Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: irène schweizer

Hineingehört #2

Goldige Klänge

the king's singers, gold (cover)Die Jubi­lä­ums-Drei­fach-CD der King’s Sin­gers mit dem schö­nen und pas­sen­den Titel Gold habe ich schon bespro­chen: klick. Es ist wirk­lich eine schö­ne und umfas­sen­de Doku­men­ta­ti­on der Kern­fä­hig­kei­ten der eng­li­schen Boy Group, auch nach der jüngs­ten Beset­zungs­än­de­rung immer noch mit den alten klang­li­chen (Gold-)Qualitäten. Es ist ziem­lich egal, ob sie Renais­sance-Motet­ten oder raf­fi­nier­te Arran­ge­ments von Pop-Songs sin­gen. Alles, was sie sich vor­neh­men, machen sie sich unab­ding­bar zu eigen. Und so klin­gen dann fünf Jahr­hun­der­te Musik doch ziem­lich gleich – wie fünf Jahr­zehn­te King’s Sin­gers eben.

The King’s Sin­gers: Gold. Signum Records 2017. 67:37 + 61:15 + 65:37 Minu­ten.

Liebe für den und im Gesang

the king's men, love from king's (cover)Ein Nach­bar-Pro­jekt sind die „King’s Men“, die am King’s Col­lege stu­die­ren (im Gegen­satz zu den King’s Sin­gers …). Ihr Album ist tat­säch­lich ganz lieb­rei­zend – es trägt ja auch den Titel Love from King’s. Zu den Lie­bes­lied-Klas­si­kern habe ich auch schon etwas (für die Chor­zeit) geschrie­ben: klick. Hier brin­gen die „King’s Men“ die Musik und den Stim­men­klang immer wie­der wirk­lich zum Fun­keln und auch fast zum eksta­ti­schen Tan­zen – so wie man sich auch die Lie­be wünscht. Wie die „King’s Men“ hier mit eher beschei­de­nen musi­ka­li­schen Mit­teln einen enor­men akus­ti­schen und emo­tio­na­len Raum und eine gera­de­zu über­wäl­ti­gen­de klang­li­che Fül­le zau­bern, das ist ein­fach wun­der­bar.

The King’s Men: Love from King’s. The Recor­dings of King’s Col­lege Cam­bridge 2018. 47:22 Minu­ten.

Wiederentdeckte Monster

musical monsters (cover)Die Musi­cal Mons­ters sind eigent­lich gar kei­ne neue Musik. Auf­ge­nom­men wur­de das näm­lich schon 1980 bein Jazz­fes­ti­val Wil­li­s­au. Des­sen Chef Niklaus Trox­ler hat die Bän­der gut auf­ge­ho­ben. Und Intakt konn­te sie jetzt, nach umständ­li­cher Rech­te­ab­klä­rung, end­lich ver­öf­fent­li­chen. Zu hören ist ein Quin­tett mit gro­ßen Namen: Don Cher­ry, Irè­ne Schwei­zer, Pierre Fav­re, John Tchi­cai und Léon Fran­cio­li, das es so sonst nicht zu hören gibt. Und tat­säch­lich merkt man das doch recht deut­lich, dass hier gro­ße Meister*innen am Werk sind, auch wenn sie sonst nicht zusam­men spiel­ten. Aber Musi­cal Mons­ters ist eine aus­ge­las­se­ne, fröh­li­che, inten­si­ve Musik. Selbst wenn das tech­nisch nicht immer per­fekt sein mag: Es ist leben­dig. Und das ist dann doch irgend­wie die Haupt­sa­che.

Don Cher­ry, John Tchi­cai, Irè­ne Schwei­zer, Léon Fran­cio­li, Pierre Fav­re: Musi­cal Mons­ters. Intakt Records CD 269, 2016. 59:28 Minu­ten.
free music (unsplash.com)

Hineingehört #1

Eine klei­ne Intakt-Aus­le­se aus dem zwei­ten Halb­jahr – dank des vor­treff­li­chen Abon­ne­ments bekom­me ich ja immer alle Ver­öf­fent­li­chun­gen post­wen­dend gelie­fert:

Musikalische Monster

musical monsters (cover)Die Musi­cal Mons­ters sind eigent­lich gar kei­ne neue Musik. Auf­ge­nom­men wur­de das näm­lich schon 1980 bein Jazz­fes­ti­val Wil­li­s­au. Des­sen Chef Niklaus Trox­ler hat die Bän­der gut auf­ge­ho­ben. Und Intakt konn­te sie jetzt, nach umständ­li­cher Rech­te­ab­klä­rung, end­lich ver­öf­fent­li­chen. Zu hören ist ein Quin­tett mit gro­ßen Namen: Don Cher­ry, Irè­ne Schwei­zer, Pierre Fav­re, John Tchi­cai und Léon Fran­cio­li, das es so sonst nicht zu hören gibt. Am erstaun­lichs­ten fand ich, wie wenig man die 36 Jah­re, die die Auf­nah­me alt ist, der Musik anhört. Die vier groß­for­ma­ti­gen, größ­ten­teils frei­en Impro­vi­sa­tio­nen – es gibt ein paar melo­disch fixier­te Anker­punk­te, die als fest­ge­leg­te Schar­nie­re zwi­schen Solo- und Kol­lek­tiv­im­pro­sia­tio­nen die­nen – klin­gen erstaun­lich frisch, ja fast zeit­los: Die intui­ti­ve Spon­ta­nei­tät und Inten­si­tät ist ziem­lich fes­selnd. Vor allem, weil sie von allem etwas bie­tet – ver­spiel­te Faxen, inti­me Momen­te, packen­de Ener­gien … Und weil die fünf ziem­lich gleich­wer­ti­ge, glei­cher­ma­ßen fas­zi­nie­ren­de Musi­ke­rin­nen sind, die sich immer wie­der zu gro­ßen Momen­ten inne­rer Stär­ke auf­schwin­gen, die in erstaun­li­cher Dich­te auf­ein­an­der fol­gen und zuwei­len sogar ech­tes Pathos erzeu­gen. Beson­ders fas­zi­nie­rend fand ich das in der zwei­ten Impro­vi­sa­ti­on, mit über zwan­zig Minu­ten auch die längs­te, in der sich groß­ar­ti­ge Soli (vor allem Tchi­cai sticht hier her­vor) und span­nen­de, in ihrer fra­gen­den Offen­heit unge­mein fes­seln­de Grup­pen­im­pro­vi­sa­tio­nen bal­len.

