Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Kategorie: literatur Seite 1 von 37

Schweigen

Was sie sagen,
die Vor­fah­ren,
geht uns viel­leicht gar nichts an.
Wir sehen, was sie tun, was sie taten,
aber ob es sie waren?

Ich könn­te in die Biblio­thek gehen
und lesen, was eigent­lich gemeint war,
und schrei­en.
Ich könn­te die Blöd­heit im Schnitt der Stei­ne,
ver­mer­gelt mit Weis­heit, erken­nen
und schrei­en,
ein­ge­mau­ert in die­se Geschich­te.

Es muss Geschwis­ter geben (alle so Schwesta, Bru­da, Cou­sin)
unter­schied­lich reagie­rend auf den glei­chen Schas,
gleich (gemein­sam) im Unter­schied­li­chen,

und ich bin blö­de zu mei­nem Glück
wie ein Göt­ter­baum ein, zwei Meter wach­send im Jahr,
das kann ich,
mit dem gan­zen Kör­per in die Bewe­gung leh­nen.

Die Anlei­tun­gen: Was sagen sie, was – wohin fal­len sie,
dahin fal­len wir auch und dann sagen wirs nicht.
Schau mich an,
wir sind die Rui­nen
für alle Idyl­len,
wir sind die Minen
für Iro­nie

Ann Cot­ten (aus: Die Anlei­tung der Vor­fah­ren. Ber­lin: Suhr­kamp 2023, 138)

Zukunft

Seven Lines About Future

Die Zukunft wird kom­men.
Auch die der Lite­ra­tur.
Sie wird wenig Hei­mat haben,
wenn sie kommt.
Aber Tag und Nacht und
die Kör­per, die sie lie­ben.

Lud­wig Fels, Mit mir hast du kei­ne Chan­ce, 5
Snowflake in close-up

Schnee

Schnee: wer
die­ses Wort zu Ende
den­ken könn­te
bis dahin
wo es sich auf­löst
und wie­der zu Was­ser wird

das die Wege auf­weicht
und den Him­mel in
einer schwar­zen

blan­ken Pfüt­ze
spie­gelt, als wär er
aus nicht­ros­ten­dem Stahl

und blie­be
unver­än­dert blau.

Rolf Die­ter Brink­mann (aus: Le Chant du Monde)[Rolf Die­ter Brink­mann: Stand­pho­tos. Gedich­ter 1962–1970. Rein­bek: Rowohlt 1980, S. 40]

Herbst

Die Blät­ter fal­len, fal­len wie von weit,
als welk­ten in den Him­meln fer­ne Gär­ten;
sie fal­len mit ver­nei­nen­der Gebär­de.

Und in den Näch­ten fällt die schwe­re Erde
aus allen Ster­nen in die Ein­sam­keit.

Wir alle fal­len. Die­se Hand da fällt.
Und sie dir and­re an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, wel­cher die­ses Fal­len
unend­li­chen sanft in sei­nen Hän­den hält.

Rai­ner Maria Ril­ke, Herbst (Das BUch der Bil­der)

Gedichte

Bei Gedich­ten hilft zwei Mal lesen immer. Das kann nie falsch sein. Denn meis­tens ist schon nach dem zwei­ten Mal klar, ob das Ding vor uns über­haupt ein Gedicht ist oder nicht. Wenn näm­liuch nach dem zwei­ten Mal klar ist, was da steht, und eben­so due­litch, dass da nichts wei­ter ist, als was man ver­stan­den hat, dann ist es kein Gedicht. Weil ein Gedicht eben nicht das ist, was man gemein­hin meint, wenn man sagt: Ich habe ver­stan­den.

Urs Enge­ler, Mein Lie­ber Lühr (in: MÜt­ze #33, 1671)

Waldwege

Bors­ten und räu­be­risch sind mei­ne spe­zia­len
Ver­stär­ker auf Wald­pfa­den, Käfer spie­gelns
Hase-Fuchs-Reh, selbst­ru­fend Herr und Frau
Kuckuck. Der Mensch, idea­lisch, sei immer
dem Wal­de zu, sin­gend. Beeren‑, Pilz­kör­be
neben sich an dem gluck­sen­den Bache sit­zen
gleich­sam zau­brisch. Nicht ach­te Zwer­gen-
werk nied­rig und ‑hor­te in Ger­ma­ni­ens Adern.
Nebst Dis­po, Glat­zen, Spuk, mag sein, auch
äch­tes Gold … Denn wer hat nach­ge­forscht.

Wald­we­ge

Stef­fen Popp, 118, 65

Krieg

Krieg

Alle Stra­ßen sind mit Blut beglitzt.
Gie­rig lecken vie­ler Hun­de Mün­der.
Bajo­net­te lüs­tern hoch­ge­spitzt.
Wit­ternd recken sich die Zwan­zig­pfün­der.

