Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Kategorie: pop Seite 1 von 3

Serien-Wissen

Das (ame­ri­ka­ni­sche) TV-Seri­en gera­de der letz­te kul­tu­rel­le Schrei sind und so ziem­lich alle ander­ne Küns­te zumin­dest in Bezug auf die Auf­ga­be der Welt­deu­tung und ‑erklä­rung abge­löst haben/​ablösen, dürf­te ja inzwi­schen jeder mit­be­kom­men haben, spä­tes­tens seit auch die klas­si­schen deut­schen Feuil­le­tons dar­über schrei­ben.

Beson­ders viel ernst­haf­te Lite­ra­tur zu die­sen For­ma­ten gibt es in Deutsch­land bis­her aber nicht. Der dia­pha­nes-Ver­lag hat jetzt eine klei­ne Rei­he begon­nen, die dem abhel­fen will: die „book­lets“.

Zwei der jeweils um die hun­dert Sei­ten (bei groß­zü­gi­gem Satz) star­ken Büch­lein habe ich jetzt gele­sen: Simon Rot­höh­lers (der auch die Her­aus­ga­be der Rei­he ver­ant­wor­tet) Über­le­gun­gen zu „The West Wing“ und Died­rich Diede­rich­sens Aus­füh­run­gen zu „The Sopra­nos“ – das ers­te, weil mich „West Wing“ ziem­lich begeis­tert und das zwei­te, weil mich Diede­rich­sen ziem­lich begeis­tert …

Das sind auch ganz unter­schied­li­che Tex­te. Der Essay – viel mehr ist es ja nicht – von Rot­höh­ler zeigt vor allem, wie „West Wing“ als alter­na­ti­ve zeit­his­to­ri­sche (oder auch poli­ti­sche) Erzäh­lung in Kon­kur­renz zur Gegen­wart funk­tio­niert. Das war mir manch­mal etwas dünn und ande­rer­seits oft etwas pau­schal. Aber viel­leicht bin ich auch nicht der idea­le Leser, weil ich die Serie (zu) gut ken­ne.

Inter­es­san­ter sind Diede­rich­sens Über­le­gun­gen zu den „Sopra­nos“. Das kann wie­der­um dar­an lie­gen, dass ich die nicht so gut ken­ne, weil ich die Serie nur ein­mal vor eini­gen Jah­ren gese­hen habe. Ande­rer­seits merkt man aber durch­aus den typi­schen Diede­rich­sen-Denk- und Schreib­stil, auf höhe­rem refle­xi­ven und theo­re­ti­schem, auch theo­re­ti­sie­ren­dem Niveau. Und trotz der durch­aus nicht zu ver­ach­ten­den Abs­trak­ti­on schien es mir beim Lesen detail­rei­cher. Vor allem aber facet­ten­rei­cher, weil er die „Sopra­nos“ unter ver­schie­de­nen Gesichts­punk­ten ana­ly­siert und beschreibt: Qua­si (pop-)kulturgeschichtlich, den inter­tex­tu­el­len Hin­wei­sen (den direk­ten Zita­ten zum Bei­spiel oder den Songs, die im Hin­ter­grund und im Abspann sowie in der Titel­se­quenz lau­fen) nach­ge­hend; aber auch als Beschreibung/​Kritik der ame­ri­ka­ni­schen Gesell­schaft der Mit­tel­schicht; und dann aber auch wie­der auf eher indi­vi­du­el­ler Ebe­ne, etwa in Bezug auf Lie­bes­be­zie­hun­gen und Lebens­zie­le. Das – und das ist für mich (wie gesagt, es wird auch an mei­ner stark unter­schied­li­chen Kennt­nis der bei­den Seri­en lie­gen) ein deut­li­cher Unter­schied zu Roth­mül­ler – ist sehr berei­chernd und anre­gend, so dass die nächs­te Schau der Serie gleich mal wie­der auf die Todo-Lis­te gewan­dert ist.

