Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Schlagwort: daniela danz

Aus-Lese #45

Rein­hard Jirgl: Oben das Feu­er, unten der Berg. Mün­chen: Han­ser 2016. 288 Sei­ten.

–Sie wur­den gebo­ren, arbei­te­ten, und sie star­ben. Wäre Leben so=einfach so=kurz wie die­ser Satz, Leben, wäre gewiß glück­vol­ler. Leben aber dau­ert län­ger als 1 Satz. (31)

jirgl, oben das feuerOben das Feu­er, unten der Berg – an dem Buch ist nicht nur der Titel selt­sam und rät­sel­haft. Ich bin ja eigent­lich ein gro­ßer Bewun­de­rer der Wer­ke Rein­hard Jirgls, aber mit die­sem Roman kann ich wenig bis gar nichts anfan­gen. Das, was von einer Geschich­te übrig ist, ist rät­sel­haft, schwankt zwi­schen Kri­mi und Ver­schwö­rungs­theo­rie, Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung und Ver­bit­te­rung. Die auf­tau­chen­den Figu­ren sind eigent­lich lau­ter kaput­te Men­schen. Oder: Sie wer­den kaputt gemacht, durch das „Sys­tem“, die Macht oder ähn­li­che Instan­zen. Die grau­sa­me Bru­ta­li­tät der Welt, der Macht und der Mäch­ti­gen, die die Moral nur als Deck­man­tel und Beru­hi­gung fürs Volk (wenn über­haupt) haben, benut­zen – den gan­zen Text durch­dringt eine sehr schwar­ze, pes­si­mis­ti­sche Welt­sicht. So weit, so gut (oder auch nicht, aber das ist ja erst mal egal). Frag­wür­dig bleibt mir aber doch ein­fach vie­les. Auf dem Schutz­um­schlag steht etwa: „Titel, Text­vo­lu­men und Rei­hen­fol­ge der Kapi­tel im Roman sind von dem alt­chi­ne­si­schen Ora­kel I‑Ging bestimmt.“ – Zum einen: was soll das? Ich habe kei­ne Ahnung … Zum ande­ren: Ich bezweif­le fast, dass das über­haupt stimmt …

In den fas­zi­nie­ren­den, genau­en, poe­ti­schen (d.i. lyri­schen) Beschrei­bun­gen, ja, der gera­de­zu über­bor­den­den Beschrei­bungs­ge­nau­ig­keit liegt viel­leicht die größ­te Stär­ke des Romans, auch durch die Spe­zi­al­or­tho­gra­fie, die näm­lich Mög­lich­kei­ten und Deu­tun­gen der Spra­che ver­deut­li­chen, ver­eindeu­ti­gen oder über­haupt erst eröff­nen kann. Auf der ande­ren Sei­te hat­te ich oft den Ein­druck eines „ver­wil­der­ten“ Text, der sich von sich selbst trei­ben lässt und der im Zick­zack-Kreis des Erzäh­lens „der“ Geschich­te kei­ne wie auch immer gear­te­te Ord­nung gel­ten lässt (zumin­dest kei­ne, die ich erken­nen könn­te). Selt­sam fin­de ich auch: Eigent­lich pas­siert das meis­te des Romans auf pri­va­ter, ja inti­mer Ebe­ne. Aber dann will der Roman doch die ganz gro­ßen The­men behan­deln (z.B. die Macht und die Moral) – das pas­siert dann (damit es jeder merkt) v.a./nur durch das neun­mal­klu­ge Dozie­ren der Figu­ren, in deren Erkennt­nis­sen, in deren Durch­schau­en der Welt und der Ver­schwö­run­gen) sich der Erzäh­ler (und viel­leicht auch der Autor) zu allem und jedem äußern kann, sei­ne Posi­ti­on als wah­re absi­chern und mit­tei­len kann.

?Wo in all­die­ser unermeßlichen=Unendlichkeit blieb eigent­lich ?mein Web­fa­den, ?meine=!ureigene Spur, die mich etwas Unver­wech­sel­ba­res in die­ses uner­schöpf­li­che Lebens­wisch­ha­der­ge­filz hät­te hin1prägen las­sen. (230)

Danie­la Danz: Lan­ge Fluch­ten. Göt­tin­gen: Wall­stein 2016. 146 Sei­ten.
Zu dem sehr gelun­gen klei­nen Roman von Danie­la Danz – die übri­gens auch vor­treff­li­che Lyrik schreibt – habe ich vor eini­gen Tagen schon etwas geschrie­ben: Lan­ge Fluch­ten, gebro­che­ne Men­schen.
Wil­helm Leh­mann: Ein Lese­buch. Aus­ge­wähl­te Lyrik und Pro­sa. Her­aus­ge­ge­ben von Uwe Pörk­sen, Jut­ta Johann­sen und Hein­rich Dete­ring. Göt­tin­gen: Wall­stein 2011. 160 Sei­ten.

lehmann, lesebuchAuf Wil­helm Leh­mann bin ich erst durch die zwei­te Aus­ga­be des Gel­ben Akro­ba­ten von Micha­el Braun und Micha­el Busel­mei­er auf­merk­sam gewor­den. Leh­mann, der von bis vor allem an der Küs­te leb­te, war als Leh­rer sowohl ein aus­ge­zeich­ne­ter Natur­be­ob­ach­ter als auch ein star­ker Dich­ter, wie ich anhand des Lese­buchs leicht fest­stel­len konn­te. Dort bie­ten die drei Her­aus­ge­ber eine Aus­wahl aus der mehr­bän­di­gen Werk­aus­ga­be: (viel) Lyrik, etwas aus den Tage­bü­chern, eini­ge Aus­zü­ge aus theoretischen/​poetologischen Essays und ein wenig Pro­sa. Inwie­weit das ein reprä­sen­ta­ti­ves Bild abgibt, kann ich nicht beur­tei­len. Sagen kann ich nur, dass das, was ich hier gele­sen habe, fas­zi­nie­ren­de Momen­te hat. Die mich am meis­ten berüh­ren­den Tex­te und Pas­sa­gen waren wohl die, wo sich der peni­ble und wis­sen­de Natur­be­ob­ach­ter mit dem bild­kräf­ti­gen Lyri­ker ver­bin­det.

