Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: reinhard jirgl

Aus-Lese #45

Rein­hard Jirgl: Oben das Feu­er, unten der Berg. Mün­chen: Han­ser 2016. 288 Sei­ten.

–Sie wur­den gebo­ren, arbei­te­ten, und sie star­ben. Wäre Leben so=einfach so=kurz wie die­ser Satz, Leben, wäre gewiß glück­vol­ler. Leben aber dau­ert län­ger als 1 Satz. (31)

jirgl, oben das feuerOben das Feu­er, unten der Berg – an dem Buch ist nicht nur der Titel selt­sam und rät­sel­haft. Ich bin ja eigent­lich ein gro­ßer Bewun­de­rer der Wer­ke Rein­hard Jirgls, aber mit die­sem Roman kann ich wenig bis gar nichts anfan­gen. Das, was von einer Geschich­te übrig ist, ist rät­sel­haft, schwankt zwi­schen Kri­mi und Ver­schwö­rungs­theo­rie, Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung und Ver­bit­te­rung. Die auf­tau­chen­den Figu­ren sind eigent­lich lau­ter kaput­te Men­schen. Oder: Sie wer­den kaputt gemacht, durch das „Sys­tem“, die Macht oder ähn­li­che Instan­zen. Die grau­sa­me Bru­ta­li­tät der Welt, der Macht und der Mäch­ti­gen, die die Moral nur als Deck­man­tel und Beru­hi­gung fürs Volk (wenn über­haupt) haben, benut­zen – den gan­zen Text durch­dringt eine sehr schwar­ze, pes­si­mis­ti­sche Welt­sicht. So weit, so gut (oder auch nicht, aber das ist ja erst mal egal). Frag­wür­dig bleibt mir aber doch ein­fach vie­les. Auf dem Schutz­um­schlag steht etwa: „Titel, Text­vo­lu­men und Rei­hen­fol­ge der Kapi­tel im Roman sind von dem alt­chi­ne­si­schen Ora­kel I‑Ging bestimmt.“ – Zum einen: was soll das? Ich habe kei­ne Ahnung … Zum ande­ren: Ich bezweif­le fast, dass das über­haupt stimmt …

In den fas­zi­nie­ren­den, genau­en, poe­ti­schen (d.i. lyri­schen) Beschrei­bun­gen, ja, der gera­de­zu über­bor­den­den Beschrei­bungs­ge­nau­ig­keit liegt viel­leicht die größ­te Stär­ke des Romans, auch durch die Spe­zi­al­or­tho­gra­fie, die näm­lich Mög­lich­kei­ten und Deu­tun­gen der Spra­che ver­deut­li­chen, ver­eindeu­ti­gen oder über­haupt erst eröff­nen kann. Auf der ande­ren Sei­te hat­te ich oft den Ein­druck eines „ver­wil­der­ten“ Text, der sich von sich selbst trei­ben lässt und der im Zick­zack-Kreis des Erzäh­lens „der“ Geschich­te kei­ne wie auch immer gear­te­te Ord­nung gel­ten lässt (zumin­dest kei­ne, die ich erken­nen könn­te). Selt­sam fin­de ich auch: Eigent­lich pas­siert das meis­te des Romans auf pri­va­ter, ja inti­mer Ebe­ne. Aber dann will der Roman doch die ganz gro­ßen The­men behan­deln (z.B. die Macht und die Moral) – das pas­siert dann (damit es jeder merkt) v.a./nur durch das neun­mal­klu­ge Dozie­ren der Figu­ren, in deren Erkennt­nis­sen, in deren Durch­schau­en der Welt und der Ver­schwö­run­gen) sich der Erzäh­ler (und viel­leicht auch der Autor) zu allem und jedem äußern kann, sei­ne Posi­ti­on als wah­re absi­chern und mit­tei­len kann.

