 600 Erst- und Früh­dru­cken der Wer­ke Franz Schu­berts. Hin­zu kom­men Digi­ta­li­sa­te von Brief­au­to­gra­phen und Lebens­do­ku­men­ten.

    dum­mer­wei­se haben die digi­ta­li­sa­te ziem­lich fet­te was­ser­zei­chen, die in den par­ti­tu­ren ganz schön stö­rend auf­fal­len

  • Doping im Ama­teur­sport: Der fal­sche Tri­umph | ZEIT ONLINE – »Dass Ärz­te Doping­prä­pa­ra­te ver­ord­nen, ist ein wach­sen­des Phä­no­men.« Die „Zeit“ über Doping bei Ama­teur­sport­lern
  • Ter­ror­an­schlä­ge: Mehr Über­wa­chung ist ver­ständ­lich – und trotz­dem falsch | ZEIT ONLINE – sehr guter & rich­ti­ger kom­men­tar von eike kühl – das kann man leider/​anscheinend gar nicht oft genug sagen
  • Bar­thes Stu­dies – punkt­ge­nau zum 100. geburts­tag eine neue open-acces-zeit­schrift zu/​über bar­thes: An open-access jour­nal for rese­arch in Eng­lish on the work of Roland Bar­thes
  • Der Codex Lau­re­s­ha­men­sis – der „codex lau­re­s­ha­men­sis“ (lor­scher codex) ist online – nicht nur als fak­si­mi­le, son­dern auch als digi­tal auf­be­rei­te­te edi­ti­on mit über­set­zung – sieht sehr gut aus

Aus-Lese #32

Jan Keupp, Jörg Schwarz: Kon­stanz 1414–1418. Eine Stadt und ihr Kon­zil. Darm­stadt: Wis­sen­schaft­li­che Buch­ge­sell­schaft 2013. 213 Sei­ten.

keupp-schwarz_konstanzEine – vor allem im ers­ten Teil von Jörg Schwarz – sehr gut zu lesen­de Dar­stel­lung für Nicht-Exper­ten des spä­ten Mit­tel­al­ters. Die ers­te Hälf­te befasst sich mit dem eigent­li­chen Kon­zil, der Auf­lö­sung des gro­ßen abend­län­di­schen Schis­mas, bei dem aus drei Päps­ten wie­der einer wur­de und neben­bei unter ande­rem noch Jan Hus ver­brannt wur­de. Das ist soli­de gemacht, geht aber natur­ge­mäß nicht all­zu sehr in die Tie­fe. Im zwei­ten Teil geht es dann in der Dar­stel­lung von Jan Keupp um Kon­stanz selbst: Die Stadt, ihre Bür­ger, ihre Poli­tik, ihre Wirt­schaft. Das franst dann ein biss­chen aus, der The­men­strauß wird arg bunt und es wirkt etwas ober­fläch­lich und zufäl­lig, die stär­ke­re Kohä­renz des ers­ten Teils wird nicht mehr erreicht. Das ist weni­ger ein Pro­blem von Keupp, auch wenn er nicht ganz so ein guter Erzäh­ler ist wie Schwarz (der manch­mal frei­lich arg sug­ges­tiv schreibt), son­dern eines der Sache – die ist ein­fach so viel­fäl­tig, dass sie nur durch den Ort der Über­lie­fe­rung – Kon­stanz eben – zusam­men­ge­hal­ten wird. Durch reich­hal­ti­ge Quel­len­zi­ta­te (meist über­setzt), vor allem aus den Rats- und Gerichts­ak­ten, wird das recht leben­dig. Lei­der ist aber über­haupt kein Zitat nach­ge­wie­sen – das fin­de ich dann doch immer scha­de, weil es die Benutz­bar­keit natür­lich enorm ein­schränkt.

Pierre Ber­taux: Höl­der­lin und die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on. Frank­furt am Main: Suhr­kamp 1969. 188 Sei­ten.

bertaux, hölderlinEin Klas­si­ker der Höl­der­lin-For­schung, der zu sei­ner Zeit, bei sei­nem ers­ten Erschei­nen, ziem­lich für Auf­ruhr sorg­te. Denn Ber­taux geht es dar­um, zu zei­gen, dass Höl­der­lin Jako­bi­ner – also Anhän­ger der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on war – und, das ist das wich­ti­ge an sei­nem Buch, dass sich das auch in der Dich­tung Höl­der­lins nie­der­schlägt. Den ers­ten Punkt kann ich gut nach­voll­zie­hen, beim zwei­ten wird es schwie­rig, da scheint mir Ber­taux‘ Lek­tü­re von Höl­der­lins Lyrik als ver­schlüs­sel­ter Code, der sei­ne poli­ti­sche Bot­schaft ver­steckt, zu ein­sei­tig und etwas übers Ziel hin­aus zu schie­ßen. Letzt­lich steht aber auch recht wenig zu kon­kre­ten Wer­ken Höl­der­lins drin – dafür ent­wi­ckelt Ber­taux mit viel Mühe ein brei­tes Pan­ora­ma der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on und vor allem ihrer Rezep­ti­on in Deutsch­land und beson­ders in Tübin­gen und Schwa­ben, das weit, sehr, sehr weit über Höl­der­lin hin­aus geht, aber ande­rer­seits zum kon­kre­ten Gegen­stand der Unter­su­chung eben auch nur bedingt etwas bei­trägt.