Den Schluss dar­aus möch­te ich mal als Bei­spiel zitie­ren:

Die „Sopra­nos“ – und mehr noch die spä­te­re Serie „Brea­king Bad“ – haben immer auch den Umstand arti­ku­liert, dass Leu­te, die eigent­lich nichts ande­res wol­len als ein Häus­chen in der Sub­ur­bia, nicht anders über­le­ben kön­nen als durch Kapi­tal­ver­bre­chen. Und umge­kehrt, dass die­je­ni­gen, die gewohn­heits­mä­ßig Kapi­tal­ver­bre­chen bege­hen, nicht anders leben wol­len als der Rest der Mit­tel­klas­se. Dies ist bei Arbeits­lo­sig­keit, Lohn­ab­bau, Deindus­tria­li­sie­rung, Pre­ka­ri­sie­rung nicht mehr mög­lich – daher muss man so leben, wie die Mafia schon lan­ge lebt. Das all­täg­li­che Leben fühlt sich eh schon die gan­ze Zeit an wie ein Kampf gegen das Gesetz. Das ein­zi­ge, was die­ses Leben noch über­strahlt, gele­gent­lich über sei­ne hün­di­sche Imma­nenz hin­aus­weist, sind die Songs, die alle ken­nen, die ihnen fort­ge­setzt zuge­ord­net wer­den: gro­ße Songs, ver­trot­tel­te Songs, klas­si­sche Bal­la­den, Madri­ga­le, Rap, Rock’n’Roll. […] Die Gegen­kul­tur und ihre Über­res­te, aus der die Songs kom­men, die das Leben in einer Ver­bre­chen-um-zu-Über­le­ben-Mit­tel­klas­se mit Trans­pa­renz aus­stat­ten, müs­sen natür­lich unter ihrer Last zusam­men­bre­chen. Am trau­rigs­ten und zugleich beson­ders evi­dent wird das, wenn ein Song so direkt einer Per­son zuge­ord­net wird, dass das Lacan’sche Dik­tum, wonach das Sub­jekt immer im Futur II exis­tiert, sich nicht nur voll­endet, son­dern die­ses Futur II, der auf eine Zukunft, die Ver­gan­gen­heit gewor­den ist, gerich­te­te Ent­wurf, von dem Ent­wer­fen­den wie­der­erkannt wird.(98f.)

Als drit­tes ist übri­gens zum Start der book­let-Rei­he noch ein Text von Dani­el Esch­köt­ter zu „The Wire“ erschie­nen. Aber damit – also mit „The Wire“ – kann ich bis­her gar nichts anfan­gen.

Simon Rot­höh­ler: The West Wing. Zürich: dia­pha­nes 2012 (book­let). 96 Sei­ten. 10 Euro. ISBN 9783037342121.
Died­rich Diede­rich­sen: The Sopra­nos. Zürich: dia­pha­nes 2012 (book­let). 112 Sei­ten. 10 Euro. ISBN 9783037342114.

von der alten zur neuen synagoge

„glück­lich unper­fekt“ – dar­auf muss man erst ein­mal kom­men. vor allem, wenn man sein métier so gut beherrscht. von „unper­fekt“ kann man bei sän­ge­rin sharon brau­ner eigent­lich nicht spre­chen. aber glück­lich macht sie ihr publi­kum in der main­zer syn­ago­ge schon. vor allem fühlt sie sich offen­bar wohl auf der schrä­gen büh­ne im schrä­gen bau – nur die schrä­gen töne blie­ben aus.

sharon brau­ner, die ber­li­ner sän­ge­rin, ist dabei fast allein. nur eine ganz mini­ma­lis­ti­sche band hat sie dabei – einen uralten e‑bass, ein ganz, ganz klei­nes schlag­zeug und ein kla­vier – mehr ist nicht nötig. na ja, ab und an schon: wenn sharon brau­ner zwi­schen­drin mal eben zur jane hen­drix von ber­lin wird und sich für eine kur­ze wei­le auf der uku­le­le aus­tobt. zum bei­spiel im ver­kupp­lungs­lied über die jüdi­sche mut­ter, die nicht nur obst und gemü­se, son­dern immer wie­der auch einen hei­rats­kan­di­da­ten für ihre toch­ter vom markt mit nach hau­se bringt. oder wenn sie till brön­ner, der lei­der, lei­der nicht mehr ins auto pass­te, mit der spiel­zeug­trom­pe­te so gut ersetzt, dass man ihn fast gar nicht ver­misst.

immer ist das leben­di­ge ener­gie­bün­del nett bis in die zehen­spit­zen und immer singt sie ent­spannt mit viel spaß, ohne nach­läs­sig zu wer­den. und immer wird sie sorg­sam unter­stützt von ihrer band, vor allem dem inspi­rier­ten hel­mut bru­ger am kla­vier.