Aus vie­len der Natur­be­schrei­bun­gen der Gedich­te spricht eine lei­se Weh­mut: Die Natur ist für Leh­mann ganz offen­bar ein Ort, an dem die göttliche/​geschöpfte/​schöpferische Ord­nung noch gilt und dann auch zu beob­ach­ten ist; sie bleibt vom Cha­os, der Gewalt und dem Schmerz der Men­schen (den sich die Men­schen gegen­sei­tig (und ihr) zufü­gen) unbe­rührt. Sol­che Lyrik ist, wie er es in einem Auf­satz ein­mal auf den Punkt bringt: „Poe­sie als Ein­wil­li­gung in das Sein“.

Gera­de in der Zeit des Zwei­ten Welt­krie­ges scheint sich das aber zu ändern: Zuneh­mend wer­den Natur und Menschenwelt/​Zeitgeschichte im Gedicht kon­fron­tiert, meist neben­ein­an­der gestellt (sozu­sa­gen ohne ter­ti­um com­pa­ra­tio­nis): Hier die gleich­för­mi­ge (im Sin­ne von in einem fes­ten Rhyth­mus sich wie­der­ho­len­de), ver­trau­te (d.h. auch: les­ba­re, ent­schlüs­sel­ba­re, ver­steh­ba­re) Natur, dort der uner­hör­te Schre­cken, das unge­se­he­ne und unge­ahn­te Grau­en des Welt­kriegs. Das bleibt aber immer sehr sub­til und – gera­de in den Beschrei­bun­gen und Schil­de­run­gen – sehr kunst­voll, in fein aus­ta­rier­ten Rhyth­men und mit oft sehr har­mo­nisch, fast selbst­ver­ständ­lich wir­ken­den Rei­men aus­ge­ar­bei­tet. Am bes­ten ver­deut­licht das viel­leicht ein Gedicht wie „Fal­len­de Welt“:

Das Schwei­gen wur­de
Sich selbst zu schwer:
Als Kuckuck fliegt sei­ne Stim­me umher.

Mit bron­ze­nen Füßen
Lan­det er an,
Gefleck­tes Kleid
Hat er ange­tan.

Die lose Welt,
Wird sie bald fal­len?
Da hört sie den Kuckuck
Im Grun­de schal­len.

Mit schnel­len Rufen
Ruft er sie fest.
Nun dau­ert sie
Den Zei­ten­rest.

Sabi­ne Bergk: Gils­brod. Novel­le. Ber­lin: Dittrich 2012. 132 Sei­ten.

bergk, gilsbrod (cover)Der Ver­lag nennt die auf der Opern­büh­ne spie­len­de Novel­le von Sabi­ne Bergk „Über­trei­bungs­li­te­ra­tur”. Das stimmt natür­lich, trifft den Kern des vor allem phan­tas­ti­schen und absur­den Tex­tes aber nur halb. Gils­brod ist eine Ein-Satz-Novel­le mit 130 Sei­ten unge­bro­che­nem stream of con­scious­ness. Das ist natür­lich nicht völ­lig neu, spon­tan fällt mir aus letz­ter Zeit etwa Xaver Bay­ers Wenn die Kin­der Stei­ne ins Was­ser wer­fen (2011) ein, das ähn­lich funk­tio­niert. Hier, also in Gils­brod, lesen wir das Bewusst­sein einer Opern­souf­fleu­se, die im ent­schei­den­den Moment der Thea­ter­di­va nicht aus­hilft und sie des­halb in eine impro­vi­sier­te Kadenz auf dem fal­schen Text treibt. Ein Ende hat der Text nicht, er bricht ein­fach ab. Bis dahin ist er aber dicht und unter­halt­sam, phan­tas­tisch und absurd, trau­rig und komisch zugleich. Oder zumin­dest abwech­selnd. Den natür­lich lässt sich so ein Bewusst­sein hin und her trei­ben, das ist eine hef­ti­ge Mischung von Ver­gan­gen­hei­ten und Gegen­war­ten, Rea­li­tä­ten und Träu­men, Wün­schen und Ängs­ten, geschich­tet und über­la­gert, auch mit Ver­sio­nen der (pseudo-)Erinnerung ver­se­hen, der sei­ne Ebe­nen im krei­sen­den Wie­der­ho­len her­aus­kris­tal­li­siert.

Das funk­tio­niert recht gut, weil die Spre­che­rin aus der Posi­ti­on des unsichtbaren/​unscheinbaren Beob­ach­ters, der Souf­fleu­se, agiert. In der Pri­vat­my­tho­lo­gie wird der die­nend-unter­stüt­zen­de Hilfs­dienst die­ser Funk­ti­on für das Thea­ter, genau­er: die Oper, zur mys­ti­schen Erfah­rung hoch­sti­li­siert, zum erfül­len­den Lebens­traum. Es wird aber durch­aus auf geschick­te und unter­grün­di­ge, aber erkenn­ba­re Wei­se auch die eige­ne Posi­ti­on reflek­tiert, zum Bei­spiel im Ver­lust der Rest-Sicht­bar­keit durch den mit­ti­gen Souf­fleur­kas­ten und die Ver­ban­nung auf die Sei­ten­büh­ne, die nicht glei­cher­ma­ßen Teil der Auf­füh­rung ist: dort unter­hal­ten sich Tech­ni­ker und war­ten­de Sän­ger wäh­rend der Oper … Zugleich zu die­ser wahr­ge­nom­me­nen Mar­gi­na­li­sie­rung – im Kon­trast dazu und zu den Erin­ne­run­gen der prä­fi­gu­rie­ren­den Demü­ti­gun­gen der Schul­zeit (die sehr selt­sam als eine Art Kreu­zi­gung am Rut­schen­ge­rüst erin­nert wer­den, mit Lan­ze und Essig und allem drum­her­um …) ist der Bewuss­st­seins­strom aber auch die Kon­struk­ti­on einer tota­len Macht­po­si­ti­on: von ihr ist alles, ins­be­son­de­re eben die Diva Gils­brod abhän­gig – und damit das gan­ze Thea­ter, die Stadt, das Publi­kum: „mir gehört der Text“ (39).