Wor­auf es ankam, war, an einem Bei­spiel zu zei­gen, daß die »poli­ti­sche« Inter­pre­ta­ti­on der Dich­tung Höl­der­lins auch – und nicht zuletzt – einen gül­ti­gen Bei­trag zu einem bes­se­ren Ver­ständ­nis leis­ten kann und die­se Dich­tung wie­der auf­le­ben läßt in ihrer Aktua­li­tät, als lau­fen­den Kom­men­tar zum Pro­blem der Revo­lu­ti­on und des Man­nes im Zeit­al­ter der Revo­lu­tio­nen. (138)/

Oswald Egger: Tag und Nacht sind zwei Jah­re. Kalen­der­ge­dich­te. Warm­bronn: Ulrich Kei­cher 2006. 31 Sei­ten.

Egger, Tag und NachtKalen­der­ge­dich­te? Wirk­lich? Das wür­de mich bei einem Autor wie Oswald Egger aller­dings über­ra­schen. Und natür­lich ist das weder Kalen­der noch Gedicht – zumin­dest nach her­kömm­li­chem Ver­ständ­nis. Aber das zähl­te für Egger ja (noch) nie. Ein ande­rer, ein neu­er Gang durch’s (Natur-)Jahr hat er hier auf­ge­schrie­ben – Men­schen kom­men nicht vor (nur das „ich“, das aber durch­aus häu­fig), höchs­tens ihre Arte­fak­te wie die „Fahr­stra­ße“ (14), die Wege etc, die in der Natur lie­gen – ein Jah­res­rei­gen, wirk­lich ein Rei­gen. Hier kann man sehen, was pas­siert, wenn sich ein Sprach­meis­ter und ‑magi­er wie Egger der Natur annimmt: Ihren Erschei­nun­gen und ihrem Erklin­gen. Das ist – wie immer – phan­tas­tisch: Kaum jemand kann Spra­che so magisch und kraft­voll ver­for­men wie Egger – und damit Bil­der und Töne evo­zie­ren, die nor­ma­le Sät­ze oder Wör­ter nicht auf­ru­fen kön­nen: Die sind zu schwach, zu aus­ge­laugt, zu abge­nutzt, sie tref­fen das ein­zig­ar­ti­ge, beson­de­re des jewei­li­gen Moments nicht – und des­halb gibt’s halt Neu­es. Das hat immer etwas von einem Aben­teu­er: Man weiß weder, wo der Satz einen hin­führt, noch, was der nächs­te Satz, die nächs­te Seite/​Doppelseite (ein „Gedicht“) bringt.

[…] wie far­big flam­men­de­re Träu­me /​schreck­ten die­se hier, kal­bends­ten sel­ban­der, als Vögel /​im Fie­ber­schlaf erstarrt, und flou­res­zie­ren etwas (wie nichts) /​| auf Gra­nit, die wie Por­phyr­pflas­ter­plat­ten der Zufluß-Gnei­se /​schie­fern­der Wege, alles Fir­ma­ment ver­blei­te licht­grau und /​betrübt sich rich­tig – (rich­tig)? (2f.)
Moni­ka Rinck: Hel­le Ver­wir­rung. Gedich­te – Rincks Ding- und Tier­le­ben. Tex­te & Zeich­nun­gen. Idstein: kook­books 2009. 139 Sei­ten.

rinck, helle verwirrungGleich zwei Bücher auf ein­mal hier. Aber zwei ganz ver­schie­de­ne Sei­ten von Moni­ka Rinck. In Hel­le Ver­wir­rung die „nor­ma­le“ Lyri­ke­rin, in Rincks Ding- und Tier­le­ben die Zeich­ne­rin von kurio­sen Din­gen. Aber Rinck hat ja sowie­so Auge und Ohr für das Unge­wöhn­li­che, das Kurio­se – etwas im „Begriffs­stu­dio“. Das schlägt sich vor allem in den küh­nen Bil­dern der Hel­len Ver­wir­rung nie­der – und in den star­ken Titel der Gedich­te, die – sel­ten genug – wirk­li­che Titel sind: „erschöpf­te kon­zep­te: die lie­be“, „immer nie“ …
Und allein der Quit­ten-Zyklus ist mit sei­nen phan­tas­ti­schen, viel­fäl­ti­gen und voll­kom­men über­ra­schen­den Bil­dern den Band schon wert.