nett – und größ­ten­teils unver­fäng­lich – auch ihre musik: alte jid­di­sche lie­der, etwas chan­son, eine men­ge swing: ein wil­der stil­mix ist ihr pro­gramm, der auch vorm tan­go nicht halt macht. der aber, vor allem durch die pro­fes­sio­na­li­tät der musi­ker, die über­all fit sind, eine run­de mischung ergibt – eine wohl­tu­end leben­di­ge sogar, die wun­der­bar für einen abend ange­neh­mer unter­hal­tung geeig­net ist. und die neben­bei noch eine klei­ne ein­füh­rung oder auf­fri­schung ins jid­di­sche lie­fert.

das pas­siert mal aus­ge­spro­chen furi­os oder auch etwas der­ber, ein ande­res mal auch einüh­lend und behut­sam, wie in ihrer ver­si­on von bodo wart­kes „an dich“. und auch die ein oder ande­re schnul­ze dazwi­schen darf nicht feh­len. schließ­lich geht es vor allem um eines: die lie­be mit­samt ihren höhen und tie­fen, ihren lau­nen und über­ra­schun­gen. und davon weiß sharon brau­ner eine gan­ze men­ge lie­der zu sin­gen und geschich­ten zu erzäh­len.

(geschrie­ben für die main­zer rhein-zei­tung.)

schleichende begeisterung

ich höre ja, das ist eine art geständ­nis, ele­ment of crime recht ger­ne. ins­be­son­de­re seit „roman­tik“ haben sie es mir immer ange­tan. ein etwas sün­di­ges begeh­ren ist das, weil ich sonst eigent­lich eher etwas kom­ple­xe­re, avan­cier­te ästhe­ti­sche pro­gram­me und kon­zep­te schät­ze. aber manch­mal ist so ein biss­chen seich­ter pop auch nicht schlecht ;-). denn auch wenn gera­de die tex­te immer wie­der sehr geprie­sen wer­den – im grun­de bleibt es alles sehr harm­los hier.

das neu­es­te album, „immer da wo du bist bin ich nie“, schien mir dann aber zunächst, beim ers­ten und zwei­ten hören, doch arg platt gera­ten. aber, das ist das gemei­ne bei ele­ment of crime der letz­ten jah­re, sie schlei­chen sich doch in die gunst der hörer ein. inzwi­schen hat mich auch die neue cd ziem­lich gepackt. die musik ist ja im gro­ßen und gan­zen immer noch die­sel­be – ein biss­chen mehr tex-mex-anklän­ge, aber sonst bleibt es beim bewähr­ten sound. aber eben ziem­lich gut gemacht: ein­gän­gi­ge, sehr ein­gän­gi­ge melo­dien, nett har­mo­ni­siert, tight gespielt, ohne irgend jemand zum wider­spruch auf­zu­re­gen – deut­sche kon­sens­mu­sik at it’s best … die tex­te, zunächst, hat­te mich ziem­lich genervt: die­ses bemü­hen um kunst­vol­le nai­vi­tät, die­se wol­len um jeden preis, das aus fast jeder zei­le spricht – ner­vig.

the­ma­tisch ist das natür­lich extrem ein­fallslsos – der plat­ten­ti­tel [ein fast-zitat übri­gens des ers­ten ver­ses von del­men­horst vom mit­tel­punkt der welt], zugleich lied­ti­tel #6 (auch da ohne kom­ma), ver­rät eigent­lich alles. aber das ele­ment of crime vor­zu­wer­fen ist unge­fähr so sinn­voll wie den metz­ger dafür anzu­kla­gen, dass er kei­nen käse ver­kauft. da sind es halt doch dann doch die „net­ten“ for­mu­lie­run­gen, die es wie­der raus­rei­ßen, die ins bewusst­sein ein­si­ckern und zuneh­mend zustim­mung und freu­de her­vor­ru­fen … aber genau auf das ein­si­ckern kommt es offen­bar an: beim ers­ten hören ist das nicht unbe­dingt auf­fäl­lig, vie­les geht glatt vor­über (und je nach stim­mung ist man, d.h. bin ich, gelang­weilt oder genervt). an vie­len fein­hei­ten erfreut man sich erst beim x‑ten hören. und das ist wie­der­um ein gro­ßer vor­zug der ele­ment-of-crime-musik: sie ver­trägt das ofte hören erstaun­lich gut. weil sie, trotz ihre beschei­de­nen ästhe­tik und schein­ba­ren strom­li­ni­en­för­mig­keit, genü­gend details dafür bie­tet.

inzwi­schen bin ich schon fast begeis­tert … es gibt auf jeden fall schlim­me­res, als das zu mögen.