?Wo in all­die­ser unermeßlichen=Unendlichkeit blieb eigent­lich ?mein Web­fa­den, ?meine=!ureigene Spur, die mich etwas Unver­wech­sel­ba­res in die­ses uner­schöpf­li­che Lebens­wisch­ha­der­ge­filz hät­te hin1prägen las­sen. (230)

Danie­la Danz: Lan­ge Fluch­ten. Göt­tin­gen: Wall­stein 2016. 146 Sei­ten.
Zu dem sehr gelun­gen klei­nen Roman von Danie­la Danz – die übri­gens auch vor­treff­li­che Lyrik schreibt – habe ich vor eini­gen Tagen schon etwas geschrie­ben: Lan­ge Fluch­ten, gebro­che­ne Men­schen.
Wil­helm Leh­mann: Ein Lese­buch. Aus­ge­wähl­te Lyrik und Pro­sa. Her­aus­ge­ge­ben von Uwe Pörk­sen, Jut­ta Johann­sen und Hein­rich Dete­ring. Göt­tin­gen: Wall­stein 2011. 160 Sei­ten.

lehmann, lesebuchAuf Wil­helm Leh­mann bin ich erst durch die zwei­te Aus­ga­be des Gel­ben Akro­ba­ten von Micha­el Braun und Micha­el Busel­mei­er auf­merk­sam gewor­den. Leh­mann, der von bis vor allem an der Küs­te leb­te, war als Leh­rer sowohl ein aus­ge­zeich­ne­ter Natur­be­ob­ach­ter als auch ein star­ker Dich­ter, wie ich anhand des Lese­buchs leicht fest­stel­len konn­te. Dort bie­ten die drei Her­aus­ge­ber eine Aus­wahl aus der mehr­bän­di­gen Werk­aus­ga­be: (viel) Lyrik, etwas aus den Tage­bü­chern, eini­ge Aus­zü­ge aus theoretischen/​poetologischen Essays und ein wenig Pro­sa. Inwie­weit das ein reprä­sen­ta­ti­ves Bild abgibt, kann ich nicht beur­tei­len. Sagen kann ich nur, dass das, was ich hier gele­sen habe, fas­zi­nie­ren­de Momen­te hat. Die mich am meis­ten berüh­ren­den Tex­te und Pas­sa­gen waren wohl die, wo sich der peni­ble und wis­sen­de Natur­be­ob­ach­ter mit dem bild­kräf­ti­gen Lyri­ker ver­bin­det.

Aus vie­len der Natur­be­schrei­bun­gen der Gedich­te spricht eine lei­se Weh­mut: Die Natur ist für Leh­mann ganz offen­bar ein Ort, an dem die göttliche/​geschöpfte/​schöpferische Ord­nung noch gilt und dann auch zu beob­ach­ten ist; sie bleibt vom Cha­os, der Gewalt und dem Schmerz der Men­schen (den sich die Men­schen gegen­sei­tig (und ihr) zufü­gen) unbe­rührt. Sol­che Lyrik ist, wie er es in einem Auf­satz ein­mal auf den Punkt bringt: „Poe­sie als Ein­wil­li­gung in das Sein“.

Gera­de in der Zeit des Zwei­ten Welt­krie­ges scheint sich das aber zu ändern: Zuneh­mend wer­den Natur und Menschenwelt/​Zeitgeschichte im Gedicht kon­fron­tiert, meist neben­ein­an­der gestellt (sozu­sa­gen ohne ter­ti­um com­pa­ra­tio­nis): Hier die gleich­för­mi­ge (im Sin­ne von in einem fes­ten Rhyth­mus sich wie­der­ho­len­de), ver­trau­te (d.h. auch: les­ba­re, ent­schlüs­sel­ba­re, ver­steh­ba­re) Natur, dort der uner­hör­te Schre­cken, das unge­se­he­ne und unge­ahn­te Grau­en des Welt­kriegs. Das bleibt aber immer sehr sub­til und – gera­de in den Beschrei­bun­gen und Schil­de­run­gen – sehr kunst­voll, in fein aus­ta­rier­ten Rhyth­men und mit oft sehr har­mo­nisch, fast selbst­ver­ständ­lich wir­ken­den Rei­men aus­ge­ar­bei­tet. Am bes­ten ver­deut­licht das viel­leicht ein Gedicht wie „Fal­len­de Welt“:

Das Schwei­gen wur­de
Sich selbst zu schwer:
Als Kuckuck fliegt sei­ne Stim­me umher.