Weni­ger konn­te ich dage­gen mit dem Ding- und Tier­le­ben anfan­gen: Das ist sehr spie­le­risch und humo­ris­tisch, mit Lust an Kon­tra­dik­tio­nen und Null-Sinn und dem sprach­li­chen extem­po­rie­ren. Aber einen rech­ten Zugang habe ich dazu nicht gefun­den.

Mein Lieb­lings­zi­tat:

in jedem buch gibt es zei­len, die man gar nicht lesen darf. (14)

Schö­ne Stel­len gibt es aber unend­lich vie­le. Zitie­rens­wert erschien mir auch noch das hier – viel­leicht gibt das ja einen Ein­druck, war­um ich das so gern gele­sen habe:

das fand für dich auf der gren­ze statt, die meis­ten dei­ner gäs­te /​haben sich ent­schie­den für: nor­ma­li­tät. ein­sam waren sie trotz­dem. (16)/

Oswald Egger: Deut­scher sein. Warm­bronn: Ulrich Kei­cher 2013 (Rei­he Lite­ra­tur­haus Stutt­gart 4). 28 Sei­ten.

Egger, Deutscher-seinEin klei­ner, bei Kei­cher sorg­sam gedruck­ter Essay über die deut­sche Spra­che, ihre Struk­tur und ihren Laut, ihre Mög­lich­kei­ten und Schwie­rig­kei­ten. Zugleich geht es, der Titel ver­rät es ja, auch um die Mög­lich­kei­ten und Beschwer­nis­se, Deut­scher zu sein. Die­ses Sein scheint sich aber – für Egger ja nicht beson­ders ver­wun­der­lich – vor allem oder haupt­säch­lich in der Spra­che abzu­spie­len und zu ent­wi­ckeln. Des­we­gen geht es also auch um sol­che Erleb­nis­se wie den „Schmug­gel“ von Sinn und Bedeu­tung in Wör­ter, Sät­ze und Tex­te. Oder um Klang und Musik, Lie­der und Melos des Deut­schen – vor allem natür­lich des „Deutsch­lands­lie­des“, der Natio­nal­hym­ne. The­men sind außer­dem: Der Umgang „der Deut­schen“ – und ihrer Dich­ter – mit ihrer Spra­che und den ihr inne­woh­nen­den Mög­lich­kei­ten. In An- und Halb­sät­zen zei­gen sich dabei auch eini­ge Bau­stei­ne der Poe­tik Eggers – näm­lich eben in sei­nem Ver­ständ­nis der Spra­che, die wohl etwas sehr offe­nes und flui­des ist.

da gabelt sich die Gabe der Spra­che in irr­wi­sche Wün­schel, durch und durch die Gegend ohne Gegen­stand als ein ein­ge­peitsch­ter Schlin­ger­krei­sel im ergat­ter­ten Misch­masch (5)

Oswald Egger: Nichts, das ist. Frank­furt am Main: Suhr­kamp 2001. 160 Sei­ten.

egger, nichts das istAußer­dem noch die­sen drit­ten Egger gele­sen. Aber da sehe ich mich außer­stan­de, etwas halb­wegs klu­ges dazu zu sagen …

In den Gedich­ten oder 200 Strophen/​4‑Zeiler mit angehängter/​überlagerter Poe­tik & Sprach­kri­tik & Sprach­su­che im poe­ti­schen Modus steckt – so viel mer­ke ich schon beim ers­ten Lesen – unheim­lich viel drin. Hyper­kom­plex gibt sich das, viel­leicht ist das aber auch nur gefakt? Beim (ers­ten) Lesen blei­ben eigent­lich nur Sinn­fet­zen, Asso­zia­tio­nen, Klän­ge, Klang­wort­rei­hen und ‑ent­wick­lun­gen – aber davon so viel, dass es die Lek­tü­re lohnt. Die 3–5fache Par­al­le­li­tät des Tex­tes (der Tex­te? – was ist hier über­haupt „der“ Text? und was machen die Zeichnungen/​Grafiken da drin?), hori­zon­tal und ver­ti­kal auf den Sei­ten, vom Kolum­nen­ti­tel oben bis zum unte­ren Rand, über­haupt das per­ma­nen­te Über­kreu­zen und Que­ren – von Sinn, von Einheit(en), von Text und Spra­che machen schon eine „nor­ma­le“ Lek­tü­re unmög­lich – ein „Ver­ste­hen“ erst recht. Immer neue Ansät­ze schei­nen sich hier auf­zu­tun, Ite­ra­tio­nen viel­leicht auch, oder Boh­run­gen in der Art von Ver­su­chen mit offe­nem Aus­gang: kein fes­ter BOden, kein festes/​dauerndes Ergeb­nis ist das ein­zig Ergeb­nis­haf­te, was die Lek­tü­re ergibt.