Der Text ist aber nicht ohne Dra­ma­tur­gie gebaut, zum Bei­spiel ver­schrän­ken und ver­mi­schen sich die diver­sen Zei­ten und Ebe­nen immer mehr. Auch das „Vor­drin­gen“ in die Figur „Gils­brod“ wird geschickt zei­chen­haft genutzt: Es beginnt an der Gren­ze zwi­schen außen und innen des Kör­pers, den Zäh­nen der Sän­ge­rin, und dringt über den Mund­raum immer wei­ter vor/​hinein …

Im Grun­de ist Gils­brod eine gro­ße Rache­phan­ta­sie, die ja auch zu kei­nem Ende kommt: der Bewusst­seins­strom bricht in der gro­ßen (fal­schen!) Kadenz der Gils­brod ab, das „non so d’amarti“ ver­dich­tet sich, bis zu einer Art Man­tra – wenn man das hin­zu­zieht, könn­te es natür­lich auch eine (unbe­wuss­te) Lie­bes­phan­ta­sie sein: „Ich weiß nicht, dass ich dich lie­be“ …

[…] und des­halb gehen die Leu­te ja ins Thea­ter, weil sie nicht allei­ne lachen wol­len und sonst die ande­ren den­ken, sie wären ver­rückt, wie sol­len sie auch lachen, wenn sie nie­man­den zum Lachen haben, und so blei­ben sie lie­ber allein in ihrem Kum­mer, dabei ist es viel bes­ser, gemein­sam zu wei­nen und die Leu­te gehen ja ins Thea­ter, damit sie gemein­sam lachen und auch wei­nen kön­nen, wie auf der Beer­di­gung, sie beer­di­gen ihren Kum­mer im Thea­ter und beer­di­gen sich selbst, vor­zei­tig, sie beer­di­gen sich gegen­sei­tig und beer­di­gen alles, was ist, sie beer­di­gen die Lan­ge­wei­le, das Leben und die Hoff­nung der Figu­ren, die Flug­ver­su­che und die Wet­ter­wech­sel, sie beer­di­gen das Licht hin­ter den Vor­hang­de­cken wie zum Schlaf und zum Abschluss gibt es rau­schen­den Applaus und nie­mand denkt, dass sie ver­rückt sind, auch wenn alle nach vor­ne star­ren […] (69)
Titus Mey­er: Ande­re DNA. Leip­zig: Rei­ne­cke & Voß 2016. 56 Sei­ten. ISBN 978−3−942901−20−8.

Ein gan­zer Roman als Palin­drom, ein Palin­drom als Roman – geht das? Ein paar mei­ner Lek­tü­re­be­ob­ach­tun­gen zu die­ser Fra­ge und ande­ren, die mich beim Lesen von Mey­ers Husa­ren­stück beweg­ten, habe ich schon vor eini­gen Tagen hier notiert.

Chris­ti­an Broe­cking: Die­ses unbän­di­ge Gefühl der Frei­heit. Irè­ne Schwei­zer – Jazz, Avant­gar­de, Poli­tik. Die auto­ri­sier­te Bio­gra­fie. Ber­lin: Broe­cking Ver­lag 2016. 479 Sei­ten. ISBN 9783938763438.

broecking, schweizer-biografie (cover)Eine gro­ße – und außer­dem auch noch auto­ri­sier­te – Bio­gra­fie der gro­ßen Jazz­pia­nis­tin Irè­ne Schwei­zer woll­te Chris­ti­an Broe­cking (den ich vor allem als Autor/​Interviewpartner sei­ner bei­den Respect-Bän­de ken­ne) hier wohl vor­le­gen. Raus­ge­kom­men ist ein müh­sa­mer Bro­cken. Den Broe­cking schreibt auf den immer­hin fast 500 Sei­ten viel­leicht (gefühlt zumin­dest) ein Dut­zend Sät­ze selbst. Die­se Bio­gra­fie ist näm­lich gar kei­ne, es gibt kei­nen Erzäh­ler und eigent­lich auch kei­nen Autor. An deren Stel­len tre­ten (fast) nur Quel­len, das heißt Zeit­zeu­gen, deren Aus­sa­gen zu und über Irè­ne Schwei­zer aus Inter­views hier grob sor­tiert wur­den und höchs­tens mit ein­zel­nen Sät­zen not­dürf­tig zusam­men­ge­flickt wer­den. Der doku­men­ta­ri­sche Anspruch – die ande­ren also ein­fach erzäh­len zu las­sen (aber auch die Fra­gen strei­chen, was manch­mal selt­sa­me „Tex­te“ ergibt) – geht dann auch so weit, dass eng­lisch­spra­chi­ge Ant­wor­ten nicht über­setzt wer­den. Viel Mate­ri­al wird also mehr oder weni­ger sinn­voll gereiht. Nach her­kömm­li­chen Maß­stä­ben ist das eher die Samm­lung, die Vor­ar­beit zu einer eigent­li­chen Bio­gra­fie, die das (ein-)ordnend und deu­tend erzäh­len wür­de.

Dadurch ist das vor allem eine Arbeits­bio­gra­phie und/​oder ein Musik­ta­ge­buch: Wer wann mit wem wo gespielt hat, das gibt den Rah­men für die Lebens­be­schrei­bung ab. Aber selbst das geht mit der Zeit und den Sei­ten der unend­li­chen Rei­hen von Kon­stel­la­tio­nen und Orten zuneh­mend unter, weil es ein­fach zu viel ist. Men­schen kom­men kaum/​nicht vor, nur Funk­tio­nen: Musi­ker, Künst­ler, Orga­ni­sa­to­ren, Label­chefs und (weni­ge) Jour­na­lis­te) – des­halb bie­tet das Buch auch nur Innen­sich­ten aus dem Umfeld Schwei­zers. Und Broe­cking hilft durch sei­ne Abwe­sen­heit als Autor eben auch nicht: Einen außenstehenden/​neutralen (oder wenigs­tens pseu­do-objek­ti­ven) Beob­ach­ter kann der Text nicht auf­wei­sen. Ich den­ke, dar­aus rüh­ren dann auch ande­re Schwä­chen. Vie­les bleibt ein­fach ohne Erklä­rung. Und wenn ich kei­ne Erklä­rung bekom­me, brau­che ich auch kei­ne Bio­gra­fie …

