danz, lange fluchtenEin unfer­tiger Rohbau irgend­wo in der deutschen Prov­inz, die Muster­fam­i­lie — Vater, Mut­ter, zwei Kinder — wohnt pro­vi­sorisch in Con­tain­ern auf dem Grund­stück. Das Set­ting von Daniela Danz Roman Lange Flucht­en klingt ziem­lich ein­fach und banal. Und doch ist an dem kurzen Text — ger­ade ein­mal 146 Seit­en, das ist heute nicht viel für einen Roman — nichts banal. Und nichts ist ein­fach, wed­er für den Leser noch für die Fig­uren des Textes.

Gut, das ist kein über­mäßig schwieriger Text, so scheint es zunächst. Aber entwick­elt doch seine Wider­ständigkeit­en. Denn worum geht es eigentlich? Cons (eine etwas selt­same Kurz­form für Con­stan­tin, in der das „Dage­gen“ offen­bar wird) ist ein ehe­ma­liger Beruf­s­sol­dat mit Frau und Kindern und Geliebter und einem tod­kranken Fre­und. Er lebt nach einem „Vor­fall“ in sein­er Zeit als Zeit­sol­dat in diesem pro­vi­sorisch ein­gerichteten Leben, das seines nicht so ganz zu sein scheint. Er lebt in merk­würdi­ger Nähe und Tren­nung von Frau und Fam­i­lie, er ver­schwindet für Tage, geht auf die Jagd, fährt ziel­los herum, bringt nach zwei Tagen die ver­sproch­ene Milch nach Hause — und scheint generell recht wenig auf die Rei­he zu bekom­men. Irgend­wie hängt das mit dem nicht näher erläuterten, nur nach und nach in Schemen erkennbaren Vor­fall bei einem Gefechts­man­över zusam­men, dass Con­stan­tin offen­bar psy­chisch geschädigt hat — die Frage ein­er Entschädi­gung ste­ht im Raum, ver­langt aber mehr Aktiv­ität, als er auf­brin­gen kann — und ihn in diesem persep­k­tiv- und ziel­losen Leben zurück­lässt.

Die Jagd bleibt da als einziger Rest von Aktiv­ität — nicht zufäl­lig ist das ein dem Mil­itär ähn­liche Zeitvertreib (und nicht zufäl­lig sind die betr­e­f­fend­en Pas­sagen dann auch vor­sichtig fach­sprach­lich getönt). Aber für Con­stan­tin geht es dabei wohl auch um den Moment der total­en Kon­trolle, des (mehr oder weniger willkür­lichen) Entschei­dens über Leben und Tod ein­er anderen Krea­tur — woran er selb­st tragis­cher­weise wiederum scheit­ert. Eine gewis­ser­maßen ähn­liche Ebene bringt der Selb­st­mord seines einzi­gen Fre­un­des, Hen­ning, in die Hand­lung. Der kann nur gelin­gen, weil Cons mit ein­er Bohrmas­chine (um das Seil zum Erhän­gen zu befes­ti­gen) aushil­ft — wie unbe­wusst und ungewusst das wirk­lich war, ist nicht so ganz deut­lich.

Lange Flucht­en ist bei all dem immer fast quälend nahe an der Haupt­fig­ur. Der Text im per­ma­nen­ten Präsens ist ein sehr gelun­ge­nes Abbild der Leere, der Ziel­losigkeit von Cons: Alles bleibt ohne Antrieb, aber irgend­wie auch ohne Grund:

Was soll man auch auf­schreiben, was ist für einen anderen am eige­nen Leben inter­es­sant? Was geht es irgend­je­man­den an? (81)

Dabei hat der Roman eine qua­si-natür­liche, har­monis­che Form, zum Beispiel qua­si sich selb­st ergebende Kapitelzusam­men­hänge. Über­haupt ist der ganze Text ein sehr behut­samer Text: nie ver­rä­ter­isch, aber auch nie „ver­ständ­nisvoll“, ein vorgegebenes Ver­ste­hen erheis­chend. Daniela Danz gelingt näm­lich eine ein­drück­liche Mis­chung aus zwin­gen­den Schilderun­gen und geheimnisvoller Kom­po­si­tion: Vieles bleibt — ganz natür­lich in der Erzäh­lung — ohne Grund, ohne Erk­lärung oder Demon­stra­tion von Kausal­itäten.