Zwei Bei­spiel­sei­ten – bei­na­he zufäl­lig aus­ge­wählt ;-) – mögen das illus­trie­ren:
egger, nichts das ist, 18

egger, nichts das ist, 48

Scott Jurek with Ste­ve Fried­man: Eat & Run. My unli­kely Jour­ney to Ultra­ma­ra­thon Great­ness. Lon­don u.a.: Bloomsbu­ry 2012. 260 Sei­ten.

Ist das ein Lauf­buch? Der Autor­na­me lässt es ver­mu­ten: Scott Jurek ist einer der gro­ßen Ultra­l­äu­fer. Aber Eat & Run – der Titel ver­rät es ja schon – dreht sich nicht nur ums Lau­fen. Im Gegen­teil: Über wei­te Stre­cken geht es vor allem ums Essen. Nicht ohne Grund steht das im Titel vor­ne. Und zwar um das rich­ti­ge Essen – näm­lich die vega­ne Ernäh­rung. Jurek schil­dert aus­führ­lich sei­nen Weg von der „nor­ma­len“ ame­ri­ka­ni­schen Kost des mitt­le­ren Wes­tens zur vega­ni­schen Ernäh­rung. Das geschieht bei ihm vor allem aus (schein­bar) gesund­heit­li­chen Grün­den und weil er meint zu beob­ach­ten, dass er sich damit bes­ser fühlt. Zugleich pla­gen ihn aber auch lan­ge und immer wie­der die Zwei­fel, ob er mit vega­nen Lebens­mit­teln aus­ge­wo­gen, gesund und in allen Berei­chen aus­rei­chend genährt ist, um Ultras zu lau­fen.

So recht warm gewor­den bin ich mit Eat & Run aber nicht. Obwohl ich die Leis­tun­gen Jureks sehr schät­ze, blieb mir sei­ne Hal­tung zum Lau­fen, wie sie sich hier zeigt, ein­fach fremd. Mehr dazu steht in mei­nem Lauf­blog: klick.

span style=„font-variant: small-caps“>Werner Laub­scher: Win­ter­rei­se. Win­ter­spra­che. Ann­wei­ler: Tho­mas Plö­ger 1989. 58 Sei­ten.

laubscher, winterreiseDar­auf bin ich nur zufäl­lig durch einen Bei­trag in der Poet #15 gekom­men. Zunächst mal ist das ein schö­nes Buch, auch die Her­stel­lung ist ein Teil des Kunst­werks: Tra­di­tio­nel­ler Blei­satz, fei­nes Papier (unauf­ge­schnit­ten und des­we­gen dop­pelt – so wird aus 58 Sei­ten ein Buch), leben­di­ger Druck, schö­ner Ein­band, dazu die far­bi­gen Bil­der Laub­schers – so macht man Bücher.

Wil­helm Mül­lers Win­ter­rei­se – oder wohl doch eher Schu­berts Lied­zy­klus – dient Laub­scher als Anre­gung und Aus­gangs­punkt für sei­ne klei­nen Gedich­te. Die haben etwas von Pre­zio­sen: Fein und fein­sin­nig beob­ach­tet, sehr klug und sehr sprach­ge­wandt, auch sehr geschlif­fen und fest, über­haupt nicht spie­le­risch. Teil­wei­se funk­tio­nie­ren sie als Über­schrei­bung: Ein­zel­ne Wor­te und Sät­ze aus dem „Ori­gi­nal“ sind als Zita­te und Anklä­ge ein­ge­ar­bei­tet – sehr dicht, fast naht­los fügen sie sich in Laub­schers wesent­lich moder­ne­ren (wenn auch nicht avant­gar­dis­ti­schen) Ton ein, der es trotz sei­ner Moder­ni­tät schafft, ver­gleichs­wei­se zeit­los zu blei­ben. Ziem­lich düs­ter, grau und trau­rig ist die­se Win­ter­welt hier. Aber, und das macht es lesens­wert, es sind ganz vie­le Graus. Viel­leicht könn­te man sagen, dass Laub­scher hier die Mül­lersche Win­ter­rei­se über­bie­tet: Mit mehr Rea­lis­mus und zugleich mehr poe­ti­scher Ent­rü­ckung geht das wei­ter als die roman­ti­schen Urge­dich­te. Und bleibt dabei ande­rer­seits auch doch sehr zurück­hal­tend – arg breit ist das the­ma­ti­sche Feld nicht. Das macht aber nicht, weil es hand­werk­lich sehr geschickt – etwa in der Ver­ket­tung der ein­zel­nen Gedich­te – und durch­aus fein gemacht ist: (Be)rührend sind hier vie­le der Gedich­te, emo­tio­nal durch oder in ihrer Kunst­fer­tig­keit.