Don Cher­ry, John Tchi­cai, Irè­ne Schwei­zer, Léon Fran­cio­li, Pierre Fav­re: Musi­cal Mons­ters. Intakt Records CD 269, 2016. 59:28 Minu­ten.

Tiefe Gedächtnismusik

deep memory (cover)Für Deep Memo­ry hat sich Bar­ry Guy, der die CD im Trio mit Mari­lyn Cris­pell und Paul Lyt­ton auf­nahm, von den Bil­dern Hug­hie O’ Donoghues zu Kom­po­si­tio­nen anre­gen las­sen. Die sie­ben Stü­cke tra­gen die Titel der Bil­der: Slee­per, Dark Days, Fal­len Angeld oder Silen­ced Music hei­ßen sie etwa. Das sind aber kei­ne musi­ka­li­schen Ekphra­sen, son­dern eher Kom­po­si­tio­nen, die sich von dem Bild – sei­nen Far­ben, sei­ner Gestalt und vor allem viel­leicht: sei­ner Stim­mung – zu akus­ti­schen Ein­drü­cken inspi­rie­ren las­sen. Vie­les davon lässt sich in wei­ten Bögen, oft ver­träumt-ver­spon­nen und/​oder nach­denk­lich, tra­gen und speist sich nicht unwe­sent­lich aus dem inti­men Zusam­men­spiel des Tri­os, das ja schon seit gefühl­ten Ewig­kei­ten immer wie­der mit­ein­an­der musi­ziert und der Effekt­ha­sche­rei aus­ge­spro­chen abhold ist. Und das auch auf Deep Memo­ry vor allem durch sei­ne kam­mer­mu­si­ka­li­sche Dich­te und Inten­si­tät der far­ben­präch­ti­gen, ten­den­zi­ell melan­cho­li­schen Klang­ma­le­rei gefällt. Die befin­den sich, so hört es sich an, eigent­lich immer auf der glei­chen Wel­len­län­ge, um die­ses stra­pa­zier­te, hier aber sehr pas­sen­de Bild zu benut­zen.

Bar­ry Guy, Mari­lyn Cris­pell, Paul Lyt­ton: Deep Memo­ry. Intakt Records CD 273, 2016. 52:07 Minu­ten.

Am großen Rad drehen

christoph irniger pilgrim, big wheel live (cover)Big Wheel Live ist die zwei­te CD von Chris­to­pher Irni­ger Pil­grim, wie der span­nen­de Saxo­fo­nist, Kom­po­nist & Band­lea­der Irni­ger sein Quin­tett mit Ste­fan Aeby, Davie Gis­ler, Raf­fae­le Bos­sard und Michi Stulz nennt. Auch wenn das „Live“ wirk­lich auf Live-Auf­nah­men (in Ber­lin, Rat­ze­burg und Alten­burg) zurück­geht, klingt die CD rich­tig gut. Und das ist in sofern beson­ders schön, weil gera­de Aeby ein sehr klang­sin­ni­ger Pia­nist ist.
Die gan­ze Musik auf Big Wheel Live zeich­net sich mei­nes Erach­tens nicht nur durch ihren kraft­vol­len Sound aus, son­dern vor allem durch ihre Räum­lich­keit und Tie­fe. Oft ist das nur lose ver­bun­den, nur locker gewebt, gibt so den Fün­fen aber viel Chan­cen zum aus­grei­fen­den Erfor­schen. Und der Frei­raum zum Erkun­den, die Öff­nung in alle Him­mels­rich­tun­gen wird weid­lich genutzt: Man hört eigent­lich immer eine per­ma­nen­te Such­be­we­gung, die stets fort­schrei­tet, die beim schö­nen Augen­blick ver­weilt, son­dern immer wei­ter will – wie es gute impro­vi­sier­te Musik eben (fast) immer tut. Neben Aeby, der sich immer mehr zu einem sehr inter­es­san­ten Pia­nist ent­wi­ckeln zu scheint, hat mir hier vor allem die oft sehr span­nen­de, über­ra­schen­de Spiel­wei­se des Schlag­zeu­gers Michi Stulz gefal­len. Gitar­rist Dave Gis­ler und Irni­gers Saxo­phon umspie­len sich oft sehr eng. Ent­schei­dend aber in allen sechs Titeln: Das bleibt immer im Fluss, die Ideen ver­san­den eigent­lich nie, son­dern fin­den immer neue Pfa­de und Wege.

Chris­toph Irni­ger Pil­grim: Big Wheel Live. Intakt Records CD 271, 2016. 62:44 Minu­ten.

Das unsterbliche Trio

schlippenbach trio, warsaw concert (cover)Viel­leicht ist es das euro­päi­sche Jazz­trio schlecht­hin, sicher­lich wohl das am längs­ten amtie­ren­de: Alex­an­der von Schlip­pen­bach, Evan Par­ker und Paul Lovens sind das Schlip­pen­bach-Trio. Und zwar schon ewig. Und jedes Jahr sind wie wie­der unter­wegs (die schö­ne Film-Doku­men­ta­ti­on Aber das Wort Hund bellt ja nicht hat die jähr­li­che „Win­ter­rei­se“ des Tri­os ja sehr anschau­lich gemacht), immer wie­der in der glei­chen Beset­zung mit immer ande­rer Musik – nicht ohne Selbst­iro­nie nennt Schlip­pen­bach das im Begleit­heft des­halb „das unsterb­li­che Trio“.
Erstaun­lich dar­an ist vor allem, dass es nicht lang­wei­lig wird, dass die­se gro­ße Ver­traut­heit mit­ein­an­der nicht in Belang­lo­sig­kei­ten mün­det. Auch das War­saw Con­cert ist wie­der eine auf­nah­me­tech­nisch und musi­ka­lisch gut gelun­ge­ne Live-Auf­nah­me vom Okto­ber 2015. Und beim Schlip­pen­bach-Trio heißt das: Eine ein­zi­ge lan­ge Impro­vi­sa­ti­on ohne Pau­sen oder Unter­bre­chun­gen, ohne Ver­ab­re­dun­gen und ohne Kom­po­si­ti­on – knapp 52 Minu­ten sind das (dazu kommt noch eine kur­ze, fast humo­ris­ti­sche Zuga­be).
Der ers­te Ein­druck: Net­te Musik – das funk­tio­niert ein­fach, das passt. Und das ist wirk­lich Musik der Frei­heit: Weil sie sich (und dem Publi­kum) nichts (mehr) bewei­sen müs­sen. Und: Weil sie viel kön­nen, enorm viel, sowohl allei­ne mit ihren Instru­men­ten als auch zusam­men als Trio. Des­halb schöpf­ten sie mit locke­rer Hand auch in War­schau eine Viel­falt der Stim­mun­gen. Vie­les klingt viel­leicht etwas alters­mil­de in der Klar­heit und dem lyri­schen Aus­druck (wenn man das so deu­ten möch­te), stel­len­wei­se aber durch­aus auch boh­rend und insis­tie­rend. Das ist ein­fach aus­ge­zeich­ne­ter, gelun­ge­ner, „klas­si­scher“ Free Jazz, den man ger­ne wie­der­holt anhört und ver­sucht nach­zu­voll­zie­hen.