Zum Bei­spiel wird die Grö­ße Schwei­zers zwar immer wie­der beschwo­ren, sie bleibt dabei aber aus­ge­spro­chen unklar, ohne Kon­tu­ren und ohne Grund. Das liegt viel­leicht auch dar­an, dass die Musik in den (sowie­so äußerst knap­pen) Beschrei­bun­gen (Ana­ly­sen kom­men mit Aus­nah­me des zehn­sei­ti­gen Anhangs „Jungle Beats“ von Oli­ver Senn & Toni Bech­told, der anhand exem­pla­risch aus­ge­wähl­ter Auf­nah­men Schwei­zers Musik, ihren Per­so­nal­stil beschreibt, fast über­haupt nicht vor) selbst so gene­risch bleibt: frei impro­vi­siert, dann wird mal die­ser Ein­fluss (Cecil Tay­lor etwa) her­vor­ge­ho­ben, dann mal der jener betont (Monk etwa). Und immer wie­der wird von den Inter­view­ten dar­auf hin­ge­wie­sen, dass sie kei­ne Noten mag. Aber was sie wie spielt, kann man halt nicht so recht lesen, nur in ver­streu­ten Hin­wei­sen und Andeu­tun­gen (die auch eher ihre Prä­senz und Ener­gie auf der Büh­ne betref­fen). Auch die aus­ge­wähl­ten Zita­te aus Kri­ti­ken und Pres­se­be­rich­ten blei­ben erschre­ckend gene­risch. Ähn­lich ist es um die poli­ti­sche Dimen­si­on des Lebens von Irè­ne Schwei­zer und ihrer Musik bestellt: Bei­des wird vor allem behaup­tet („die­se Musik ist poli­tisch“), aber wie und war­um, das steht nir­gends, das wird nicht erklärt (und gera­de da wür­de es (für mich) span­nend wer­den …). Das alles führt dazu, dass mich die Lek­tü­re etwas unbe­frie­digt zurück­ge­las­sen hat: Sicher kommt man um die­sen Band kaum her­um, wenn man sich mit Schwei­zer und/​oder ihrer Musik befasst. Aber Ant­wor­ten kann er kaum geben.

Ian Bostridge: Schu­berts Win­ter­rei­se. Lie­der von Lie­be und Schmerz. Mün­chen: Beck 2015. 405 Sei­ten. ISBN 978−3−406−68248−3.
Mei­ne Ein­drü­cke von Ian Bostridges gro­ßem, umfas­sen­den Buch über die Schu­bert­sche Win­ter­rei­se haben einen eige­nen Ein­trag bekom­men, und zwar hier: klick.

außer­dem gele­sen:

  • Katha­ri­na Rög­g­la: Cri­ti­cal Whiten­ess Stu­dies und ihre poli­ti­schen Hand­lungsmö­lich­kei­ten für Wei­ße Anti­ras­sis­tIn­nen. Wien: man­del­baum kri­tik & uto­pie 2012 (Intro. Eine Ein­füh­rung). 131 Sei­ten.
  • Sel­ma Meer­baum-Eisin­ger: Blü­ten­le­se. Gedich­te. Stutt­gart: Reclam 2013. 136 Sei­ten.
  • Moni­ka Rinck: Wir. Phä­no­me­ne im Plu­ral. Ber­lin: Ver­lags­haus Ber­lin 2015 (Edi­ti­on Poe­ti­con 10).

Lange Fluchten, gebrochene Menschen

danz, lange fluchtenEin unfer­ti­ger Roh­bau irgend­wo in der deut­schen Pro­vinz, die Mus­ter­fa­mi­lie – Vater, Mut­ter, zwei Kin­der – wohnt pro­vi­so­risch in Con­tai­nern auf dem Grund­stück. Das Set­ting von Danie­la Danz Roman Lan­ge Fluch­ten klingt ziem­lich ein­fach und banal. Und doch ist an dem kur­zen Text – gera­de ein­mal 146 Sei­ten, das ist heu­te nicht viel für einen Roman – nichts banal. Und nichts ist ein­fach, weder für den Leser noch für die Figu­ren des Tex­tes.

Gut, das ist kein über­mä­ßig schwie­ri­ger Text, so scheint es zunächst. Aber ent­wi­ckelt doch sei­ne Wider­stän­dig­kei­ten. Denn wor­um geht es eigent­lich? Cons (eine etwas selt­sa­me Kurz­form für Con­stan­tin, in der das „Dage­gen“ offen­bar wird) ist ein ehe­ma­li­ger Berufs­sol­dat mit Frau und Kin­dern und Gelieb­ter und einem tod­kran­ken Freund. Er lebt nach einem „Vor­fall“ in sei­ner Zeit als Zeit­sol­dat in die­sem pro­vi­so­risch ein­ge­rich­te­ten Leben, das sei­nes nicht so ganz zu sein scheint. Er lebt in merk­wür­di­ger Nähe und Tren­nung von Frau und Fami­lie, er ver­schwin­det für Tage, geht auf die Jagd, fährt ziel­los her­um, bringt nach zwei Tagen die ver­spro­che­ne Milch nach Hau­se – und scheint gene­rell recht wenig auf die Rei­he zu bekom­men. Irgend­wie hängt das mit dem nicht näher erläu­ter­ten, nur nach und nach in Sche­men erkenn­ba­ren Vor­fall bei einem Gefechts­ma­nö­ver zusam­men, dass Con­stan­tin offen­bar psy­chisch geschä­digt hat – die Fra­ge einer Ent­schä­di­gung steht im Raum, ver­langt aber mehr Akti­vi­tät, als er auf­brin­gen kann – und ihn in die­sem per­sepk­tiv- und ziel­lo­sen Leben zurück­lässt.

Die Jagd bleibt da als ein­zi­ger Rest von Akti­vi­tät – nicht zufäl­lig ist das ein dem Mili­tär ähn­li­che Zeit­ver­treib (und nicht zufäl­lig sind die betref­fen­den Pas­sa­gen dann auch vor­sich­tig fach­sprach­lich getönt). Aber für Con­stan­tin geht es dabei wohl auch um den Moment der tota­len Kon­trol­le, des (mehr oder weni­ger will­kür­li­chen) Ent­schei­dens über Leben und Tod einer ande­ren Krea­tur – wor­an er selbst tra­gi­scher­wei­se wie­der­um schei­tert. Eine gewis­ser­ma­ßen ähn­li­che Ebe­ne bringt der Selbst­mord sei­nes ein­zi­gen Freun­des, Hen­ning, in die Hand­lung. Der kann nur gelin­gen, weil Cons mit einer Bohr­ma­schi­ne (um das Seil zum Erhän­gen zu befes­ti­gen) aus­hilft – wie unbe­wusst und unge­wusst das wirk­lich war, ist nicht so ganz deut­lich.

Lan­ge Fluch­ten ist bei all dem immer fast quä­lend nahe an der Haupt­fi­gur. Der Text im per­ma­nen­ten Prä­sens ist ein sehr gelun­ge­nes Abbild der Lee­re, der Ziel­lo­sig­keit von Cons: Alles bleibt ohne Antrieb, aber irgend­wie auch ohne Grund:

Was soll man auch auf­schrei­ben, was ist für einen ande­ren am eige­nen Leben inter­es­sant? Was geht es irgend­je­man­den an? (81)

Dabei hat der Roman eine qua­si-natür­li­che, har­mo­ni­sche Form, zum Bei­spiel qua­si sich selbst erge­ben­de Kapi­tel­zu­sam­men­hän­ge. Über­haupt ist der gan­ze Text ein sehr behut­sa­mer Text: nie ver­rä­te­risch, aber auch nie „ver­ständ­nis­voll“, ein vor­ge­ge­be­nes Ver­ste­hen erhei­schend. Danie­la Danz gelingt näm­lich eine ein­drück­li­che Mischung aus zwin­gen­den Schil­de­run­gen und geheim­nis­vol­ler Kom­po­si­ti­on: Vie­les bleibt – ganz natür­lich in der Erzäh­lung – ohne Grund, ohne Erklä­rung oder Demons­tra­ti­on von Kau­sa­li­tä­ten.