Why, oh why …

„Why, oh why do the birds
Do all the fly­ing
It could be me

Taking ever­y­thing sou­thern
The wea­ther is war­mer
Good place to be

Why, oh why do the bees
Need a bee­kee­per
Let them alo­ne

Taking all of their honey
Isn’t it gree­dy
Lea­ving them none“
(The Bird and The Bee, Birds and Bees)

angebissen: der don-camillo-chor auf cd

Musik dazu ver­wen­den, jeman­den zu ver­füh­ren, ist kei­ne neue Idee. Das Opfer mit der Musik als Köder zur Musik zu begeh­ren, ist schon etwas unge­wöhn­li­cher. Und wenn ein Chor das dann auch noch so offen und direkt unter­nimmt wie der „Don-Camil­lo-Chor“ aus dem Münch­ner Umland, dann gehen jeder Ziel­per­son schnell die Argu­men­te für den Wider­stand aus.

Das liegt, wie ihre neu­es­te (und ers­te) CD mit dem pas­sen­den Titel „Good Bait“ beweist, zu gro­ßem Teil an der jugend­li­chen Fri­sche und dem unbän­di­gen Über­schwang, mit dem der gesam­te Chor sich auf sein Reper­toire vor­wie­gend aus Jazz und Pop stürzt. So eine frei­zü­gi­ge Freu­de teilt sich dem Hörer in jedem Moment mit, dass er mit dem größ­ten Ver­gnü­gen anbeißt.

Das Ver­gnü­gen ist aller­dings nicht nur ein Ver­dienst der Sän­ger und ihres Chor­lei­ters, der sie immer wie­der kna­ckig auf den Punkt fokus­siert. Es liegt zu einem gro­ßen Teil auch an den ange­nehm ein­falls­rei­chen Arran­ge­ments, die mehr­heit­lich vom Diri­gen­ten selbst oder aus der bewähr­ten Feder des um kei­ne Poin­te ver­le­ge­nen Oli­ver Gies stam­men.

Das reicht vom feu­ri­gen „Chi­li con Car­ne“ aus dem Fun­dus der „Real Group“ über auf­ge­fri­sche Swing-Klas­si­ker bis zu – in ihren kom­ple­xen Arran­ge­ments kaum noch erkenn­ba­ren – Pop-Hits der letz­ten Jahr­zehn­te. Mit einer recht frei­en Bear­bei­tung von Brahms‘ „Guten Abend, gut‘ Nacht“ beweist der Don-Camil­lo-Chor dann neben­bei auch noch, dass er mehr als nur rei­ner Jazz-Pop-Chor ist: Die­se jun­gen Sän­ger und Sän­ge­rin­nen füh­len sich in vie­len Gefil­den zu Hau­se. Mit Recht. Denn „Good Bait“ ist nicht nur eine schö­ne, gelun­ge­ne Leis­tungs­schau, son­dern auch ein­fach gute Unter­hal­tung.

Don Camil­lo Chor: Good Bait. Spek­tral SRL4-09049, 2009.

(geschrie­ben für die neue chor­zeit)

schräge musik

schrä­ge musik

(via text­und­blog)

hoffnung und ihre erfüllung (musikalisch): esperanza spalding & triband

Eigent­lich hät­te auf der Ein­tritts­kar­te ein Warn­hin­weis ste­hen müs­sen. Der Jazz­mi­nis­ter warnt: Der Genuss die­ser Musik ver­än­dert ihr Jazz-Bewusst­sein. Denn was Jazz­to­day jetzt im Frank­fur­ter Hof prä­sen­tier­te, hat mit tra­di­tio­nel­lem Jazz unge­fähr noch so viel zu tun wie ein moder­ner Syn­the­si­zer mit einem ehr­wür­di­gen Kon­zert­flü­gel – wenig, sehr wenig sogar. Aber das macht ja nichts. So lan­ge es Spaß macht. Und genau dafür ist Espe­ran­za Spal­ding mit ihrem Trio zum ers­ten Mal aus Ame­ri­ka nach Deutsch­land gekom­men.