Schlip­pen­bach Trio: War­saw Con­cert. Intakt Records CD 275, 2016. 56:36 Minu­ten.

Zur Erleuchtung

aeby trio, to the light (cover)Ste­fan Aeby war ja auch schon im Chris­toph Irni­ger Pil­grim ver­tre­ten, hier ist nun noch ein­mal als „Chef“ mit sei­nem eige­nen Trio zu hören, das aber mit Michi Stulz am Schlag­zeug noch eine wei­te­re Per­son mit dem Pil­grim-Ensem­ble teilt. To the Light ist eine Musik des Klan­ges: Ich höre hier nicht so sehr rhyth­misch und/​oder har­mo­ni­sche Struk­tu­ren, son­dern vor allem Klän­ge. Klän­ge, die sich immer wie­der zu klei­nen Sze­nen und ima­gi­nä­ren Bil­dern for­men. Das Trio passt da in die­ser Hin­sicht aus­ge­zeich­net zusam­men: Nicht nur Ste­fan Aeby am Kla­vier ist ein biss­chen ein Klang­ma­gi­er, auch der Bass von André Pou­saz hat erstaun­li­che Qua­li­tä­ten (beson­ders schön im Titel­stück wahr­zu­neh­men, das sowie­so eine ziem­lich groß­ar­ti­ge Sache ist). Und Michi Stulz, mit hal­li­gen Becken und eng klin­gen­den Toms zau­bert für einen Schlag­zeu­ger erstaun­lich flä­chi­ge Klän­ge. Das ist ein poe­ti­scher Sound, eine wei­che und wan­del­ba­re Klang­ge­stalt, die mir aus­ge­zeich­net gefällt. Vie­les ist (min­des­tens ten­den­zi­ell) leicht ver­träumt und klingt mit roman­tisch-impres­sio­nis­ti­schem Ein­schlag, ist dabei aber kei­nes­wegs schwind­süch­tig, son­dern durch­aus mit gesun­der Kraft und Potenz musi­ziert, die aber nie auf­trump­fend aus­ge­spielt wird: So klin­gen Musi­ker, die sich nichts bewei­sen müs­sen, möch­te ich ver­mu­ten. Die Musi­ker muss man sich wohl immer als lau­schen­de Instru­men­ta­lis­ten vor­stel­len: Viel­leicht ist es ja sowie­so gera­de das (Zu-)Hören, das gute Impro­vi­sa­to­rin­nen (oder Jaz­zer) aus­macht. Oder, wie es Flo­ri­an Kel­ler im Begleit­text sehr tref­fend for­mu­liert: „Eine Musik, die die Figur des Lau­schers ent­ste­hen lässt. Und die­sem viel Raum für sei­ne Fan­ta­sie gewährt.“

Ste­fan Aeby Trio: To the Light. Intakt Records CD 274, 2016. xx:28 Minu­ten.
schweizer, piano solo 1 (cover)

Taglied 25.7.2016

Aus irgend einem Grund waren mir die ers­ten Auf­nah­men von Irè­ne Schwei­zer bei Intakt bis­her unbe­kannt. Das ist eine gro­ße Schan­de, denn das ist groß­ar­ti­ge Musik. Zum Bei­spiel die bei­den Solo-Alben (mit dem etwas ein­falls­lo­sen Titel „Pia­no Solo, Vol. 1“ bzw. „… 2“). Da ist auch die wun­der­ba­re „Bal­lad of the sad Café“ zu fin­den:

https://soundcloud.com/hochschuleluzern/ballad-of-the-sad-café-piano

Taglied 21.7.2016

Irè­ne Schwei­zer & Pierre Fav­re, Fly­ing over the Lim­mat:


Beim Kli­cken auf das und beim Abspie­len des von You­Tube ein­ge­bet­te­ten Vide­os wer­den (u. U. per­so­nen­be­zo­ge­ne) Daten wie die IP-Adres­se an You­Tube über­tra­gen.

(ich höre mich gera­de durch eini­ge der älte­ren Schwei­zer-Auf­nah­men – da sind wirk­lich tol­le Sachen dabei …)

Aus-Lese #45

Rein­hard Jirgl: Oben das Feu­er, unten der Berg. Mün­chen: Han­ser 2016. 288 Sei­ten.

–Sie wur­den gebo­ren, arbei­te­ten, und sie star­ben. Wäre Leben so=einfach so=kurz wie die­ser Satz, Leben, wäre gewiß glück­vol­ler. Leben aber dau­ert län­ger als 1 Satz. (31)

jirgl, oben das feuerOben das Feu­er, unten der Berg – an dem Buch ist nicht nur der Titel selt­sam und rät­sel­haft. Ich bin ja eigent­lich ein gro­ßer Bewun­de­rer der Wer­ke Rein­hard Jirgls, aber mit die­sem Roman kann ich wenig bis gar nichts anfan­gen. Das, was von einer Geschich­te übrig ist, ist rät­sel­haft, schwankt zwi­schen Kri­mi und Ver­schwö­rungs­theo­rie, Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung und Ver­bit­te­rung. Die auf­tau­chen­den Figu­ren sind eigent­lich lau­ter kaput­te Men­schen. Oder: Sie wer­den kaputt gemacht, durch das „Sys­tem“, die Macht oder ähn­li­che Instan­zen. Die grau­sa­me Bru­ta­li­tät der Welt, der Macht und der Mäch­ti­gen, die die Moral nur als Deck­man­tel und Beru­hi­gung fürs Volk (wenn über­haupt) haben, benut­zen – den gan­zen Text durch­dringt eine sehr schwar­ze, pes­si­mis­ti­sche Welt­sicht. So weit, so gut (oder auch nicht, aber das ist ja erst mal egal). Frag­wür­dig bleibt mir aber doch ein­fach vie­les. Auf dem Schutz­um­schlag steht etwa: „Titel, Text­vo­lu­men und Rei­hen­fol­ge der Kapi­tel im Roman sind von dem alt­chi­ne­si­schen Ora­kel I‑Ging bestimmt.“ – Zum einen: was soll das? Ich habe kei­ne Ahnung … Zum ande­ren: Ich bezweif­le fast, dass das über­haupt stimmt …