Erst kurz vor dem Ende geschieht etwas im und vor allem mit dem Text. Auf der inhalt­li­chen Ebe­ne wird das dop­pelt vor­be­rei­tet: Cons kommt über Zufäl­le zu einem Art Mili­ta­ris­ten­tref­fen und hat dort, im Wald­ge­wit­ter und der Kon­fron­ta­ti­on mit einem Hirsch, eine Art Epi­pha­nie. Dem schließt sich dann ein spon­ta­ner Fami­li­en­ur­laub am Meer an. Und nach der Rück­kehr von einer Schiffs­rund­fahrt auf der „Alten Lie­be“ bricht der Text dann, zunächst mit dem Ver­schwin­den der Ehe­frau Anna (spä­ter fol­gen die bei­den Kin­der ins Nichts): Das Erzähl­tempus wech­selt ins Imper­fekt, die Ober­flä­che wird eben­falls als dif­fe­rent mar­kiert durch die kur­si­ve Type – bei­des bis zum bald fol­gen­den Schluss durch­ge­hal­ten.

Und das macht aus Lan­ge Fluch­ten eigent­lich noch ein­mal einen neu­en, einen ande­ren Text. Der Wirk­lich­keits­sta­tus von Text und berich­te­tem Gesche­hen wird nun end­gül­tig frag­lich und unsi­cher. Unklar wird auch die Gat­tungs­zu­ord­nung: Ist das jetzt ein Roman? Oder – dar­auf weist der Schluss­teil hin – eine Legen­de? Auch das bleibt am Ende dun­kel, eine Auf­lö­sung bie­tet der Text selbst nicht mehr. Die Ver­suchs­an­ord­nung wird der Lese­rin ein­fach prä­sen­tiert, ohne Erklä­rung.

Es bleibt ein­fach ein ziem­lich radi­ka­ler Bruch ins Mythi­sche, Irrea­le – aber was bedeu­tet das? Man kann dann den Text als Legen­de lesen, d.h. als exem­pla­ri­schen Text. Dann wäre der Schluss­teil sozu­sa­gen eine Art Kom­men­tar zum Text im Text selbst, eine Rezep­ti­ons­steue­rung – damit der „Haupt­text“ nicht (bloß) als Schil­deurng eines indi­vi­du­el­len Schick­sals gele­sen wer­den kann, wird das und sein Text am Schluss trans­for­miert (im Sin­ne von „auf­ge­ho­ben“). Immer­hin beginnt das im Kapi­tel XXVI mit dem bezeich­nen­den Satz:

Lass mich noch ein­mal erzäh­len. Jetzt ist alles ganz klar und vol­ler Zusammenhänge.(137)

Was dann folgt, ist zwar über­haupt nicht klar, aber: Erst jetzt, mit die­sem Satz, beginnt das Erzäh­len … (und ist damit aber auch schon wie­der am Ende ange­langt).

Die­se Rät­sel­haf­tig­keit – ohne Auf­lö­sung – ist die gro­ße Stär­ke des Tex­tes. Auch die Deu­tung als Legen­de hilft ja nur wenig – denn was heißt das denn nun für den Text und sei­ne Figu­ren, wenn er kein Roman, son­dern eine Legen­de ist? Dass Con­stan­tin ein Hei­li­ger ist? Aber war­um und wofür? Fra­gen blei­ben nach dem Lesen, aber auch die offe­ne Fas­zi­na­ti­on des Buches, das man zwar bei­sei­te legen kann, aber nicht so ein­fach been­di­gen. Je län­ger ich drü­ber nach­den­ke, des­to fas­zi­nie­ren­der wer­den die Lan­gen Fluch­ten

Er geht auf das Haus zu, ein Ver­wal­tungs­mons­ter aus Back­stein und Glas. Män­ner in Anzü­gen, Leis­tungs­trä­ger, gehen schnell an ihm vor­bei, begeg­nen ande­ren Män­nern, Frau­en, man grüßt. Mahl­zeit ist das Pass­wort, mit dem man dazu­ge­hört. Er merkt, wie sein Gang sich von dem der ande­ren unter­schei­det. Er ver­sucht, ihrem Gehen, so nennt er es abschät­zig, sei­nen Gang ent­ge­gen­zu­set­zen, sei­nen stol­zen Gang, aber es gelingt ihm nicht. Die glä­ser­ne Ein­gangs­tür öff­net sich, nir­gends ein Wider­stand. Nein, er fragt nicht den Pfört­ner, er sucht den Raum mit der Num­mer 423 selbst. ‚Alex­an­der Ste­ger‘ steht auf dem Schild neben der Tür. drei lee­re Stüh­le davor. Er setzt sich. Er hat ein­mal gelernt, eine Stra­te­gie zu ent­wi­ckeln, ‚Füh­ren mit Auf­trag‘, er muss das Heft in die Hand krie­gen jetzt. Er sitzt hier, weil Anne gesagt hat, er sol­le hin­ge­hen zu dem Ter­min. (37)

Danie­la Danz: Lan­ge Fluch­ten. Göt­tin­gen: Wall­stein 2016. 146 Sei­ten. ISBN 9783835318410.

Aus-Lese #43

Doris Knecht: Wald. Ber­lin: Rowohlt Ber­lin 2015. 270 Sei­ten.

knecht, waldMan könn­te Doris Knechts Wald als „Stre­eru­witz für Anfän­ger“ bezeich­nen: Ein dezi­diert femi­nis­ti­scher Roman, der auf aktu­el­le Gege­ben­hei­ten reagiert. Für „Anfän­ger“ des­halb – das ist nicht abwer­tend gemeint -, weil Knecht die Radi­ka­li­tät und Här­te, auch im sti­lis­ti­schen, von Stre­eru­witz fehlt. Das macht Wald zunächst mal ein­fa­cher les­bar. Die naht­los wech­seln­den, fast inein­an­der glei­ten­den ver­schie­de­nen Stil­la­gen und das beschwö­ren­de, fern an Tho­mas Bern­hard erin­nern­de (oder sind das nur die Aus­tria­zis­men?) insis­tie­ren­de Wie­der­ho­len bestimm­ter (Schlüssel-)Begriffe ver­lei­hen dem Text einen ganz eige­nen, inter­es­san­ten und oft fes­seln­den Klang.