Mit bron­ze­nen Füßen
Lan­det er an,
Gefleck­tes Kleid
Hat er ange­tan.

Die lose Welt,
Wird sie bald fal­len?
Da hört sie den Kuckuck
Im Grun­de schal­len.

Mit schnel­len Rufen
Ruft er sie fest.
Nun dau­ert sie
Den Zei­ten­rest.

Sabi­ne Bergk: Gils­brod. Novel­le. Ber­lin: Dittrich 2012. 132 Sei­ten.

bergk, gilsbrod (cover)Der Ver­lag nennt die auf der Opern­büh­ne spie­len­de Novel­le von Sabi­ne Bergk „Über­trei­bungs­li­te­ra­tur”. Das stimmt natür­lich, trifft den Kern des vor allem phan­tas­ti­schen und absur­den Tex­tes aber nur halb. Gils­brod ist eine Ein-Satz-Novel­le mit 130 Sei­ten unge­bro­che­nem stream of con­scious­ness. Das ist natür­lich nicht völ­lig neu, spon­tan fällt mir aus letz­ter Zeit etwa Xaver Bay­ers Wenn die Kin­der Stei­ne ins Was­ser wer­fen (2011) ein, das ähn­lich funk­tio­niert. Hier, also in Gils­brod, lesen wir das Bewusst­sein einer Opern­souf­fleu­se, die im ent­schei­den­den Moment der Thea­ter­di­va nicht aus­hilft und sie des­halb in eine impro­vi­sier­te Kadenz auf dem fal­schen Text treibt. Ein Ende hat der Text nicht, er bricht ein­fach ab. Bis dahin ist er aber dicht und unter­halt­sam, phan­tas­tisch und absurd, trau­rig und komisch zugleich. Oder zumin­dest abwech­selnd. Den natür­lich lässt sich so ein Bewusst­sein hin und her trei­ben, das ist eine hef­ti­ge Mischung von Ver­gan­gen­hei­ten und Gegen­war­ten, Rea­li­tä­ten und Träu­men, Wün­schen und Ängs­ten, geschich­tet und über­la­gert, auch mit Ver­sio­nen der (pseudo-)Erinnerung ver­se­hen, der sei­ne Ebe­nen im krei­sen­den Wie­der­ho­len her­aus­kris­tal­li­siert.

Das funk­tio­niert recht gut, weil die Spre­che­rin aus der Posi­ti­on des unsichtbaren/​unscheinbaren Beob­ach­ters, der Souf­fleu­se, agiert. In der Pri­vat­my­tho­lo­gie wird der die­nend-unter­stüt­zen­de Hilfs­dienst die­ser Funk­ti­on für das Thea­ter, genau­er: die Oper, zur mys­ti­schen Erfah­rung hoch­sti­li­siert, zum erfül­len­den Lebens­traum. Es wird aber durch­aus auf geschick­te und unter­grün­di­ge, aber erkenn­ba­re Wei­se auch die eige­ne Posi­ti­on reflek­tiert, zum Bei­spiel im Ver­lust der Rest-Sicht­bar­keit durch den mit­ti­gen Souf­fleur­kas­ten und die Ver­ban­nung auf die Sei­ten­büh­ne, die nicht glei­cher­ma­ßen Teil der Auf­füh­rung ist: dort unter­hal­ten sich Tech­ni­ker und war­ten­de Sän­ger wäh­rend der Oper … Zugleich zu die­ser wahr­ge­nom­me­nen Mar­gi­na­li­sie­rung – im Kon­trast dazu und zu den Erin­ne­run­gen der prä­fi­gu­rie­ren­den Demü­ti­gun­gen der Schul­zeit (die sehr selt­sam als eine Art Kreu­zi­gung am Rut­schen­ge­rüst erin­nert wer­den, mit Lan­ze und Essig und allem drum­her­um …) ist der Bewuss­st­seins­strom aber auch die Kon­struk­ti­on einer tota­len Macht­po­si­ti­on: von ihr ist alles, ins­be­son­de­re eben die Diva Gils­brod abhän­gig – und damit das gan­ze Thea­ter, die Stadt, das Publi­kum: „mir gehört der Text“ (39).