In den fas­zi­nie­ren­den, genau­en, poe­ti­schen (d.i. lyri­schen) Beschrei­bun­gen, ja, der gera­de­zu über­bor­den­den Beschrei­bungs­ge­nau­ig­keit liegt viel­leicht die größ­te Stär­ke des Romans, auch durch die Spe­zi­al­or­tho­gra­fie, die näm­lich Mög­lich­kei­ten und Deu­tun­gen der Spra­che ver­deut­li­chen, ver­eindeu­ti­gen oder über­haupt erst eröff­nen kann. Auf der ande­ren Sei­te hat­te ich oft den Ein­druck eines „ver­wil­der­ten“ Text, der sich von sich selbst trei­ben lässt und der im Zick­zack-Kreis des Erzäh­lens „der“ Geschich­te kei­ne wie auch immer gear­te­te Ord­nung gel­ten lässt (zumin­dest kei­ne, die ich erken­nen könn­te). Selt­sam fin­de ich auch: Eigent­lich pas­siert das meis­te des Romans auf pri­va­ter, ja inti­mer Ebe­ne. Aber dann will der Roman doch die ganz gro­ßen The­men behan­deln (z.B. die Macht und die Moral) – das pas­siert dann (damit es jeder merkt) v.a./nur durch das neun­mal­klu­ge Dozie­ren der Figu­ren, in deren Erkennt­nis­sen, in deren Durch­schau­en der Welt und der Ver­schwö­run­gen) sich der Erzäh­ler (und viel­leicht auch der Autor) zu allem und jedem äußern kann, sei­ne Posi­ti­on als wah­re absi­chern und mit­tei­len kann.

?Wo in all­die­ser unermeßlichen=Unendlichkeit blieb eigent­lich ?mein Web­fa­den, ?meine=!ureigene Spur, die mich etwas Unver­wech­sel­ba­res in die­ses uner­schöpf­li­che Lebens­wisch­ha­der­ge­filz hät­te hin1prägen las­sen. (230)

Danie­la Danz: Lan­ge Fluch­ten. Göt­tin­gen: Wall­stein 2016. 146 Sei­ten.
Zu dem sehr gelun­gen klei­nen Roman von Danie­la Danz – die übri­gens auch vor­treff­li­che Lyrik schreibt – habe ich vor eini­gen Tagen schon etwas geschrie­ben: Lan­ge Fluch­ten, gebro­che­ne Men­schen.
Wil­helm Leh­mann: Ein Lese­buch. Aus­ge­wähl­te Lyrik und Pro­sa. Her­aus­ge­ge­ben von Uwe Pörk­sen, Jut­ta Johann­sen und Hein­rich Dete­ring. Göt­tin­gen: Wall­stein 2011. 160 Sei­ten.

lehmann, lesebuchAuf Wil­helm Leh­mann bin ich erst durch die zwei­te Aus­ga­be des Gel­ben Akro­ba­ten von Micha­el Braun und Micha­el Busel­mei­er auf­merk­sam gewor­den. Leh­mann, der von bis vor allem an der Küs­te leb­te, war als Leh­rer sowohl ein aus­ge­zeich­ne­ter Natur­be­ob­ach­ter als auch ein star­ker Dich­ter, wie ich anhand des Lese­buchs leicht fest­stel­len konn­te. Dort bie­ten die drei Her­aus­ge­ber eine Aus­wahl aus der mehr­bän­di­gen Werk­aus­ga­be: (viel) Lyrik, etwas aus den Tage­bü­chern, eini­ge Aus­zü­ge aus theoretischen/​poetologischen Essays und ein wenig Pro­sa. Inwie­weit das ein reprä­sen­ta­ti­ves Bild abgibt, kann ich nicht beur­tei­len. Sagen kann ich nur, dass das, was ich hier gele­sen habe, fas­zi­nie­ren­de Momen­te hat. Die mich am meis­ten berüh­ren­den Tex­te und Pas­sa­gen waren wohl die, wo sich der peni­ble und wis­sen­de Natur­be­ob­ach­ter mit dem bild­kräf­ti­gen Lyri­ker ver­bin­det.

Aus vie­len der Natur­be­schrei­bun­gen der Gedich­te spricht eine lei­se Weh­mut: Die Natur ist für Leh­mann ganz offen­bar ein Ort, an dem die göttliche/​geschöpfte/​schöpferische Ord­nung noch gilt und dann auch zu beob­ach­ten ist; sie bleibt vom Cha­os, der Gewalt und dem Schmerz der Men­schen (den sich die Men­schen gegen­sei­tig (und ihr) zufü­gen) unbe­rührt. Sol­che Lyrik ist, wie er es in einem Auf­satz ein­mal auf den Punkt bringt: „Poe­sie als Ein­wil­li­gung in das Sein“.

Gera­de in der Zeit des Zwei­ten Welt­krie­ges scheint sich das aber zu ändern: Zuneh­mend wer­den Natur und Menschenwelt/​Zeitgeschichte im Gedicht kon­fron­tiert, meist neben­ein­an­der gestellt (sozu­sa­gen ohne ter­ti­um com­pa­ra­tio­nis): Hier die gleich­för­mi­ge (im Sin­ne von in einem fes­ten Rhyth­mus sich wie­der­ho­len­de), ver­trau­te (d.h. auch: les­ba­re, ent­schlüs­sel­ba­re, ver­steh­ba­re) Natur, dort der uner­hör­te Schre­cken, das unge­se­he­ne und unge­ahn­te Grau­en des Welt­kriegs. Das bleibt aber immer sehr sub­til und – gera­de in den Beschrei­bun­gen und Schil­de­run­gen – sehr kunst­voll, in fein aus­ta­rier­ten Rhyth­men und mit oft sehr har­mo­nisch, fast selbst­ver­ständ­lich wir­ken­den Rei­men aus­ge­ar­bei­tet. Am bes­ten ver­deut­licht das viel­leicht ein Gedicht wie „Fal­len­de Welt“:

Das Schwei­gen wur­de
Sich selbst zu schwer:
Als Kuckuck fliegt sei­ne Stim­me umher.