Eines mei­ner Lieb­lings­ge­dich­te aus dem titel­ge­ben­den Zyklus ist das auf Sei­te 19:
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Feine Klangkunst: Yulianna Avdeeva in Mainz

Robert Schu­mann war begeis­tert von ihnen: Fré­de­rich Cho­pins 24 Pré­ludes op. 28, die er als „Skiz­zen, Etu­den­an­fän­ge, oder will man, Rui­nen, ein­zel­ne Adler­fit­ti­ge, alles bunt und wild durch­ein­an­der“ cha­rak­te­ri­sier­te. Vor allem waren sie ihm ein Zei­chen der Kün­heit und Genia­li­tät des Kom­po­nis­ten­kol­le­gen. Und wenn man sich anhört, wie Yuli­an­na Avdeeva den Zyklus im Frank­fur­ter Hof spiel­te, möch­te man Schu­mann unbe­dingt zustim­men.

Das liegt nicht dar­an, dass Avdeeva bei ihrem Main­zer Gast­spiel im Rah­men der Rei­he „Inter­na­tio­na­le Pia­nis­ten“ die Vir­tuo­si­tät der 24 kur­zen Stü­cke beson­ders beton­te. Son­dern dar­an, dass sie den gan­zen Zyklus beseel­te. Und das heißt vor allem, dass sie aus­ge­spro­chen viel­fäl­tig spiel­te. Manch­mal ist das pure Ver­füh­run­gen, dann wie­der rei­ne Vir­tuo­si­tät, mal sind es hei­ter per­len­de schein­ba­re Leich­tig­kei­ten, mal düs­te­re Visio­nen. Aber alles lebt, immer atmet der Kla­vier­ton. Und stets ist die Poe­sie der Pré­ludes zu hören – nicht nur der Noten, son­dern auch des Klangs. Denn vor allem im lei­se­ren, gedämpf­ten Regis­ter kann Avdeeva aus dem Flü­gel im Frank­fur­ter Hof viel her­aus­ho­len. Ohne Schwulst spielt sie, aber mit einem fei­nen Ohr für die Zwi­schen­rei­che der Stim­mun­gen, die leich­ten Ein­trü­bun­gen, aber auch die vor­sich­ti­gen opti­mis­ti­schen Anwand­lun­gen – und den fähi­gen Fin­gern, das genau umzu­set­zen. So zei­gen sich die Pré­ludes bei ihr in der Ver­bin­dung von Vir­tuo­si­tät und Innig­keit als wirk­lich roman­ti­sche Musik.

Das liegt auch dar­an, dass ihr war­mer, sanft gerun­de­ter Ton mit der nöti­gen Sta­bi­li­tät für die­se Viel­falt nur in sehr geschwin­den und lau­ten Pas­sa­gen etwas hart und grell wird. Dafür ist ihre Klang­fül­le im pia­nis­si­mo gran­di­os. Aber sowie­so ist es gar nicht so sehr das auf­brau­sen­de Moment, das in ihrer Inter­pre­ta­ti­on begeis­tert, son­dern das zurück­ge­nom­me­ne, melan­cho­li­sche: Da sind die Töne ein­fach viel far­bi­ger, selbst in der Schwarz-Weiß-Welt noch viel­fäl­ti­ger dif­fe­ren­ziert als in den stür­me­ri­schen Pré­ludes, die bei Avdeeva oft etwas grell und fast geschwät­zig wir­ken.

Fast magisch klan­gen unter ihren Hän­den auch die eher sel­ten zu hören­den „Drei Kla­vier­stü­cke“ von Franz Schu­bert. Spä­te Wer­ke sind das, geschrie­ben im Todes­jahr des Kom­po­nis­ten, deren nach­denk­li­chen Töne man heu­te fast schon die Ahnung des Todes unter­stel­len möch­te. Vol­ler Sub­ti­li­tät und mit einem sehr fra­gen­den, immer suchen­den Ton spielt Avdeeva sie als Musik, die nicht alles weiß und ihre Lücken kennt – eine Musik der Ver­ge­wis­se­rung und Suche, die hier in star­ker emo­tio­na­ler Span­nung mit sou­ve­rä­ner Zart­heit fast die Zeit auf­zu­he­ben ver­mag.
Ser­gej Pro­kof­jews sieb­te Kla­vier­so­na­te wirk­te zwi­schen die­sen bei­den Roman­ti­kern fast wie ein Fremd­kör­per – nicht wegen sei­ner Moder­ni­tät, son­dern wegen sei­ner leben­di­gen Schroff­heit, die bei Avdeeva frei­lich nur in einer etwas glatt­ge­bü­gel­ten Ver­sio­nen erschei­nen: Gera­de die Ner­vo­si­tät der Musik spielt hier kei­ne beson­de­re Rol­le. Das liegt auch dran, dass gro­ße Ges­ten bei ihr immer blo­ße Ges­ten blei­ben und nie so zwin­gend sind wie der inten­si­ve Aus­druck, den sie gera­de den unschein­ba­ren Momen­ten der Sona­te mit auf den Weg gibt. Die wirk­li­che Emo­ti­on steckt eben immer im Detail – und die Inten­si­tät eben­so.