Erst kurz vor dem Ende geschieht etwas im und vor allem mit dem Text. Auf der inhaltlichen Ebene wird das dop­pelt vor­bere­it­et: Cons kommt über Zufälle zu einem Art Mil­i­taris­ten­tr­e­f­fen und hat dort, im Waldge­wit­ter und der Kon­fronta­tion mit einem Hirsch, eine Art Epiphanie. Dem schließt sich dann ein spon­tan­er Fam­i­lienurlaub am Meer an. Und nach der Rück­kehr von ein­er Schiff­s­rund­fahrt auf der „Alten Liebe“ bricht der Text dann, zunächst mit dem Ver­schwinden der Ehe­frau Anna (später fol­gen die bei­den Kinder ins Nichts): Das Erzähltem­pus wech­selt ins Imper­fekt, die Ober­fläche wird eben­falls als dif­fer­ent markiert durch die kur­sive Type — bei­des bis zum bald fol­gen­den Schluss durchge­hal­ten.

Und das macht aus Lange Flucht­en eigentlich noch ein­mal einen neuen, einen anderen Text. Der Wirk­lichkeitssta­tus von Text und berichtetem Geschehen wird nun endgültig fraglich und unsich­er. Unklar wird auch die Gat­tungszuord­nung: Ist das jet­zt ein Roman? Oder — darauf weist der Schlussteil hin — eine Leg­ende? Auch das bleibt am Ende dunkel, eine Auflö­sung bietet der Text selb­st nicht mehr. Die Ver­such­sanord­nung wird der Leserin ein­fach präsen­tiert, ohne Erk­lärung.

Es bleibt ein­fach ein ziem­lich radikaler Bruch ins Mythis­che, Irreale — aber was bedeutet das? Man kann dann den Text als Leg­ende lesen, d.h. als exem­plar­ischen Text. Dann wäre der Schlussteil sozusagen eine Art Kom­men­tar zum Text im Text selb­st, eine Rezep­tion­ss­teuerung — damit der „Haupt­text“ nicht (bloß) als Schildeurng eines indi­vidu­ellen Schick­sals gele­sen wer­den kann, wird das und sein Text am Schluss trans­formiert (im Sinne von „aufge­hoben“). Immer­hin begin­nt das im Kapi­tel XXVI mit dem beze­ich­nen­den Satz:

Lass mich noch ein­mal erzählen. Jet­zt ist alles ganz klar und voller Zusammenhänge.(137)

Was dann fol­gt, ist zwar über­haupt nicht klar, aber: Erst jet­zt, mit diesem Satz, begin­nt das Erzählen … (und ist damit aber auch schon wieder am Ende ange­langt).

Diese Rät­sel­haftigkeit — ohne Auflö­sung — ist die große Stärke des Textes. Auch die Deu­tung als Leg­ende hil­ft ja nur wenig — denn was heißt das denn nun für den Text und seine Fig­uren, wenn er kein Roman, son­dern eine Leg­ende ist? Dass Con­stan­tin ein Heiliger ist? Aber warum und wofür? Fra­gen bleiben nach dem Lesen, aber auch die offene Fasz­i­na­tion des Buch­es, das man zwar bei­seite leg­en kann, aber nicht so ein­fach beendi­gen. Je länger ich drüber nach­denke, desto faszinieren­der wer­den die Lan­gen Flucht­en

Er geht auf das Haus zu, ein Ver­wal­tungsmon­ster aus Back­stein und Glas. Män­ner in Anzü­gen, Leis­tungsträger, gehen schnell an ihm vor­bei, begeg­nen anderen Män­nern, Frauen, man grüßt. Mahlzeit ist das Pass­wort, mit dem man dazuge­hört. Er merkt, wie sein Gang sich von dem der anderen unter­schei­det. Er ver­sucht, ihrem Gehen, so nen­nt er es abschätzig, seinen Gang ent­ge­gen­zuset­zen, seinen stolzen Gang, aber es gelingt ihm nicht. Die gläserne Ein­gangstür öffnet sich, nir­gends ein Wider­stand. Nein, er fragt nicht den Pfört­ner, er sucht den Raum mit der Num­mer 423 selb­st. ‚Alexan­der Ste­ger‘ ste­ht auf dem Schild neben der Tür. drei leere Stüh­le davor. Er set­zt sich. Er hat ein­mal gel­ernt, eine Strate­gie zu entwick­eln, ‚Führen mit Auf­trag‘, er muss das Heft in die Hand kriegen jet­zt. Er sitzt hier, weil Anne gesagt hat, er solle hinge­hen zu dem Ter­min. (37)

Daniela Danz: Lange Flucht­en. Göt­tin­gen: Wall­stein 2016. 146 Seit­en. ISBN 9783835318410.