Spal­ding ist eine jun­ge Musi­ke­rin, die sich nicht zwi­schen dem Sin­gen und dem Bass ent­schei­den kann – und des­halb ein­fach bei­des macht. Und mit Erfolg: ihre stei­le Kar­rie­re führ­te sie im Febru­ar bis ins Wei­ße Haus. Und jetzt nach Mainz. Da mach­te sie schon mit dem Ope­ner klar, wohin die Tour geht: „Jazz ain’t not­hin‘ but soul“. Sofort ist die Band mit­ten im Groo­ve, Otis Brown am Schlag­zeug wirkt dabei stel­len­wei­se wie ein Drum­com­pu­ter. Und wäh­rend Espe­ran­za Spal­ding mit flin­ken Fin­gern ihren fun­ky Bass wir­beln lässt und dazu noch gleich­zei­tig locker die Stimm­bän­der im Scat­ge­sang tan­zen lässt, zeigt vor allem Pia­nist Leo Geno­ve­se – auch mit der Melo­di­ca – sei­ne ver­spiel­te Sei­te. Denn egal ob es Jazz­stan­dards oder etwa Way­ne Shor­tes „End­an­ge­red Spe­ci­es“ sind: Das Quar­tett mach sich alles zu eigen, addiert sei­ne voll gepfropf­ten Arran­ge­ments, die nur ein Ziel ken­nen: Das Ergeb­nis muss Spaß machen. Und da kom­men sie immer an, bis zur Pau­se ist kom­pro­miss­los gute Lau­ne ange­sagt.

Tri­band kün­dig­te sich danach dann selbst mit „ihr Kon­trast­pro­gramm für heu­te abend“ an. Und das war nicht über­trie­ben – jetzt war Schluss mit lus­ti­ger Spaß­mu­sik. Das deut­sche Quar­tett ist ja schon eini­ge Jah­re unter­wegs und hat in der Zeit ihre Musik noch ver­fei­nert: Zu einer wah­ren Fei­er der Sub­ti­li­tät mit Hang zur nach­denk­li­cher Melan­cho­li­tät. Aber nicht resi­gnie­rend, son­dern die Wirk­lich­keit ein­fach umar­mend: Gefühls­la­gen des Indi­vi­du­ums nach der Post­mo­der­ne besin­gen sie in Songs wie „Some­bo­dy else“. Und mit ech­ten Live-Qua­li­tä­ten. Am deut­lichs­ten wur­de das in „Whe­re did all the love go“ oder dem gran­dio­sen „Diz­zy Day“ am Schluss des Abends. Etwas Pop ist in die­ser Mischung, natür­lich steu­ert auch die Jazz­ge­schich­te eini­ge Ingre­di­en­zen bei, der Funk ist auch nicht spur­los an ihnen vor­ür­ber gegan­gen. Aber die Klang­tüft­ler, die so ganz in ihrer Musik auf­ge­hen, bau­en dar­aus etwas Eige­nes: San­die Woll­asch singt immer klar und mini­mal ver­spielt. Der Bas­sist Pau­cker – wie Sebas­ti­an Stud­nitz­ky ein ech­ter Mul­ti­in­stru­men­ta­list (auch so eine Grenz­über­schrei­tung …) gibt sich mit jeder Faser des hage­ren Kör­pers der Musik hin, tanzt um und mit Bass und Ana­log-Syn­the­si­zer, wäh­rend Tom­my Bal­du die bro­deln­den Rhyth­men zum Tan­zen bringt. Und die­ses Gebräu ist so wir­kungs­voll, dass es auch das anfangs nur zurück­hal­tend reagie­ren­de Main­zer Publi­kum in sei­nen Bann zieht.