Der Text ist aber nicht ohne Dra­ma­tur­gie gebaut, zum Bei­spiel ver­schrän­ken und ver­mi­schen sich die diver­sen Zei­ten und Ebe­nen immer mehr. Auch das „Vor­drin­gen“ in die Figur „Gils­brod“ wird geschickt zei­chen­haft genutzt: Es beginnt an der Gren­ze zwi­schen außen und innen des Kör­pers, den Zäh­nen der Sän­ge­rin, und dringt über den Mund­raum immer wei­ter vor/​hinein …

Im Grun­de ist Gils­brod eine gro­ße Rache­phan­ta­sie, die ja auch zu kei­nem Ende kommt: der Bewusst­seins­strom bricht in der gro­ßen (fal­schen!) Kadenz der Gils­brod ab, das „non so d’amarti“ ver­dich­tet sich, bis zu einer Art Man­tra – wenn man das hin­zu­zieht, könn­te es natür­lich auch eine (unbe­wuss­te) Lie­bes­phan­ta­sie sein: „Ich weiß nicht, dass ich dich lie­be“ …

[…] und des­halb gehen die Leu­te ja ins Thea­ter, weil sie nicht allei­ne lachen wol­len und sonst die ande­ren den­ken, sie wären ver­rückt, wie sol­len sie auch lachen, wenn sie nie­man­den zum Lachen haben, und so blei­ben sie lie­ber allein in ihrem Kum­mer, dabei ist es viel bes­ser, gemein­sam zu wei­nen und die Leu­te gehen ja ins Thea­ter, damit sie gemein­sam lachen und auch wei­nen kön­nen, wie auf der Beer­di­gung, sie beer­di­gen ihren Kum­mer im Thea­ter und beer­di­gen sich selbst, vor­zei­tig, sie beer­di­gen sich gegen­sei­tig und beer­di­gen alles, was ist, sie beer­di­gen die Lan­ge­wei­le, das Leben und die Hoff­nung der Figu­ren, die Flug­ver­su­che und die Wet­ter­wech­sel, sie beer­di­gen das Licht hin­ter den Vor­hang­de­cken wie zum Schlaf und zum Abschluss gibt es rau­schen­den Applaus und nie­mand denkt, dass sie ver­rückt sind, auch wenn alle nach vor­ne star­ren […] (69)
Titus Mey­er: Ande­re DNA. Leip­zig: Rei­ne­cke & Voß 2016. 56 Sei­ten. ISBN 978−3−942901−20−8.

Ein gan­zer Roman als Palin­drom, ein Palin­drom als Roman – geht das? Ein paar mei­ner Lek­tü­re­be­ob­ach­tun­gen zu die­ser Fra­ge und ande­ren, die mich beim Lesen von Mey­ers Husa­ren­stück beweg­ten, habe ich schon vor eini­gen Tagen hier notiert.

Chris­ti­an Broe­cking: Die­ses unbän­di­ge Gefühl der Frei­heit. Irè­ne Schwei­zer – Jazz, Avant­gar­de, Poli­tik. Die auto­ri­sier­te Bio­gra­fie. Ber­lin: Broe­cking Ver­lag 2016. 479 Sei­ten. ISBN 9783938763438.