(geschrie­ben für die main­zer rhein-zei­tung.)

Chopins „Ave Maria“

Was pas­siert, wenn Musik-Unkun­di­ge für die Schluss­credits eines Fil­mes ver­ant­wort­lich sind und nie­mand das kon­trol­liert:

Scrrenshot Schlusscredits "It's a disaster"

Scr­ren­shot Schluss­credits „It’s a dis­as­ter“

– so endet der sehr anschau­ens­wer­te Film „It’s a dis­as­ter“. Zu hören war übri­gens die Schubert’sche Ver­to­nung des „Ave Maria“ …

Hauptsache Lied

… mögen sich Rai­ner Wiec­zo­rek und/​oder sei­ne Lek­to­rin gedacht haben, als er die­sen Absatz (auf Sei­te 92) in sei­ner Tuba-Novel­le schrieb, da kommt es auf Schu­bert oder Schu­mann doch nicht so an:

Ich grol­le nicht: Er leg­te das Mund­stück in die Fül­ler-Scha­le und ver­such­te an Suzan­ne und Beckett zu den­ken, wie sie ein­träch­tig den Schu­bert-Lie­dern lau­schen.

Und ja, aus dem Zusam­men­hang der vori­gen Sei­ten geht ein­deu­tig her­vor, dass es sich um die Schu­mann-Lie­der han­deln soll – der ent­spre­chen­de Abschnitt eini­ge Sei­ten zuvor heißt auch „Dich­ter­lie­be“. Damit hier aber kein fal­scher Ein­druck ent­steht: Die Tuba-Novel­le ist ein durch­aus anspre­chen­des, anre­gen­des und, ja, auch ein­fach schö­nes Buch.

„Was fragen sie nach meinen Schmerzen?“ – Schäfer/​Schneider mit der „Winterreise“

Kar­ge Klar­heit bestimmt die „Win­ter­rei­se“, die Chris­ti­ne Schä­fer und Eric Schnei­der im Mozart-Saal der Frank­fur­ter Alten Oper auf­füh­ren. Die­se Inter­pre­ta­ti­on des Schu­bert­schen Lied­zy­klus, das wird eigent­lich schon mit dem ers­ten Lied, ja, fast schon mit den ers­ten Tönen, deut­lich, die­se Inter­pre­ta­ti­on wird ganz stark vom Intel­lekt bestimmt. Chris­ti­ne Schä­fer singt das ganz stark vom Kopf aus – und immer schon mit der Kata­stro­phe im Blick: Schär­fe in der Gestal­tung – nicht im Ton! – bestimmt die­se meis­ter­haf­te Auf­füh­rung.

Die­se Inter­pre­ta­ti­on gewinnt aber auch durch einen fan­tas­ti­schen Pia­nis­ten, der wun­der­bar ins Kon­zept passt: Eric Schnei­der spielt prä­zi­se wie kaum ein ande­rer Lied­be­glei­ter in der „Win­ter­rei­se“: Sel­ten hört man so genau jeden Ton des Kla­vier­sat­zes genau so, wie er in den Noten steht, mit jedem Akkzent und jedem for­te­pia­no. Ganz sel­ten nur spürt man einen Hauch Pedal, dafür sind die Klän­ge tro­cken und abge­setzt, dabei nicht lieb­los, son­dern abso­lut detail­ver­liebt. Mit „Roman­tik“ hat das auf den ers­ten Ton gar nicht mehr viel zu tun, das ist eigent­lich exis­ten­ta­lis­ti­sche Musik (auch wenn sie in der Alten Oper im Rah­men von „Impuls Roman­tik“ erklingt). Chris­ti­ne Schä­fer macht das grun­sätz­lich ähn­lich wie ihr Pia­nist (auch wenn die bei­den manch­mal mini­mals­te Dif­fe­ren­zen zeig­ten), zum Bei­spiel in „Gute Nacht“: Da sind es oft neben­ein­an­der­ste­hen­de Ein­zel­tö­ne, kei­ne durch­ge­sun­ge­ne Linie. Gran­di­os die leb­haf­te­ren, etwas dra­ma­ti­sche­ren Lie­der: Mit wel­che kla­ren Schwung sie die „Wet­ter­fah­ne“ singt und wie wun­der­bar schwan­kend „Die Post“ oder wie kon­tu­riert bei ihr „Die Krä­he“ auf­scheint – das ist wirk­lich gro­ße Kunst. Was mir nicht so gut gefal­len hat bei ihr: Die Phra­sen klin­gen oft sehr früh und sehr stark aus, so dass die Enden fast ver­schwin­den. Das kann ein sehr inter­es­san­ter Effekt sein, auf Dau­er fand ich das aber etwas über­trie­ben. Auch ihre Tedenz, glei­che Voka­le unter­schied­lich zu tönen, hat einen leich­ten Hang zum Manie­ris­mus. Dabei ist das aber, um kein Miss­ver­ständ­nis auf­kom­men zu las­sen, von ihr in jedem Ein­zel­fall unge­heu­er kon­se­quent umge­setzt und auch hör­bar durch­ge­dacht und durch­ge­führt.