(geschrie­ben für die main­zer rhein-zei­tung.)

harte männer ganz sanft: rammsteins „engel“ a‑cappella

Mutig ist es, was der Bos­se-Ver­lag macht: Sei­ne neue Rei­he „Bos­se Hits a‑cappella“ gleich mit Ramm­steins „Engel“ zu eröff­nen. Denn vie­len ist Ramm­stein in Deutsch­land (im Aus­land übri­gens im Grun­de gar nicht) immer noch ein Ärger­nis. „Engel“ ist aber sicher­lich eines der unver­fäng­lichs­ten Lie­der. Und zugleich einer der gro­ßen Erfol­ge der umstrit­te­nen Band, der Durch­bruch in die grö­ße­re Öffent­lich­keit vor über zehn Jah­ren.

Was der Bos­se-Ver­lag nun vor­legt, ist aber nicht so sehr eine a‑cap­pel­la-Ver­si­on des Ramm­stein-Songs, son­dern eine noch ein­mal bear­bei­te­te Ver­si­on – für gemisch­ten Chor sowie Frauenchor/​Männerchor – des May­be­bop-Arran­ge­ments. Und das Quar­tett ver­kehrt die „Neue Deut­sche Här­te“ des Ori­gi­nals ins ziem­lich genau Gegen­teil – eine wei­che, schmu­si­ge Bal­la­de haben sie dar­aus gemacht. Mit einem recht raf­fi­nier­ten, sehr öko­no­mi­schen Arran­ge­ment. Das fin­det sich auch in den vor­lie­gen­den Sät­zen so wie­der – die hal­ten sich näm­lich sehr genau ans May­be­bop-Ori­gi­nal, nur mini­ma­le Anpas­sun­gen an die ver­schie­de­nen Beset­zun­gen hat Oli­ver Gies noch vor­ge­nom­men.

Ein schö­nes Bei­spiel ist die­ser Satz zugleich, wie sehr eine Bear­bei­tung den Cha­rak­ter eines Stü­ckes ver­än­dern kann: Die Noten „stim­men“ eigent­lich noch ziem­lich genau mit der Musik von Ramm­stein über­ein. Aber die Reduk­ti­on auf vier mensch­li­che Stim­men und die Ver­än­de­rung der Struk­tur tun eini­ges, dem Engels­lied jede Här­te zu neh­men – damit aber auch viel von sei­nem eigent­li­chen Reiz. Jeden­falls ist es ein gut sing­ba­res Arran­ge­ment, das zwar tech­nisch schon ver­sier­te Sän­ger for­dert (etwa beim Zwi­schen­spiel in klas­si­scher Imi­ta­ti­ons­tech­nik, eine ech­te May­be­bop-Zutat und ‑Spe­zia­li­tät), sonst aber zurück­hal­tend bleibt. Und es lässt den Inter­pre­ten wie­der­um eini­gen Raum – man muss das nicht unbe­dingt so wie May­be­bop sin­gen. Dass ist das gro­ße Plus die­ser Aus­ga­be und ihre Auf­ga­be an Chö­re und Ensem­bles: Einen eige­nen Weg zwi­schen Ramm­stein und May­be­bop zu fin­den.

Ramm­stein: Engel. Arran­ge­ment: Maybebop/​Oliver Gies. Gus­tav Bos­se Ver­lag 2008. (Bos­se Hits a cap­pel­la, hrsg. von Ste­fan Kal­mer). Gemisch­ter Chor: BE 721, Frau­en­chor: Be 722, Män­ner­chor: BE 723. 7 Sei­ten, 3,50 Euro.

(geschrie­ben für die neue chor­zeit)

feldforschung oder erzählung?