Mit bron­ze­nen Füßen
Lan­det er an,
Gefleck­tes Kleid
Hat er ange­tan.

Die lose Welt,
Wird sie bald fal­len?
Da hört sie den Kuckuck
Im Grun­de schal­len.

Mit schnel­len Rufen
Ruft er sie fest.
Nun dau­ert sie
Den Zei­ten­rest.

Sabi­ne Bergk: Gils­brod. Novel­le. Ber­lin: Dittrich 2012. 132 Sei­ten.

bergk, gilsbrod (cover)Der Ver­lag nennt die auf der Opern­büh­ne spie­len­de Novel­le von Sabi­ne Bergk „Über­trei­bungs­li­te­ra­tur”. Das stimmt natür­lich, trifft den Kern des vor allem phan­tas­ti­schen und absur­den Tex­tes aber nur halb. Gils­brod ist eine Ein-Satz-Novel­le mit 130 Sei­ten unge­bro­che­nem stream of con­scious­ness. Das ist natür­lich nicht völ­lig neu, spon­tan fällt mir aus letz­ter Zeit etwa Xaver Bay­ers Wenn die Kin­der Stei­ne ins Was­ser wer­fen (2011) ein, das ähn­lich funk­tio­niert. Hier, also in Gils­brod, lesen wir das Bewusst­sein einer Opern­souf­fleu­se, die im ent­schei­den­den Moment der Thea­ter­di­va nicht aus­hilft und sie des­halb in eine impro­vi­sier­te Kadenz auf dem fal­schen Text treibt. Ein Ende hat der Text nicht, er bricht ein­fach ab. Bis dahin ist er aber dicht und unter­halt­sam, phan­tas­tisch und absurd, trau­rig und komisch zugleich. Oder zumin­dest abwech­selnd. Den natür­lich lässt sich so ein Bewusst­sein hin und her trei­ben, das ist eine hef­ti­ge Mischung von Ver­gan­gen­hei­ten und Gegen­war­ten, Rea­li­tä­ten und Träu­men, Wün­schen und Ängs­ten, geschich­tet und über­la­gert, auch mit Ver­sio­nen der (pseudo-)Erinnerung ver­se­hen, der sei­ne Ebe­nen im krei­sen­den Wie­der­ho­len her­aus­kris­tal­li­siert.

Das funk­tio­niert recht gut, weil die Spre­che­rin aus der Posi­ti­on des unsichtbaren/​unscheinbaren Beob­ach­ters, der Souf­fleu­se, agiert. In der Pri­vat­my­tho­lo­gie wird der die­nend-unter­stüt­zen­de Hilfs­dienst die­ser Funk­ti­on für das Thea­ter, genau­er: die Oper, zur mys­ti­schen Erfah­rung hoch­sti­li­siert, zum erfül­len­den Lebens­traum. Es wird aber durch­aus auf geschick­te und unter­grün­di­ge, aber erkenn­ba­re Wei­se auch die eige­ne Posi­ti­on reflek­tiert, zum Bei­spiel im Ver­lust der Rest-Sicht­bar­keit durch den mit­ti­gen Souf­fleur­kas­ten und die Ver­ban­nung auf die Sei­ten­büh­ne, die nicht glei­cher­ma­ßen Teil der Auf­füh­rung ist: dort unter­hal­ten sich Tech­ni­ker und war­ten­de Sän­ger wäh­rend der Oper … Zugleich zu die­ser wahr­ge­nom­me­nen Mar­gi­na­li­sie­rung – im Kon­trast dazu und zu den Erin­ne­run­gen der prä­fi­gu­rie­ren­den Demü­ti­gun­gen der Schul­zeit (die sehr selt­sam als eine Art Kreu­zi­gung am Rut­schen­ge­rüst erin­nert wer­den, mit Lan­ze und Essig und allem drum­her­um …) ist der Bewuss­st­seins­strom aber auch die Kon­struk­ti­on einer tota­len Macht­po­si­ti­on: von ihr ist alles, ins­be­son­de­re eben die Diva Gils­brod abhän­gig – und damit das gan­ze Thea­ter, die Stadt, das Publi­kum: „mir gehört der Text“ (39).

Der Text ist aber nicht ohne Dra­ma­tur­gie gebaut, zum Bei­spiel ver­schrän­ken und ver­mi­schen sich die diver­sen Zei­ten und Ebe­nen immer mehr. Auch das „Vor­drin­gen“ in die Figur „Gils­brod“ wird geschickt zei­chen­haft genutzt: Es beginnt an der Gren­ze zwi­schen außen und innen des Kör­pers, den Zäh­nen der Sän­ge­rin, und dringt über den Mund­raum immer wei­ter vor/​hinein …

Im Grun­de ist Gils­brod eine gro­ße Rache­phan­ta­sie, die ja auch zu kei­nem Ende kommt: der Bewusst­seins­strom bricht in der gro­ßen (fal­schen!) Kadenz der Gils­brod ab, das „non so d’amarti“ ver­dich­tet sich, bis zu einer Art Man­tra – wenn man das hin­zu­zieht, könn­te es natür­lich auch eine (unbe­wuss­te) Lie­bes­phan­ta­sie sein: „Ich weiß nicht, dass ich dich lie­be“ …

[…] und des­halb gehen die Leu­te ja ins Thea­ter, weil sie nicht allei­ne lachen wol­len und sonst die ande­ren den­ken, sie wären ver­rückt, wie sol­len sie auch lachen, wenn sie nie­man­den zum Lachen haben, und so blei­ben sie lie­ber allein in ihrem Kum­mer, dabei ist es viel bes­ser, gemein­sam zu wei­nen und die Leu­te gehen ja ins Thea­ter, damit sie gemein­sam lachen und auch wei­nen kön­nen, wie auf der Beer­di­gung, sie beer­di­gen ihren Kum­mer im Thea­ter und beer­di­gen sich selbst, vor­zei­tig, sie beer­di­gen sich gegen­sei­tig und beer­di­gen alles, was ist, sie beer­di­gen die Lan­ge­wei­le, das Leben und die Hoff­nung der Figu­ren, die Flug­ver­su­che und die Wet­ter­wech­sel, sie beer­di­gen das Licht hin­ter den Vor­hang­de­cken wie zum Schlaf und zum Abschluss gibt es rau­schen­den Applaus und nie­mand denkt, dass sie ver­rückt sind, auch wenn alle nach vor­ne star­ren […] (69)
Titus Mey­er: Ande­re DNA. Leip­zig: Rei­ne­cke & Voß 2016. 56 Sei­ten. ISBN 978−3−942901−20−8.