Gegen­über der Auf­nah­me – die ist ja auch schon 2006 erschie­nen – scheint mir das noch ein­mal etwas gereif­ter: Die Stim­me klingt etwas kräf­ti­ger, nicht ganz so leicht und schwe­bend, alles hört sich etwas schwe­rer und bedachter/​bedächtiger an, nicht mehr ganz so cool, dafür abge­klär­ter und erfah­re­ner. Viel­leicht ist das auch der Live-Situa­ti­on geschul­det, zumal wir im Mozart-Saal fast ganz hin­ten saßen und so schon in merk­ba­rer Ent­fer­nung …

Die durch­weg aus­ge­spro­chen hohen Grund­tem­pi, mit sehr star­ken, fast über­trie­be­ne­n­en (aber nur fast!) Ver­zö­ge­run­gen, die manch­mal sogar fast Lücken in dem Lied­text auf­rei­ßen: Effekt­voll ist das, ganz ohne Fra­ge. Und sehr kon­zen­triert und gefasst, in einer span­nen­den Mischung von Intel­lek­tua­li­tät und Emo­tio­na­li­tät, einem sehr genau aus­ba­lan­cier­ten Ver­hält­nis von Distanz und Aneig­nung, von Iden­ti­fi­ka­ti­on und außen­ste­hen­der Beob­ach­tung (der eige­nen See­le, des emo­tio­na­len Welt­lei­des der Sän­ger­fi­gur …). Es gab und gibt Sän­ger (meis­tens sind es eben doch Män­ner), die das rüh­ren­der und berüh­ren­der, also über­wäl­ti­gen­der, sin­gen. Aber kaum

Winterreise-Eintrittskarte

Ein­tritts­kar­te zu einem beson­de­ren Erleb­nis

wel­che, die den eigent­li­chen Kern jedes Lie­des so klar und deut­lich, so unver­stellt und unüber­hör­bar her­aus­prä­pa­rie­ren. Ja, das Wort passt hier, denn man­cher Ansatz erscheint wie im Labo­ra­to­ri­um ent­wi­ckelt – oder das Ergeb­nis aus der Patho­lo­gie, wo der Noten­text zunächst ein­mal seziert wur­de, bevor er zum Klang wer­den durf­te und konn­te. Im Zusam­men­hang, im Lau­fe des kur­zen Abends, zeigt sich aber, dass das kei­ne ana­ly­ti­sche Käl­te ist, son­dern das Schau­ern und Schau­dern der emo­tio­na­len Win­ter­land­schaft, durch die der Sänger/​die Sän­ge­rin irrt. Dadurch ent­steht eine ganz eson­de­re Situa­ti­on: Im Saal merk­te man schon vor dem Beginn, ja schon im Foy­er, eine erhöh­te Span­nung. Alle erwar­te­ten etwas Beson­de­res. Und wer­den anders befrie­digt, als sie erwar­te­ten. Denn – so war zumin­dest mein Ein­druck – nicht allen wur­de klar, wie beson­ders das, was dann zu hören war, wirk­lich war. Weil es anders war, weil es nicht so recht der tra­di­tio­nel­len Gestal­tung der „Win­ter­rei­se“ ent­sprach. Und weil es nicht so sehr auf affek­tuös-emo­tio­na­ler Ebe­ne begeis­tern konn­te, son­dern stär­ker auf einer intel­lek­tu­el­len, fast ratio­na­len Ebe­ne. Das ist eigent­lich ein sehr klu­ger Ansatz, die „Win­ter­rei­se“ so zu sin­gen – kaum ein Lied­werk ist schließ­lich so bekannt, kaum ein Zyklus so aus­ge­schöpft und erschöpft durch unzäh­li­ge, sich oft genug nur noch in Details und Stimm­fär­bung unter­schei­den­den Inter­pre­ta­ti­on im Kon­zert­saal und auf der Kon­ser­ve.