Es geht hier um ein Reak­ti­on auf die letz­te Welt­wirt­schafts­kri­se – die ganz spe­zi­el­le der Luxus-Mode-Desi­gne­rin Mari­an, die sich mit der Erwei­te­rung ihres exklu­si­ven Geschäf­tes ver­spe­ku­liert hat und, um der dro­hen­den Pri­vat­in­sol­venz zu ent­ge­hen, aus ihrem Leben, der Stadt und der Gesell­schaft flieht in ein dörf­li­ches Haus im Fami­li­en­be­sitz, wo sie nun ver­sucht, ohne Geld in einer Art Sub­sis­tenz­wirt­schaft zu über­le­ben. Das klappt natür­lich nicht so ganz, da sind ein paar Hüh­ner­dieb­stäh­le eben­so not­wen­dig wie eine Art Pro­sti­tu­ti­on mit dem im Dorf resi­die­ren­den Großbauern/​Gutsbesitzer.

In der radi­kal weib­li­chen Per­spek­ti­ve kris­tal­li­siert sich das und die Hin­ter­grund­ge­schich­te Mari­an in der von Knecht sehr klug und har­mo­nisch gestal­te­ten Infor­ma­ti­ons­ver­ga­be erst sehr all­mäh­lich und Stück für Stück her­aus. Gut gefal­len hat mir, wie Knecht hier auf die Labi­li­tät des mor­der­nen Wohl­stand­le­bens hin­weist und die neue Archa­ik unter den Bedin­gun­gen der abso­lu­ten Exis­tenz­si­che­rung auf ein­mal jede Roman­tik ver­liert. Wenn man Mari­an dann als Exem­pel liest, ent­wi­ckelt Wald also eine all­ge­mei­ne Dys­to­pie: Die moder­ne kapi­ta­lis­ti­sche Gesell­schaft ist nur eine sehr dün­ne Hül­le. Und es gibt wenig Mög­lich­kei­ten, sich dem zu ent­zie­hen – auch im Wald bleibt Mari­an ja im Sys­tem gefan­gen, die Bezie­hung zu Franz, ihrem „Gön­ner“ unter­schei­det sich eigent­lich nur in einem Punkt zu ihrem bis­he­ri­gen Leben im Markt­ka­pi­ta­lis­mus: Die Abhän­gig­keit, das Aus­ge­lie­fert Sein ist nun direkt, liegt für alle Betei­lig­ten (und die Zuschau­en­den der Dorf­ge­mein­schaft) offen, im Gegen­satz zu der ver­deckt-indi­rek­ten Abhän­gig­keit von weni­gen wohl­ha­ben­den Käu­fe­rin­nen zuvor. Einen Aus­weg gibt es also nicht – auch das etwas lie­to-fine-mäßi­ge Hap­py-End führt aus dem Sys­tem nicht her­aus, son­dern sta­bi­li­siert nur die Abhän­gig­kei­ten.

Sie hat­te nicht im Auge gehabt, dass die Welt­wirt­schafts­kri­se die Zei­ten und Gege­ben­hei­ten viel radi­ka­ler ver­än­der­te, als es auf den ers­ten Blick, ihren Blick, schien: dass die Zei­ten näm­lich für alle unüber­sicht­lich gewor­den waren, auch für die ganz Smar­ten. (59)

Mara Gen­schel: Refe­renz­flä­che #5. 2016

Zu den Refe­renz­flä­chen von Mara Gen­schel etwas klu­ges oder auch nur halb­wegs ver­nünf­ti­ges zu schrei­ben fällt mir sehr schwer. Des­we­gen hier nur so viel: Auch die fünf­te Aus­ga­be hat mich (wie­der) fas­zi­niert. Sie beginnt – etwas über­ra­schend – zunächst fast mir einer rich­ti­gen Sto­ry: Der Zer­stö­rung (die an Pierre Bou­lez‘ Auf­for­de­rung, die Opern­häu­ser in die Luft zu spren­gen, erin­nert) des Wies­ba­de­ner Lite­ra­tur­hau­ses Vil­la Cle­men­ti­ne. Aber das, was zer­stört wird, ist natür­lich wie­der nur der Text der Vil­la Cle­men­ti­ne. Bil­der wer­den zu Tex­ten: ein mit Tesa­film ein­ge­kleb­ter Zet­tel „Tür­knauf“ reprä­sen­tiert im Bild­rah­men die Reprä­sen­ta­ti­on des reprä­sen­ta­ti­ven Bau­werks der reprä­sen­ta­ti­ven Kunst (oder so ähn­lich). Die­ses Spiel mit den Eben von Text und außer­text­li­cher Welt, die Auf­he­bung der tra­di­tio­nel­len strik­ten Unter­schei­dung die­ser Signi­fi­ka­ti­ons­be­rei­che ist ja das, was mir an Gen­schels Refe­renz­flä­chen so viel Freu­de berei­tet. Und das funk­tio­niert auch hier wie­der: Der Text ist Text ist Wirk­lich­keit, ist aber schon als Text nicht mehr nur Text, son­dern auch Bild und Mon­ta­ge (ein­ge­kleb­te und ein­ge­schrie­be­ne Tex­te), ist aber auch als Text schon zer­stört durch Über­schrei­bun­gen, ver­rutsch­te Zei­len und Durch­strei­chun­gen etc. Und er wird in sei­ner Mate­ria­li­tät ad absur­dum geführt (?), wenn lee­re Sei­ten einen Rah­men erhal­ten, auf dem ein ein­ge­kleb­tes „Blatt 3“ die Lee­re reprä­sen­tiert und natür­lich zugleich wie­der zer­stört. In die­sem ewi­gen sic-et-non, die­sem ver­spiel­ten hier-und-da muss man wohl den Raum der Refe­renz­flä­che sehen und schät­zen.

Danie­la Danz: V. Göt­tin­gen: Wall­stein 2014. 80 Sei­ten.