broecking, schweizer-biografie (cover)Eine gro­ße – und außer­dem auch noch auto­ri­sier­te – Bio­gra­fie der gro­ßen Jazz­pia­nis­tin Irè­ne Schwei­zer woll­te Chris­ti­an Broe­cking (den ich vor allem als Autor/​Interviewpartner sei­ner bei­den Respect-Bän­de ken­ne) hier wohl vor­le­gen. Raus­ge­kom­men ist ein müh­sa­mer Bro­cken. Den Broe­cking schreibt auf den immer­hin fast 500 Sei­ten viel­leicht (gefühlt zumin­dest) ein Dut­zend Sät­ze selbst. Die­se Bio­gra­fie ist näm­lich gar kei­ne, es gibt kei­nen Erzäh­ler und eigent­lich auch kei­nen Autor. An deren Stel­len tre­ten (fast) nur Quel­len, das heißt Zeit­zeu­gen, deren Aus­sa­gen zu und über Irè­ne Schwei­zer aus Inter­views hier grob sor­tiert wur­den und höchs­tens mit ein­zel­nen Sät­zen not­dürf­tig zusam­men­ge­flickt wer­den. Der doku­men­ta­ri­sche Anspruch – die ande­ren also ein­fach erzäh­len zu las­sen (aber auch die Fra­gen strei­chen, was manch­mal selt­sa­me „Tex­te“ ergibt) – geht dann auch so weit, dass eng­lisch­spra­chi­ge Ant­wor­ten nicht über­setzt wer­den. Viel Mate­ri­al wird also mehr oder weni­ger sinn­voll gereiht. Nach her­kömm­li­chen Maß­stä­ben ist das eher die Samm­lung, die Vor­ar­beit zu einer eigent­li­chen Bio­gra­fie, die das (ein-)ordnend und deu­tend erzäh­len wür­de.

Dadurch ist das vor allem eine Arbeits­bio­gra­phie und/​oder ein Musik­ta­ge­buch: Wer wann mit wem wo gespielt hat, das gibt den Rah­men für die Lebens­be­schrei­bung ab. Aber selbst das geht mit der Zeit und den Sei­ten der unend­li­chen Rei­hen von Kon­stel­la­tio­nen und Orten zuneh­mend unter, weil es ein­fach zu viel ist. Men­schen kom­men kaum/​nicht vor, nur Funk­tio­nen: Musi­ker, Künst­ler, Orga­ni­sa­to­ren, Label­chefs und (weni­ge) Jour­na­lis­te) – des­halb bie­tet das Buch auch nur Innen­sich­ten aus dem Umfeld Schwei­zers. Und Broe­cking hilft durch sei­ne Abwe­sen­heit als Autor eben auch nicht: Einen außenstehenden/​neutralen (oder wenigs­tens pseu­do-objek­ti­ven) Beob­ach­ter kann der Text nicht auf­wei­sen. Ich den­ke, dar­aus rüh­ren dann auch ande­re Schwä­chen. Vie­les bleibt ein­fach ohne Erklä­rung. Und wenn ich kei­ne Erklä­rung bekom­me, brau­che ich auch kei­ne Bio­gra­fie …

Zum Bei­spiel wird die Grö­ße Schwei­zers zwar immer wie­der beschwo­ren, sie bleibt dabei aber aus­ge­spro­chen unklar, ohne Kon­tu­ren und ohne Grund. Das liegt viel­leicht auch dar­an, dass die Musik in den (sowie­so äußerst knap­pen) Beschrei­bun­gen (Ana­ly­sen kom­men mit Aus­nah­me des zehn­sei­ti­gen Anhangs „Jungle Beats“ von Oli­ver Senn & Toni Bech­told, der anhand exem­pla­risch aus­ge­wähl­ter Auf­nah­men Schwei­zers Musik, ihren Per­so­nal­stil beschreibt, fast über­haupt nicht vor) selbst so gene­risch bleibt: frei impro­vi­siert, dann wird mal die­ser Ein­fluss (Cecil Tay­lor etwa) her­vor­ge­ho­ben, dann mal der jener betont (Monk etwa). Und immer wie­der wird von den Inter­view­ten dar­auf hin­ge­wie­sen, dass sie kei­ne Noten mag. Aber was sie wie spielt, kann man halt nicht so recht lesen, nur in ver­streu­ten Hin­wei­sen und Andeu­tun­gen (die auch eher ihre Prä­senz und Ener­gie auf der Büh­ne betref­fen). Auch die aus­ge­wähl­ten Zita­te aus Kri­ti­ken und Pres­se­be­rich­ten blei­ben erschre­ckend gene­risch. Ähn­lich ist es um die poli­ti­sche Dimen­si­on des Lebens von Irè­ne Schwei­zer und ihrer Musik bestellt: Bei­des wird vor allem behaup­tet („die­se Musik ist poli­tisch“), aber wie und war­um, das steht nir­gends, das wird nicht erklärt (und gera­de da wür­de es (für mich) span­nend wer­den …). Das alles führt dazu, dass mich die Lek­tü­re etwas unbe­frie­digt zurück­ge­las­sen hat: Sicher kommt man um die­sen Band kaum her­um, wenn man sich mit Schwei­zer und/​oder ihrer Musik befasst. Aber Ant­wor­ten kann er kaum geben.