Fragend in die kalten Unendlichkeit: Schubert/​Zender

Kalt ist es, bit­ter kalt. Frie­rend und ein­sam irrt der Sän­ger kurz vor Weih­nach­ten durch die Dör­fer, ver­las­sen und ver­lo­ren. Sel­ten hört man den Sän­ger der Schu­bert­schen „Win­ter­rei­se“ so welt­ver­lo­ren wie Dani­el Kirch im Staats­thea­ter. Das ist aber kein Wun­der. Denn im Gro­ßen Haus erklingt ja gar nicht Schu­berts Win­ter­rei­se: Auf dem Pro­gramm steht eine „kom­po­nier­te Inter­pre­ta­ti­on“ die­ser Win­ter­rei­se. So hat Hans Zen­der sei­ne Bear­bei­tung genannt: Das Kla­vier wird durch ein geni­al instru­men­tier­tes klei­nes Orches­ter ersetzt, von Strei­chern über die Gitar­re und das Akkor­de­on bis zum gro­ßen Schlag­werk ist es so reich besetzt, dass es Far­ben ohne Ende bie­tet. Dabei bleibt die Musik doch trü­be: Denn Zen­der macht in sei­ner inter­pre­tie­ren­den Instru­men­ta­ti­on des Schu­bert­schen Ori­gi­nals die Aus­sichts­lo­sig­keit, die Ver­las­sen­heit des Lied­sän­gers noch viel deut­li­cher. Der Tenor Dani­el Kirch, am Anfang noch etwas unaus­ge­gli­chen, aber zuneh­mend über­zeu­gen­der, navi­gier­te sehr sicher durch das win­ter­li­che Ter­rain. Selbst in den zer­ris­se­nen Par­tien des „stür­mi­schen Mor­gens“ oder den ver­scho­be­nen Tem­pi der drei „Neben­son­nen“ blieb er beson­nen – fast zu behut­sam und sou­ve­rän ange­sichts der exis­ten­zi­el­len Not.

Auch das Phil­har­mo­ni­sche Orches­ter kam mit der unge­wohn­ten Beset­zung und dem sel­te­nen Instru­men­ta­ri­um von Melo­di­ca bis Wind­ma­schi­ne gut zurecht, wan­der­te dabei in Tei­len auch noch vor und hin­ter die Büh­ne. Doch Gene­ral­mu­sik­di­rek­tor Herr­mann Bäu­mer hat­te das alles fest im Griff. Der Schau­er kehr­te damit in die Schu­bert­sche Musik zurück – der Schau­er, den schon Schu­bert und sei­ne Zeit­ge­nos­sen bei die­sen Lie­dern über­lief. Hier wur­de er noch ein­mal leben­dig, indem Zen­der die Lie­der aus ihrer erstarr­ten Künst­lich­keit löst und die Struk­tu­ren ganz behut­sam auf­bricht. Ganz stark wur­de das am Ende des Zyklus, der in einer Auf­lö­sung der Welt mün­det – aber nicht in Wohl­klang, son­dern ins Unge­wis­se.

Eine ähn­li­che Öff­nung hat­te Bäu­mer zuvor schon mit Schu­berts sieb­ter Sin­fo­nie, der Unvoll­ende­ten, unter­nom­men. Die bei­den Sät­ze reich­ten, um das Haus des Wohl­klangs zu ver­las­sen – das ist hier aller­dings auch eher ein Gefäng­nis. Des­sen Stä­be zer­bra­chen schon ganz früh, bereits die ers­ten Tak­te der in den tie­fen Strei­chern anset­zen­den Melo­die dräng­ten ins Freie, aus dem Gefäng­nis der Form und der Tra­di­ti­on weit hin­aus ins unbe­kann­te Gebiet. Bäu­mer mach­te die­se Bewe­gung wun­der­bar deut­lich und ent­wi­ckel­te dar­aus eine bestechen­de Schön­heit der Frei­heit und der Offen­heit. Das Phil­har­mo­ni­sche Orches­ter spiel­te das nicht nur hoch­kon­zen­triert, son­dern gera­de­zu leicht­fü­ßig, fast tan­zend. In schwe­ben­der Unent­schie­den­heit balan­ciert Bäu­mer zum herr­li­chen Klang. Eine Idyl­le, möch­te man mei­nen – wären da nicht die Ein­brü­che, die har­ten Schlä­ge der Wirk­lich­keit, die immer wie­der die himm­li­schen Län­gen der Unvoll­ende­ten heim­su­chen und deren äthe­ri­sche Schön­heit zer­stö­ren. Aber selbst die erklan­gen hier mit einem Fra­ge­zei­chen: Tro­cken und hart fuh­ren sie hin­ein – und zogen sich geschwind wie­der zurück. Ant­wor­ten bie­tet die­se Musik nicht mehr, da sind nur noch Fra­gen. Aber was für Fra­gen! – Und doch: Selbst die­se Offen­heit ver­blass­te dann etwas ange­sichts der schau­rig-erschüt­tern­den Käl­te, mit der Bäu­mer und Kirch die Zen­der-Ver­si­on der Win­ter­rei­se zu ihrem unbarm­her­zi­gen und ganz unweih­nacht­li­chen Ende brach­ten.

(etwas kür­zer für die Main­zer Rhein-Zei­tung geschrie­ben.)

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