Ein gan­zer Roman als Palin­drom, ein Palin­drom als Roman – geht das? Ein paar mei­ner Lek­tü­re­be­ob­ach­tun­gen zu die­ser Fra­ge und ande­ren, die mich beim Lesen von Mey­ers Husa­ren­stück beweg­ten, habe ich schon vor eini­gen Tagen hier notiert.

Chris­ti­an Broe­cking: Die­ses unbän­di­ge Gefühl der Frei­heit. Irè­ne Schwei­zer – Jazz, Avant­gar­de, Poli­tik. Die auto­ri­sier­te Bio­gra­fie. Ber­lin: Broe­cking Ver­lag 2016. 479 Sei­ten. ISBN 9783938763438.

broecking, schweizer-biografie (cover)Eine gro­ße – und außer­dem auch noch auto­ri­sier­te – Bio­gra­fie der gro­ßen Jazz­pia­nis­tin Irè­ne Schwei­zer woll­te Chris­ti­an Broe­cking (den ich vor allem als Autor/​Interviewpartner sei­ner bei­den Respect-Bän­de ken­ne) hier wohl vor­le­gen. Raus­ge­kom­men ist ein müh­sa­mer Bro­cken. Den Broe­cking schreibt auf den immer­hin fast 500 Sei­ten viel­leicht (gefühlt zumin­dest) ein Dut­zend Sät­ze selbst. Die­se Bio­gra­fie ist näm­lich gar kei­ne, es gibt kei­nen Erzäh­ler und eigent­lich auch kei­nen Autor. An deren Stel­len tre­ten (fast) nur Quel­len, das heißt Zeit­zeu­gen, deren Aus­sa­gen zu und über Irè­ne Schwei­zer aus Inter­views hier grob sor­tiert wur­den und höchs­tens mit ein­zel­nen Sät­zen not­dürf­tig zusam­men­ge­flickt wer­den. Der doku­men­ta­ri­sche Anspruch – die ande­ren also ein­fach erzäh­len zu las­sen (aber auch die Fra­gen strei­chen, was manch­mal selt­sa­me „Tex­te“ ergibt) – geht dann auch so weit, dass eng­lisch­spra­chi­ge Ant­wor­ten nicht über­setzt wer­den. Viel Mate­ri­al wird also mehr oder weni­ger sinn­voll gereiht. Nach her­kömm­li­chen Maß­stä­ben ist das eher die Samm­lung, die Vor­ar­beit zu einer eigent­li­chen Bio­gra­fie, die das (ein-)ordnend und deu­tend erzäh­len wür­de.

Dadurch ist das vor allem eine Arbeits­bio­gra­phie und/​oder ein Musik­ta­ge­buch: Wer wann mit wem wo gespielt hat, das gibt den Rah­men für die Lebens­be­schrei­bung ab. Aber selbst das geht mit der Zeit und den Sei­ten der unend­li­chen Rei­hen von Kon­stel­la­tio­nen und Orten zuneh­mend unter, weil es ein­fach zu viel ist. Men­schen kom­men kaum/​nicht vor, nur Funk­tio­nen: Musi­ker, Künst­ler, Orga­ni­sa­to­ren, Label­chefs und (weni­ge) Jour­na­lis­te) – des­halb bie­tet das Buch auch nur Innen­sich­ten aus dem Umfeld Schwei­zers. Und Broe­cking hilft durch sei­ne Abwe­sen­heit als Autor eben auch nicht: Einen außenstehenden/​neutralen (oder wenigs­tens pseu­do-objek­ti­ven) Beob­ach­ter kann der Text nicht auf­wei­sen. Ich den­ke, dar­aus rüh­ren dann auch ande­re Schwä­chen. Vie­les bleibt ein­fach ohne Erklä­rung. Und wenn ich kei­ne Erklä­rung bekom­me, brau­che ich auch kei­ne Bio­gra­fie …

Zum Bei­spiel wird die Grö­ße Schwei­zers zwar immer wie­der beschwo­ren, sie bleibt dabei aber aus­ge­spro­chen unklar, ohne Kon­tu­ren und ohne Grund. Das liegt viel­leicht auch dar­an, dass die Musik in den (sowie­so äußerst knap­pen) Beschrei­bun­gen (Ana­ly­sen kom­men mit Aus­nah­me des zehn­sei­ti­gen Anhangs „Jungle Beats“ von Oli­ver Senn & Toni Bech­told, der anhand exem­pla­risch aus­ge­wähl­ter Auf­nah­men Schwei­zers Musik, ihren Per­so­nal­stil beschreibt, fast über­haupt nicht vor) selbst so gene­risch bleibt: frei impro­vi­siert, dann wird mal die­ser Ein­fluss (Cecil Tay­lor etwa) her­vor­ge­ho­ben, dann mal der jener betont (Monk etwa). Und immer wie­der wird von den Inter­view­ten dar­auf hin­ge­wie­sen, dass sie kei­ne Noten mag. Aber was sie wie spielt, kann man halt nicht so recht lesen, nur in ver­streu­ten Hin­wei­sen und Andeu­tun­gen (die auch eher ihre Prä­senz und Ener­gie auf der Büh­ne betref­fen). Auch die aus­ge­wähl­ten Zita­te aus Kri­ti­ken und Pres­se­be­rich­ten blei­ben erschre­ckend gene­risch. Ähn­lich ist es um die poli­ti­sche Dimen­si­on des Lebens von Irè­ne Schwei­zer und ihrer Musik bestellt: Bei­des wird vor allem behaup­tet („die­se Musik ist poli­tisch“), aber wie und war­um, das steht nir­gends, das wird nicht erklärt (und gera­de da wür­de es (für mich) span­nend wer­den …). Das alles führt dazu, dass mich die Lek­tü­re etwas unbe­frie­digt zurück­ge­las­sen hat: Sicher kommt man um die­sen Band kaum her­um, wenn man sich mit Schwei­zer und/​oder ihrer Musik befasst. Aber Ant­wor­ten kann er kaum geben.