am wochen­en­de gele­sen: tho­mas meine­ckes schma­les bänd­chen feld­for­schung (frank­furt am main: suhr­kamp 2006). der unter­ti­tel behaup­tet, das sei­en erzäh­lun­gen. ich habe da so mei­ne zwei­fel.
eigent­lich war ich bis­her von meine­ckes schrift­stel­le­ri­schen arbei­ten immer recht ange­tan: tom­boy habe ich vor eini­gen jah­ren mit gro­ßem ver­gnü­gen gele­sen, dann auch holz und The church of John F. Ken­ne­dy sehr genos­sen. die vor­ein­stim­mung auf die­sen band, der als &gdquo;narrativer Bei­trag zur im AUgust 2006 eröff­ne­ten Aus­set­lung ‚das ach­te feld. geschlech­ter, leben und begeh­ren in der kunst sein 1960‘“ ent­stand, war also durch­aus posi­tiv. den hin­ter­grund zitie­re ich aus dem klap­pen­text des­halb so aus­führ­lich, weil er wahr­schein­lich nicht ganz unwe­sent­lich für die form des tex­tes bzw. der elf stü­cke ver­ant­wort­lich ist. vor allem aber, weil er so auf­fäl­lig noch ein­mal das wort „nar­ra­tiv“ bemüht. denn das ist eigent­lich der knack­punkt bei die­sem werk: wird hier über­haupt erzählt? ist es erzäh­len, wenn sei­ten­lang die dis­kus­si­on einer eng­lisch­spra­chi­gen mai­ling­lis­te über drag queens und kings bzw. ihre zwi­schen­stu­fen und über­la­ge­run­ge und deren ange­mes­se­ne und kor­rek­te bezeich­nung zitiert wird? oder ist das zitat nur fik­ti­on? die per­so­nen­na­men sind jeden­falls real und könn­ten auch – nach einer kur­zen inter­net­su­che – zu den ent­spre­chen­den aus­sa­gen pas­sen. eigent­lich ist es aber egal, denn die wirk­lich­keit ist offen­bar nur noch der/​ein/​text – und das heißt ja auch, dass wirk­lich­keit (und erst recht natür­lich mime­sis) kein kri­te­ri­um mehr ist. also, die fra­ge bleibt aber auch unab­hän­gig von der fik­tio­na­li­tät die­ser pas­sa­ge: was wird hier eigent­lich erzählt? natür­lich geht es um geschlecht(er), um ihrer kon­struk­ti­on, wahr­neh­mung etc. – fast hät­te ich geschrie­ben: das übli­che meine­cke-the­ma. aber noch ein­mal: ist das erzählt? es wir ja nur „be“-schrieben, nur situa­tio­nen geschil­dert. nur ganz sel­ten geschieht etwas, gibt es ent­wick­lun­gen und nur in weni­gen ansät­zen gibt es so etwas wie zeit. und das scheint mir doch schon ein merk­mal von erzäh­len zu sein, dass zeit in irgend einer form anwe­send ist, eine rol­le spielt. wenn über­haupt noch res­te sozu­sa­gen von dem, was man geläu­fig unter erzäh­len fasst, zu fin­den sind, sind sie ganz meine­cke-typisch neu­tra­li­siert1: das grund­sätz­li­che prä­sens zum bei­spiel. die unklar­heit von gender/​sex der erzähl­stim­me – wo es sie noch gibt. zum bei­spiel in mis­ter gay, der rekon­struk­ti­on eines über­falls auf eine schwu­len­bar, bei der es natür­lich auch wie­der um die ver­schwim­men­den gren­zen geht: die über­gän­ge von rea­li­tät in fik­ti­on, von bericht (des­sen stil­mit­tel vor­herr­schen) zur erzäh­lung zum dreh­buch, von psy­schi­cher „nor­ma­li­tät“ zu „krank­heit“ usw. usf. oder, auch eine eher spe­zi­el­le art des erzäh­lens: ody­see, wo der text nur noch aus einer zeit­ta­fel und der – deu­ten­den – über­schrift besteht.
da lie­ße sich bestimmt noch viel mehr dazu sagen. aber ob es sich lohnt? denn immer wie­der dreht es sich aber – in die­ser häu­fung dann auch schon sehr pene­trant – um die unklar­hei­ten des geschlechts, sei­ne kon­struk­tio­nen, sei­ne iden­ti­tä­ten (und deren kon­struk­tio­nen)2 und so wei­ter: „schon als klei­ner jun­ge war sie“ (63). wer das aber kapiert hat – und die meine­cke-leser ken­nen das ja eh‘ schon -, dem ist eigent­lich auch schon alles klar, was die­se tex­te wol­len. und der rest ist vor allem lang­wei­le.