Ian Bostridge: Schu­berts Win­ter­rei­se. Lie­der von Lie­be und Schmerz. Mün­chen: Beck 2015. 405 Sei­ten. ISBN 978−3−406−68248−3.
Mei­ne Ein­drü­cke von Ian Bostridges gro­ßem, umfas­sen­den Buch über die Schu­bert­sche Win­ter­rei­se haben einen eige­nen Ein­trag bekom­men, und zwar hier: klick.

außer­dem gele­sen:

  • Katha­ri­na Rög­g­la: Cri­ti­cal Whiten­ess Stu­dies und ihre poli­ti­schen Hand­lungsmö­lich­kei­ten für Wei­ße Anti­ras­sis­tIn­nen. Wien: man­del­baum kri­tik & uto­pie 2012 (Intro. Eine Ein­füh­rung). 131 Sei­ten.
  • Sel­ma Meer­baum-Eisin­ger: Blü­ten­le­se. Gedich­te. Stutt­gart: Reclam 2013. 136 Sei­ten.
  • Moni­ka Rinck: Wir. Phä­no­me­ne im Plu­ral. Ber­lin: Ver­lags­haus Ber­lin 2015 (Edi­ti­on Poe­ti­con 10).

Helden

–Zu Jeder­zeit sind Hel­den­tum & Blöd­heit ein­an­der ähn­lich wie Zwil­lings­brü­der, sie sehen zu ver­schie­de­nen Zei­ten & an ver­schie­de­nen Orten nur anders aus; haben jedoch Heer­scha­ren von Ver­wand­ten. Und von Alten Hel­den über­le­ben immer die-Pfer­de, von den Neu­en Hel­den die-Akten­ta­schen. Rein­hard Jirgl, Oben das Feu­er, unten der Berg, 95

Bücherleben

– –Dann müßtn Sie auch noch auf die-Bücher auf­pas­sen. – Erwi­der­te ich im sel­ben Ton. –Denn Bücher leben. Und was lebt, das will – sich behaup­ten.Rein­hard Jirgl, Oben das Feu­er, unten der Berg, 232

Aus-Lese #27

Tino Han­ekamp: So was von da. Köln: Kie­pen­heu­er & Witsch 2011. 302 Sei­ten.

Der Klap­pen­text ver­heißt gro­ßes: „Ham­burg, St. Pau­li, 31.12. Auf dem Kiez beginnt die irrs­te Nacht des Jah­res. Nur Oskar Wro­bel wür­de lie­ber lie­gen blei­ben. Geht aber nicht. Weil ihm gleich sein Leben um die Ohren fliegt.“ Han­ekamps sprach­lich und for­mal nicht wei­ter bemer­kens­wer­ter Roman ist eine schnel­le Lek­tü­re, die mit durch­aus packen­dem Dri­ve die Geschich­te der letz­ten Par­ty eines Clubs in Ham­burg erzählt. Ganz schön die Deckung von erzähl­ter Zeit und Tem­po der Erzäh­lung, die sich in der Stei­ge­rung bis zum Kol­laps im Rausch (der Ver­nich­tung) nie­der­schlägt – dann fol­gen eini­ge leere/​blanke Sei­ten, bevor der Erzäh­ler in einer­re­sü­mie­ren­den Abschluss­be­mer­kung, die lei­der total schwach und banal ist, noch ein­mal das Wort ergreift. Viel bleibt davon nicht, aber eine net­te Zeit kann man mit dem Buch schon ver­brin­gen.