Ian Bostridge: Schu­berts Win­ter­rei­se. Lie­der von Lie­be und Schmerz. Mün­chen: Beck 2015. 405 Sei­ten. ISBN 978−3−406−68248−3.
Mei­ne Ein­drü­cke von Ian Bostridges gro­ßem, umfas­sen­den Buch über die Schu­bert­sche Win­ter­rei­se haben einen eige­nen Ein­trag bekom­men, und zwar hier: klick.

außer­dem gele­sen:

  • Katha­ri­na Rög­g­la: Cri­ti­cal Whiten­ess Stu­dies und ihre poli­ti­schen Hand­lungsmö­lich­kei­ten für Wei­ße Anti­ras­sis­tIn­nen. Wien: man­del­baum kri­tik & uto­pie 2012 (Intro. Eine Ein­füh­rung). 131 Sei­ten.
  • Sel­ma Meer­baum-Eisin­ger: Blü­ten­le­se. Gedich­te. Stutt­gart: Reclam 2013. 136 Sei­ten.
  • Moni­ka Rinck: Wir. Phä­no­me­ne im Plu­ral. Ber­lin: Ver­lags­haus Ber­lin 2015 (Edi­ti­on Poe­ti­con 10).

Geheimarmee von Improvisatoren

Das sind Erfah­run­gen und Hal­tun­gen, die ver­bin­den. Aus heu­ti­ger Sicht wür­de ich sagen, dass wir eine Geheim­ar­mee von Impro­vi­sa­to­ren waren, ver­schwo­ren, rebel­lisch, unbe­irr­bar. Unse­re Mis­si­on war der Avant­gar­de-Jazz und Irè­ne [Schwei­zer] war an vor­ders­ter Front. Keith Tip­pett, in: Chris­ti­an Broe­cking, Die­ses unbän­di­ge Gefühl der Frei­heit, 117

schweizer musik

(der kalau­er muss­te sein). es geht natür­lich um irè­ne schwei­zer, eine der bes­ten leben­den pia­nis­tin­nen der impro­vi­sier­ten musik, um das gleich mal klar­zu­stel­len.

beim anhö­ren ihrer aller­neu­es­ten cd, einem live-mit­schnitt (der lei­der klang­lich nicht ganz top of the line zu sein scheint …) frag­te ich mich wie­der ein­mal (und nicht zum ers­ten mal), was – für mich – eigent­lich das gro­ße an ihrem spiel aus­macht. ich glau­be, es ist ihre mischung aus ener­gie und poe­sie. das klingt nach all­ge­mein­platz und ist es wahr­schein­lich auch. aber in der kom­bi­na­ti­on die­ser bei­den pole – nicht so sehr der mischung, als der ver­ei­ni­gung zwei­er schein­ba­rer gegen­sät­ze – liegt, glau­be ich, ihr indi­vi­du­el­ler stil. der macht sich bemerk­bar, egal, ob es sich um eige­ne kom­po­si­tio­nen han­delt oder um frem­des mate­ri­al (hier zum bei­spiel von car­la bley, the­lo­nious monk oder dol­lar brand). man­fred papst nennt das im book­let übri­gens „das Wech­sel­spiel von lyri­scher Ver­schat­tung und heroi­scher Gebär­de auf kleins­tem Raum“ – wobei ich mir nicht sicher bin, ob „hero­isch“ den aus­druck die­ser musik wirk­lich triff. viel­leicht, „hero­isch“ dann im sin­ne von stand­fest, auch unbeug­sam – indi­vi­dua­lis­tisch eben. aber nicht auf­trump­fend, besie­gend. gewiss­hei­ten ver­sagt sie sich aller­dings nicht, das ist mehr als rei­ne bre­chung. viel­leicht ist das ja auch etwas, das ihre fas­zi­na­ti­on aus­macht: trotz der viel­falt der aus­drucks­for­men (schwei­zer ist in gewis­sem sin­ne auch eine „gelehr­te“ pia­nis­tin – und des­halb in so einem klas­si­schen musen­tem­pel wie­der der züri­cher ton­hal­le gar nicht so ver­kehrt am platz) schim­mert immer die posi­ti­on, der ort und die kraft der pia­nis­tin als selbst­be­haup­te­tem sub­jekt durch: das gibt sie nicht auf, nie und nir­gends.

schon der titel mar­kiert das sehr gut: „to whom it may con­cern“. das ist selbst­ge­wiss und selbst­be­wusst. aber eben auch – ver­mu­te ich – im vol­len bewusst­sein der exklu­si­vi­tät (oder limi­tät) der krei­se, die das tat­säch­lich wahr­neh­men und die das inter­es­siert: eigent­lich müss­te & soll­te das ja mög­lichst alle ange­hen. so gut ist die­se welt aber lei­der nicht … dafür ist die musik die­ser welt aber so gut. gran­di­os eigent­lich sogar, wenn man sich etwa das „final ending“ anhört, das in einem ries­ei­gen rund­um­schlag noch ein­mal alles erfasst und umfasst, ohne sein eige­nes zu ver­lie­ren, das span­nend in jedem ton ist, aber doch ganz gelas­sen und natür­lich vor allem aus­ge­spro­chen fol­ge­rich­tig wirkt: vom mate­ri­al könn­te man es fast als eine etü­de des free jazz anse­hen. aber dann höchs­tens im cho­pin­schen sinn: etü­de als kon­zert­stück und so wei­ter.

das nur schnell beim ers­ten hören. die cd, auf­ge­nom­men übri­gens im april 2011 in der züri­che ton­hal­le anläss­lich ihres 70. geburts­ta­ges (kaum zu glau­ben!), wird mei­nen play­er sicher noch­öf­ter von innen sehen, das ist sicher.