Show 2 foot­no­tes

  1. ein typi­scher anfang bei meine­cke geht z.b. so: „bras­sai, unter dem unga­ri­schen namen gyu­la halá­sz gebo­ren im sie­ben­bür­gi­schen kron­stadt, rumä­nisch bra­sov, wovon er sein pseud­onym pho­ne­tisch ablei­te­te, des­sen lebens­weg von öster­reich-ungarn über deutsch­land nach frank­reich führt, in den frü­hen 1930er jah­ren, auf sei­nen nok­tur­nen foto­gra­fi­schen streif­zü­gen durch das soge­nann­te gehei­me paris, augen­blick­lich im le mono­cle, einer, wie er sich, hete­ro­nor­miert, aus­drückt, aus­schließ­lich dem schö­nen geschlecht gewid­me­ten bar, in wel­cher sämt­li­che frau­en, die wir­tin, sie hört auf den namen lulu de mont­par­nas­se, die andern­orts leicht­be­klei­de­ten bar- und ani­mier­mäd­chen, die kell­ne­rin­nen, selbst die gar­de­ro­bie­re, män­ner­klei­der tra­gen.“ (58) und das ist gera­de ein­mal der ers­te absatz, es geht noch fünf sei­ten so wei­ter.
  2. „er brach­te mir bei, was ich war, denn ich hat­te ja nie zuvor von fag hags gehört.“ (104)

nichts für müde beine oder müde ohren: candy dulfer in mainz

„Can­dy Store“ steht in gro­ßen Buch­sta­ben über der Büh­ne geschrie­ben. Aber das ist irre­füh­ren­de Wer­bung. Denn was hier über die Büh­ne geht, ist alles ande­re als süß. Die nie­der­län­di­sche Saxo­pho­nis­tin Can­dy Dul­fer ist es, die mit ihrer Band den Frank­fur­ter Hof auf­mischt.
Nach län­ge­rer Abs­ti­nenz ist die Meis­te­rin des Funk mal wie­der in Mainz. Und kaum steht sie auf der Büh­ne, geht die Par­ty auch schon los. Denn das ist nichts zum Zuschau­en, jeder Groo­ve geht in die Bei­ne: Die­se Funk­at­ta­cke wür­de auch hart­ge­sot­te­ne Par­ty­muf­fel über­wäl­ti­gen – wenn denn wel­che da wären. Denn die Par­ty fin­det nicht nur auf der Büh­ne statt, son­dern auch davor. Kein Wun­der – schließ­loich prä­sen­tie­ren sich die Musi­ker vom ers­ten bis zum letz­ten Ton ener­gie­ge­la­den und spaß­ge­trie­ben. Das ist sozu­sa­gen die per­fek­te Novem­ber­mu­sik.
Dafür bedient sich Can­dy Dul­fer wie­der ein­mal aus­gie­big vom reich­hal­ti­gen Funk­buf­fett. Trotz der Fül­le schmeckt es aber aus­ge­zeich­net. Oder gera­de des­we­gen. Denn das ist alles ande­re als ein chao­ti­sches Sam­mel­su­ri­um. Son­dern eine per­fekt abge­stimm­te Menü­fol­ge. Nicht ohne Ver­dienst dar­an ist die Crew, die die Chef­kö­chin Dul­fer unter­stützt. Das Zusam­men­spiel ist aus­ge­spro­chen dicht. Deut­lich wird das noch ein­mal, wenn sie für das Fina­le einen groß­ar­ti­gen Groo­ve über meh­re­re Minu­ten schön sorg­sam von unten Stück für Stück, Instru­ment für Instru­ment auf­bau­en – da bleibt nie­mand unbe­rührt, da kocht der Saal bei­na­he über. Es ist aber auch wirk­lich ein Groo­ve der Extra­klas­se, der dabei her­aus­kommt. Und damit passt er genau zum krö­nen­den Abschluss. Denn wenn etwas bezeich­nend für Dul­fer und ihre Band ist, dann ist es die Fähig­keit, alles und jedes groo­ven zu las­sen.
Ein biss­chen etwas Wah­res ist also doch dran, an der Ver­hei­ßung eines „Can­dy Stores“: Denn die Men­ge an Zuta­ten, die vie­len Aus­wahl­mög­lich­kei­ten, von denen sich Can­dy Dul­fer und ihre Band bedie­nen kön­ne, erin­nern schon an die über­wäl­ti­gen­den Mög­lich­kei­ten eines Süß­wa­ren­han­dels. Einen Zucker­schock bekommt man davon aller­dings nicht. Und außer­dem ist so ein Kon­zert auch noch bes­ser für die Figur.

(geschrie­ben für die main­zer rhein-zei­tung). was nicht drin steht: der ziem­lich mäßi­ge sound im hin­te­ren teil des saa­les – trotz oder wegen der ziem­lich hef­ti­gen laut­stär­ke …

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