Hen­ning Ahrens: Kein Schlaf in Sicht. Frank­furt am Main: S. Fischer 2008. 92 Sei­ten.

Die ers­ten Sei­ten emp­fan­gen mich mit lau­ter Platt­hei­ten in bana­ler Spra­che – eigent­lich ist das (im Kern) Pro­sa, noch dazu prä­ten­tio­ös und leer. Und so geht es lei­der wei­ter: Man schleppt sich als Leser fort durch den Band, ein paar (sehr) weni­ge ordent­lich Gedich­te sind dabei, aber viel als Mit­tel­maß noch gelob­tes prägt den Lese­ein­druck. „Stil­le satt“, aus dem die Titel­zei­le kommt, gehört noch zu den bes­ten Gedich­ten hier. Und Kein Schlaf in Sicht stimmt lei­der über­haupt nicht – einer der lang­wei­ligs­ten und ein­schlä­fernds­ten Lyrik­bän­de, die ich las: Nichts zün­det, alles bleibt irgend­wie rei­ne Deskrip­ti­on, die auch sprach­lich über­haupt nicht ima­gi­na­tiv scheint, kei­ne neu­en (Denk-/Vorstellungs-)Räume öff­net, son­dern nur „Welt“ ohne Poe­ti­sie­rung bie­tet. Das hat mich über­rascht, den als Erzäh­ler habe ich Hen­ning Ahrens durch­aus schät­zen gelernt.

Rein­hard Jirgl: Nichts von euch auf Erden. Mün­chen: Han­ser 2012. 510 Sei­ten.

Hm, irgend­wie ver­lässt er mich hier: Selbst als Jirgl-Fan kann ich damit wenig anfan­gen. Klar, das ist durch­aus hand­werk­lich geschickt. Aber auch reich­lich lang­wei­lig. Das liegt unter ande­rem dar­an, dass es in wesent­li­chen Tei­len furcht­bar lang­at­mig und weit­schwei­fig ist. Auch sei­ne ortho­gra­fi­sche Sti­lis­tik (oder sti­lis­ti­sche Ortho­gra­fie) hilft hier nur beschränkt – irgend­wie passt sie in ihrer Ver­lang­sa­mungs- und Inten­si­vie­rungs­ten­denz nicht zum Stoff, der eher nach Tem­po und Geschwin­dig­keit ver­langt. Zu durch­schau­bar erscheint mir auch die Pro­jek­ti­on heu­ti­ger Pro­ble­me (öko­lo­gi­sche, gesell­schaft­li­che, poli­ti­sche) gleich ins 25. Jahr­hun­dert. Ande­res miss­fällt ein­fach – so blei­ben die Geschlech­ter­rol­len etwa total im Kli­schee: Frau­en­fi­gu­ren gibt es eh‘ nur weni­ge, dazu noch tota­le alt­mo­di­sche Rol­len­kli­schees, wie „die-eine“ oder auch die begeg­nung mit der Mar­sia­ne­rin IO, die Erfül­lung dann nur im „weib­li­chen“ fin­det und sich dem Mann/​Sohn opfert ..

Der gan­ze Text scheint mir durch­zo­gen von einem (kultur-)pessimistischen Men­schen­bild, vor allem eine deut­li­che Ver­ach­tung der Men­ge & Mas­se, die hier eher als Art Pöbel auf­taucht – und Objekt der Mani­pu­la­ti­on der Herr­schen­den (auf allen Ebe­nen) ist, bricht sich immer wie­der Bahn. Das gip­felt dann in einer End­zeit, der tota­len Hybris der Men­schen: Die Flucht ins All vor den Pro­ble­men der Mensch­heit (die vor allem aus ihren Mas­sen resul­tie­ren …) schlägt fehlt, kippt in eine Art Apo­ka­lyp­se. Über­lebt wer­den Unter­gang von Mars & Erde nur von den sich selbst (fort-)schreibenden „mor­fo­lo­gi­schen Büchern“ im „Roman der Zukunft“.