Irè­ne Schwei­zer: To Wom It May Con­cern. Pia­no Solo Ton­hal­le Zürich. Intakt CD 200, 2012.

Erste Wahl

irè­ne schwei­zer erfährt ja schon län­ger mei­ne hoch­ach­tung – sie ist ein­fach eine rund­um her­vor­ra­ge­ne musi­ke­rin (dia­bo­li­ques und die vie­len duos bezeu­gen das immer wie­der). und sie ver­sorgt mich auch immer wie­der mit ganz span­nen­den kla­vier-solo erfah­run­gen, die weit über das hin­aus­ge­hen, wofür leu­te wie keith jar­rett und kon­sor­ten immer noch gefei­ert wer­den. der bezugs­punkt ist hier natür­lich auch wohl eher cecil tay­lor – und auf ihre wei­se darf man irè­ne schwei­zer durch­aus auf tay­lors stu­fe stel­len.

auch „first choice“, die cd-auf­nah­me des jubi­lä­ums­kon­zerts im kkl luzern (intakt) besticht durch die typi­schen schwei­zer-qua­li­tä­ten. in ers­ter linie ist da zu nen­nen: die abso­lut erstaun­li­che, ver­blüf­fen­de klar­heit der klang­ge­stal­tung – hier ist das auch ein ver­dienst der aus­ge­zeich­ne­ten ton­tech­nik. auch die viel­sei­tig­keit ihrer klang­far­ben ist wie­der zu bewun­dern, v.a. aber – und das macht die cd für mich so beson­ders reiz­voll, weil das mei­nen momen­tan­ten ganz gene­rel­len ästhe­ti­schen vor­lie­ben ganz beson­ders gut ent­spricht – ist es die wahn­sin­ni­ge luzi­di­tät der ent­wick­lung, die mich begeis­tert: das sind wirk­li­che akus­ti­sche licht­bli­cke, gro­ße musik. mehr muss man eigent­lich gar nicht sagen. aber man kann.
was mit die­ser lob­hu­de­lei gemeint ist, zei­gen schon die umfas­sen­de lini­en der ers­ten gro­ßen impro­vi­sa­ti­on, first choice: zwan­zig minu­ten, die wie im flu­ge ver­ge­hen, ganz ohne gro­ßes tra­ra, aber vol­ler ideen und ein­fäl­le, die­in ihrer gesamt­heit einen abso­lu­ten flow erzeu­gen – aber, und das ist eben schwei­zers genie, man muss nicht aufs ende war­ten, um die genia­li­tät und fri­sche die­ser musik zu erfah­ren – sie steckt näm­lich in (fast) jeder note.
mit direk­ter erfahr­ba­rer moti­vik und stär­ke­ren ener­ge­ti­schen impul­sen war­tet dann „into the hall of fame“ auf, immer­hin auch noch fast 10 minu­ten impro­vi­sier­tes spiel an den tas­ten. dann kom­men noch eini­ge klei­ne­re stü­cke, mit klas­si­kern – schwei­ze­res eige­ne kom­po­si­ti­on „the bal­lad of the sad café“ etwa: sehr zurück­ge­nom­men, schlicht und ein­fach melan­cho­lisch schwe­bend, eben „sad“, aber auch sehr „fein“ und kul­ti­viert. wie schwei­zer über­haupt immer deut­li­cher auf alles brim­bo­ri­um ver­zich­tet, immer deut­li­cher den ver­such macht, zum kern der aus­drucks­ge­walt von impro­vi­sier­ter musik vor­zu­drin­gen, ohne die gan­zen über­flüs­sig gewor­de­nen ges­ten und (revier-)markierungen. beim ers­ten hören: etwas gemes­se­ner, ruhi­ger im posi­ti­ven sin­ne, näm­lich poe­ti­scher, oft sogar zärt­li­cher als frü­he­re soli (man den­ke nur an die „wil­de seno­ri­tas“!) – dabei nicht ver­weich­licht, aber doch befreit von der not­wen­dig­keit des revo­lu­tio­nä­ren befrei­ungs­schla­ges, von der kämp­fe­ri­schen behaup­tung der frei­heit der musik, der impro­vi­sa­ti­on, die sich im krie­ge­ri­schen tas­ten­ge­wit­ter ent­lädt – so etwas fin­det sich in die­ser auf­nah­me eigent­lich gar nicht, zumin­dest nicht in rein­form, nur als bewuss­tes zitat, motiv, als form­bau­stein (in „first choice“ etwa).

die tech­ni­schen mög­lich­kei­ten, die der frei­en impro­vi­sa­ti­on am flü­gel heu­te, nach jahr­zehn­ten neu­er musik und free jazz, zu ver­fü­gung ste­hen, demons­triert sehr schön die fast schon stu­die oder etü­de zu nen­nen­de impro­vi­sa­ti­on „scrat­ching at the kkl“ – schwei­zer beschränkt sich dabei in der tat (fast) voll­stän­dig auf die­se art der ton­erzeu­gung, genau­er gesagt, des spiels eines tas­ten­in­stru­men­tes ohne die tas­ten, näm­lich im inne­ren des flü­gels, direkt an, auf und neben den sai­ten. weil schwei­zer aber eben in ers­ter linie musi­ke­rin ist, wird dar­aus auch wie­der ech­te musik und nicht nur die zum gäh­nen lang­wei­li­gen tech­ni­schen fir­le­fanz-spie­le­rei­en der hul­di­gun­gen an den mate­ri­al-feti­schis­mus.

schwei­zer über­führt das eher expe­ri­men­tel­le klang­stück fol­ge­rich­tig in „the loneli­ne­ss of the long distance pia­no play­er“ – als mot­to könn­te das über gro­ße tei­le ihrer kar­rie­re geschrie­ben wer­den. erschöp­fung, anstren­gung der krea­ti­ven her­vor­brin­gung… das ist offen­bar die not­wen­di­ge klei­ne atem­pau­se, denn mit theo­lo­nious mon­ks „oska t.“ legt schwei­zer noch ein­mal so rich­tig los, geht sozu­sa­gen schon fast in den end­spurt: stär­ker ryhth­misch betont.… dage­gen wirkt – für mich – das abschlie­ßen­de „jungle beats ii“ doch ein wenig wie ein fremd­kör­per, etwas leer und ziel­los scheint mir das (im ver­gleich zum anfang der auf­nah­me vor allem)

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