Und wo das Vater­land anfängt
ist ein dunk­ler Ort
wie Schnee
der die Umris­se zeigt
wie alles was auf­hört (49)

danz, v„Gedich­te“ ver­heißt V im Unter­ti­tel. Und doch beginnt es nach dem Auf­takt im pri­ni­ci­pi­um nach dem weit zurück­grei­fen­den Zitat aus Zed­lers Uni­ver­sal­le­xi­kon zum Begriff „Vater­land“ erst ein­mal mit Pro­sa (mit dun­kel fun­keln­der, die mich etwas an Klaus Hof­fers Bie­resch-Roma­ne erin­nert), die neue Mythen erzählt. Oder: Kur­ze Pro­sa, die Beob­ach­tun­gen als mythi­sche erzählt, leicht melan­cho­lisch ange­haucht. Immer schwingt da auch ein biss­chen Ver­fall und Nie­der­gang mit.

Schon hier, noch viel stär­ker dann aber in den fol­gen­den Gedich­ten, ist Hei­mat bei Danz immer ein pro­ble­ma­ti­scher Begriff: Gera­de wie selbst­ver­ständ­lich ist er immer gefähr­det und immer im Wan­del – einem Wan­del, der nicht Ver­bes­se­rung, son­dern in der Regel eher Ver­schlech­te­rung und Ver­fall bringt und Pro­ble­me offen­legt, Pro­ble­me auch im Ver­hält­nis des lyri­schen Ichs zu Hei­mat und Vater­land. Schon der Anfang zeigt das schwierige/​problematische Ver­hält­nis der Autorin/​Erzählerin zur „Hei­mat“ sehr deut­lich auf. Der Band setzt mit den Zei­len ein: „Das ist das Land von dem man sagt /​das alles hier auf­hört und alles anfängt“. Das ers­te Gedicht endet dann am Ende der ers­ten Sei­te mit dem Vers: „aber du woll­test umkeh­ren“ – also die Rück­kehr (?) in die Hei­mat wird pro­ble­ma­ti­siert, sie geschieht nicht (ganz) frei­wil­lig, sie bleibt mit Wider­stän­den ver­bun­den.

V lebt immer schon im distan­zier­ten, kri­ti­schen Ver­hält­nis zum Vater­land und zur Hei­mat: aus der (auch emo­tio­na­len) Span­nung zwi­schen die­sen bei­den Begrif­fen, auch zwi­schen Natur/​Landschaft und Menschen/​Politik (der Natio­nal­staa­ten) zie­hen die meis­ten Tex­te ihre Poten­ti­al. Die sind oft lako­nisch, immer genau und manch­mal schmerz­haft. Vor allem im „Exemplum“-Teil wird dann die poli­ti­sche Kom­po­nen­te von Hei­mat (auch von Land­schaft!) beson­ders deut­lich, aber auch die „ech­te“ Poli­tik – und der Mythos (auch der neu erfun­de­ne, selbst gemach­te – vgl. die Pro­sa­stü­cke des Beginns) – spie­len hier eine gro­ße Rol­le. Im Gan­zen ist Veine manch­mal selt­sa­me Mischung aus roman­tisch (?) ver­träum­ter Emp­fin­dungs- und Gefühls­ly­rik und har­ter Rea­li­täts­auf­nah­me der Gegen­wart der Post­mo­der­ne (und der natio­nal­staat­li­chen Poli­tik), zusätz­lich gekop­pelt und auf­ge­la­den mit mytho­lo­gi­schen Aspek­ten – der Clash die­ser bei­den Bli­cke wird im letz­ten Gedicht sehr deut­lich vor­ge­führt.

Ein Band mit anre­gen­der, oft fes­seln­der Kurz­pro­sa und Lyrik (aber die­se tei­len­de Unter­schei­dung wird ja gera­de sowie­so zuneh­mend brü­chig, von bei­den Sei­ten gibt es Auf­lö­sungs­er­schei­nun­gen) also, der for­mal zwar kei­ne Gren­zen aus­tes­tet, es mir aber durch sei­ne Viel­falt in Form und Inhalt (und der mei­ner sehr nahe­ste­hen­den Posi­ti­on zu „Hei­mat“) sehr ange­tan hat.

Die schnel­len Zügen hal­ten kaum in unse­rer Gegend
wer sieht den Weg schon hier das Feld umfas­sen
seit­lich so als hiel­te er allein es davon ab
das Korn mit einer Husche in die Fur­chen zu ver­streu­en
so wie die Män­ner hier auf Rädern sich begrü­ßen
es nichts bedarf als eines Nickens aner­ken­nend
um zu sagen: ich seh du lebst
vom Zug aus ist das alles immer schon in rechts
und links geschie­den bleibt die Land­schaft nur ein Anblick
[…] (23, Hier)

Leon­hard Frank: Der Mensch ist gut. Zürich, Leip­zig: Max Rascher 1918. 209 Sei­ten. (Euro­päi­sche Bücher)

Eigent­lich unvor­stell­bar, dass so etwas heu­te geschrie­ben wer­den könn­te: Nicht nur wegen des Pazi­fis­mus (der ja aus dem gesell­schaft­li­chen Dis­kurs ziem­lich radi­kal ver­drängt wur­de von den „Real­po­li­ti­kern“ …), son­dern gera­de auch wegen des unge­heu­ren Opti­mis­mus, der aus allen Zei­len die­ser mit­ten im größ­ten Schlach­ten aller Zei­ten ver­fass­ten Erzäh­lun­gen spricht, ja eigent­lich sogar schreit, wirkt Der Mensch ist gut von Leon­hard Frank total unzeit­ge­mäß. Dabei steht die­ses mal als das „lei­den­schaft­lichs­te Buch gegen den Krieg […], das die Welt­li­te­ra­tur“ auf­wei­se bezeich­ne­te Werk in sei­ner Zeit – es erschien erst­mals 1918, als der Ers­te Welt­krieg noch tob­te – gar nicht mal allein. Heu­te mag vie­les naiv anmu­tend: Der Glau­be an eine kom­men­de Revo­lu­ti­on, die Fähig­keit der (Nächsten-)Liebe, alles Böse (und den Krieg) zu über­win­den – das ist heu­te etwas fremd. Aber so radi­kal Franks „Lösung“ – er spricht sogar von einem „Revo­lu­ti­ons­zug der Lie­be“ (111) – ist, so radi­kal und erschüt­ternd ist auch sei­ne Schil­de­rung der blu­tigs­ten Grau­sam­kei­ten des „Gro­ßen Krie­ges“, des sinn­lo­sen Stel­lungs­krie­ges und des Unsinns des Fal­lens auf dem soge­nann­ten „Feld der Ehre“ – die Lee­re die­ses Topos the­ma­ti­sie­ren die Novel­len von Frank immer wie­der.