Hans-Ulrich Tha­mer: Die Völ­ker­schlacht bei Leip­zig. Euro­pas Kampf gegen Napo­le­on. Mün­chen: Beck 2013 (C.H.Beck Wis­sen). 126 Sei­ten.

Tha­mer beginnt sei­ne klei­ne Geschich­te der Völ­ker­schlacht mit einer sehr umfas­sen­den und prä­zi­sen Schil­de­rung der Hin­ter­grün­de, alsoe die Ent­wick­lun­gen und Stel­lun­gen Euro­pas am Beginn des 19. Jahr­hun­derts. So beschreibt er die Völ­ker­schlacht im Rah­men der Befrei­ungs­krie­ge, die Tha­mer vor allem als Kabi­netts- und Koali­ti­ons­krie­ge wer­tet und dabei inso­fern „neue“ Krie­ge dar­stel­len, als sie Mas­sen­krie­ge sind, die neue Bru­ta­li­tät frei­set­zen und in der Fol­ge eine neue Erin­ne­rungs­kul­tur, wor­auf Tha­mer eben­falls Wert legt: Der „Wan­del der Kriegs­deu­tung und Kriegs­er­fah­rung“ (115) zu einer „Ideo­lo­gi­sie­rung des Krie­ges“ im vater­län­di­schen Inter­es­se ist ein zen­tra­ler Punkt sei­ner Dar­stel­lung.

Die eigent­li­che Schlacht wird dabei sehr gedrängt geschil­dert, ein oder zwei Kar­ten hät­ten dem noch ganz gut getan. Zum Glück bleibt er aber nicht dabei ste­hen, son­dern fügt ein kur­zes Kapi­tel zu den „Kul­tu­ren der Gewalt“ an und schließt eben mit einem gro­ßen Über­blick über die Ent­wick­lung „vom Schlacht­feld zum Erin­ne­rung­ort“, das sich vor allem mit der zei­tenös­si­schen und spä­te­ren Sinn­ge­bung und Mythi­fi­zie­rung, der Ein­bet­tung in und Nut­zung der Völ­ker­schlacht für poli­tisch-reli­giö­se natio­na­lis­ti­sche und libe­ra­le Dis­kur­se beschäf­tigt.

außer­dem gele­sen:

  • Zeit Geschich­te #3–2013 mit dem The­ma „Faschis­mus“
  • Text+Kritik 201: Ulri­ke Draes­ner

jirgl erhält den feuchtwanger-preis

rein­hard jirgl, in mei­nen augen einer der ganz weni­gen ganz gro­ßen leben­den deut­schen schrift­stel­ler (in der bedeu­tung als sprach-künst­ler) erhält heu­te den lion-feucht­wan­ger-preis für his­to­ri­sche roma­ne. fast ein wenig iro­nisch, die­se aus­zeich­nung. denn auch wenn jirgls roma­ne sich the­ma­tisch mit der ver­gan­gen­heit beschäf­ti­gen (zwar nicht unbe­dingt in ers­ter linie, wie es die pres­se­mit­tei­lung der aka­de­mie der küns­te will, mit „mit hei­ßen Eisen, die sonst kei­ner anfas­sen mag“), so fällt mir ihre cha­rak­te­ri­sie­rung als „his­to­ri­sche“ roma­ne doch eher schwer. das liegt natür­lich zum einen an der form/​kategorie selbst, die ja in der regel nur ein zerr­bild ihrer selbst ist, zum ande­ren aber auch an jirgls tex­ten – denn in mei­ner lek­tü­re gibt es kaum gegen­wär­ti­ge­re tex­te als jirgls roma­ne. da ist die titu­lie­rung als „his­to­risch“ eben eher unge­wöhn­lich. die cha­rak­te­ri­sie­rung als „his­to­rio­gra­phi­sche meta­fik­ti­on“, auch wenn sie ein begriff­li­ches unge­heu­er ist, scheint mir – als ((post-)moderne) vari­an­te und fort­set­zung des „klas­si­schen“ his­to­ri­schen romans für jirgl geeig­ne­ter. aber dafür gibt es (noch) kei­ne prei­se.

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