So hehr Über­zeu­gung und Ziel Franks sind – sein hier uner­schütt­li­cher Glau­be an das Gute in den Men­schen, das alles Böse über­win­den und ver­drän­gen wird – ästhe­tisch ist das mit hun­dert Jah­ren Abstand doch etwas dünn. Nicht nur die vie­len Wie­der­ho­lun­gen, die feh­len­de Vari­anz, son­dern gera­de die For­mel­haf­tig­keit des Tex­tes und sei­nes Inhal­tes schwä­chen Der Mensch ist gut deut­lich. Ich kann das nur noch als eine Art Zeit­zeug­nis lesen: Das war ja kei­nes­wegs eine total absei­ti­ge Posi­ti­on, die Frank hier ein­nimmt – Der Mensch ist gut war ein unge­heu­er erfolg­rei­ches Buch. (Und doch blieb er, schaut man auf den wei­te­ren Ver­lauf der Geschich­te, im gro­ßen und gan­zen wir­kungs­los …)

»Wir wol­len nicht das Unmög­li­che ver­su­chen: die Gewalt mit Gewalt aus­zu­rot­ten. Wir wol­len nicht töten. Aber von die­ser Sekun­de an soll alle Arbeit ruhen. Denn alle Arbeit wür­de noch im Diens­te die­ses Zeit­al­ters des orga­ni­sier­ten Mor­des ste­hen. Das Zeit­al­ter des Ego­is­mus und des Gel­des, der orga­ni­sier­ten Gewalt und der Lüge hat in die­ser wei­ßen Sekun­de, hat in uns eben sein Ende erreicht. Zwi­schen zwei Zeit­al­ter schiebt sich eine Pau­se ein. Alles ruht. Die Zeit steht. Und wir wol­len über die Erde, durch die Städ­te, durch die Stra­ßen gehen und im Geis­te des kom­men­den neu­en Zeit­al­ters, des Zeit­al­ters der Lie­be, das eben begon­nen hat, jedem sagen: ‚Wir sind Brü­der. Der Mensch ist gut.‘ Das sei unser ein­zi­ges Han­deln in der Pau­se zwi­schen den Zeit­al­tern. Wir wol­len mit solch über­zeu­gen­der Kraft des Glau­bens sagen: ‚Der Mensch ist gut‘, daß auch der von uns Ange­spro­che­ne das tief in ihm ver­schüt­te­te Gefühl ‚der Mensch ist gut‘, unter hel­len Schau­ern emp­fin­det und uns bit­tet: ‚Mein Haus ist dein Haus, mein Brot ist dein Brot.‘ Eine Wel­le der Lie­be wird die Her­zen der Men­schen öff­nen im Ange­sich­te der unge­heu­er­lichs­ten Mensch­heits­schän­dung.« (64)

Hans Thill: in riso /​der dür­re Vogel Bin /​käl­ter als /​Dun­lop. Ber­lin, Hei­del­berg, Edenk­o­ben, Sant­ia­go de Chi­le, Schupf­art: rough­books 2016 (rough­book 035). 102 Sei­ten.

thill, dunlopDas ist ein rough­book, mit dem ich gar nichts anfan­gen konn­te. Thill nutzt hier Gedich­te von Petrar­ca, John Don­ne, Robert Her­rick, Paul Fle­ming, Höl­der­lin, Tra­kl, Dani­el Hein­si­us, Gün­ter Ples­sow, Pablo Neru­da und ande­ren – also quer durch die Zei­ten und Spra­chen – als eine Art Vor­la­ge oder erwei­ter­te Inspi­ra­ti­on für sei­ne eige­nen Ver­se. Die ste­hen dann in klei­nen Grup­pen – meist um die zehn Ver­se – direkt unter einem im Ori­gi­nal zitier­ten Vers der Vor­la­ge. Mal las­sen sie sich sprach­lich direkt dar­auf bezie­hen, wenn Thill etwa ein ein­zel­nes Wort, eine Wort­grup­pe nutzt, um es zu vari­ie­ren, der Bedeu­tung asso­zi­ie­rend nach­zu­for­schen. Mal ist der Bezug auch eher inhalt­lich. Und mal – sogar gar nicht so sel­ten – ist der Bezug auch sehr opak, nur irgend­wie (?) asso­zie­rend, inspi­rie­rend. Mir ist dabei eigent­lich immer unklar geblie­ben, was die Metho­de will und/​oder was Thills eige­ne Tex­te dann wol­len. Viel­leicht war ich auch ein­fach nicht in der Stim­mung – aber bei meh­re­ren Ver­su­chen hat mich da, von eini­gen klei­nen fei­nen Ideen, nichts fas­zi­niert oder irgend­wie gepackt. Und, wie gesagt, ich kapie­re den Zusam­men­hang zwi­schen Vor­la­ge und Neu­schöp­fung ein­fach nicht.

Die Stand stand auf Krü­cken (Fach­werk)
als sie sich zeig­te
mit dem Gang einer Erwach­se­nen, der auf den
Stei­nen kei­ne Spur hin­ter­läßt (4)

Trau­gott Xaveri­us Unruh: Von der Sor­ber­wen­den Wesen­heit und Her­kom­men. Her­aus­ge­ge­ben von Edu­ard Wer­ner. Leip­zig: Rei­ne­cke & Voß 2015. 60 Sei­ten.

Zu der sehr amü­san­ten und geschickt ange­fer­tig­ten neu­en Edi­ti­on einer auf­klä­re­ri­schen sprach‑, kul­tur- und brauch­tums­ge­schicht­lich­ten Unter­su­chung der Sor­ber­wen­den habe ich in einem sepa­ra­ten Bei­trag schon genü­gend geschrie­ben

Micha­el W. Aus­tin, Peter Rei­chen­bach (Hrsg.): Die Phi­lo­so­phie des Lau­fens. Ham­burg: mai­risch 2015. 197 Sei­ten.

Auch zu die­sem trotz des ver­hei­ßungs­vol­len Titels eher ent­täu­schen­den Buch gibt es neben­an im Bewe­gungs­blog schon aus­rei­chen­de Aus­füh­run­gen, die ich hier nicht noch ein­mal wie­der­ho­len muss.

außer­dem gele­sen:

  • Katha­ri­na Schul­tens: Geld. Eine Abrech­nung mit pri­va­ten Res­sour­cen. Ber­lin: Ver­lags­haus Ber­lin 2015 (Edi­ti­on Poe­ti­con 11). 48 Sei­ten.
  • Poet #20
  • Edit #68
  • SpritZ #217
  • Schreib­heft #68
  • Müt­ze #11

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