In den Näch­ten droh­te der Komet.
Über Städ­ten plat­zen die Gra­na­ten.
Trom­meln, Trom­meln wird wei­ter­ge­weht.
Braun­ge­plät­tet lie­gen alle Saa­ten.

Her­mann Plag­ge (1914)

Akkumulation

Wol­ke, wohin du gewolkt bist.
Ein herr­li­cher Mai­tag – mir im Gemü­te.

—aus: Elke Erb, „Ursprüng­li­che Akku­mu­la­ti­on“ (in: Elke Erb, Mensch sein, nicht, 1998)
bücherstapel

Aus-Lese #55

Ernst Bau­man: In die Ber­ge! Alpi­ne Foto­gra­fie der 1920er und 1930er Jah­re. Her­aus­ge­ge­ben von Alfred Bül­les­bach udn Rudolf Schicht. Mün­chen: mori­sel 2019. 125 Sei­ten. ISBN 978−3−943915−37−2.

baumann, in die berge (cover)Eine Rezen­si­on in der Süd­deut­schen Zei­tung hat mich auf die­ses schö­ne und span­nen­de Foto­buch auf­merk­sam gemacht. Die Geschich­te der Foto­gra­fie ist ja nun nicht gera­de ein Gebiet, mit dem ich mich aus­ken­ne oder über­haupt irgend­wie beschäf­tigt habe. Trotz­dem (oder des­halb) macht das Buch viel Spaß. Dazu trägt auch nicht uner­heb­lich die sehr infor­ma­ti­ve (und selbst schon reich bebil­der­te) Ein­füh­rung von Alfred Bül­les­bach bei, die es schafft, auch Lai­en der Foto­gra­fie­ge­schich­te wie mir die Zusam­men­hän­ge, in den Bau­mann in den 20er und 30er Jah­rend (und auch noch nach dem Zwei­ten Welt­krieg) arbei­te­te, auf­zu­zei­gen. Dazu gehört nicht nur die wirt­schaft­li­che SItua­ti­on frei­er Foto­gra­fen, son­dern auch die Ver­bin­dung der Foto­gra­fie mit den Ber­gen, die zuneh­men­de, zu die­ser Zeit ja gera­de in Schwung kom­men­de tou­ris­ti­sche Erschlie­ßung der Alpen (durch den Bau von ent­spre­chen­der Infra­struk­tur, durch den Urlaubs­an­spruch der Ange­stell­ten und natür­lich auch durch die öko­no­mi­schen Mög­lich­kei­ten brei­te­rer Bevöl­ke­rungs­schich­ten, ent­spre­chen­de Fahr­ten und Urlau­be zu unter­neh­men), die als Hin­ter­grund für Bau­manns Fotos unab­ding­bar sind. Auch gefal­len hat mir, die Beto­nung der Rele­vanz der Berg­fil­me für die Zeit – nicht nur für das Bild der Ber­ge in der Bevöl­ke­rung, son­dern auch als wirt­schaft­li­ches Stand­bein für nicht weni­ge Betei­lig­te

Die Fotos selbst schei­nen mir dann durch­aus einen eige­nen Blick von Bau­mann zu ver­ra­ten (mit dem bereits erwähn­ten caveat, dass ich da über wenig Hin­ter­grund ver­fü­ge): Ganz eigen, vor allem vor dem Hin­ter­grund der gegen­wär­ti­gen Extrem-Ver­mark­tung der Ber­ge als spek­ta­ku­lärs­ter Spiel­platz der Welt, ist die stil­le Ruhe und Gelas­sen­heit der Schön­heit der Ber­ge (und auch ihrer Besu­cher, möch­te ich sage, Bestei­ger oder Bezwin­ger wäre für die hier abge­bil­de­ten Men­schen und ihre Hal­tung wohl der fal­sche Aus­druck, viel zu ent­spannt und zurück­hal­tend-freu­di­ge tre­ten sie mir vors Auge).

Gera­de im Ver­gleich zu heu­ti­gen bild­li­chen Dar­stel­lung von Ber­gen und den Men­schen auf ihnen sieht das hier zahm aus. Auch, weil das eigent­li­che Erschlie­ßen der und das Bewe­gen in den Ber­gen eher ein Rand­the­ma bleibt. Und weil es ver­gleichs­wei­se harm­lo­se Gip­fel der Alpen sidn – aber, und das ist eben der Witz, den­noch unver­gess­lich in Sze­ne gesetzt. Wahr­schein­lich spielt auch die Schwarz-Weiß-Foto­gra­fie eine Rol­le, wohl gera­de bei den auf­tau­chen­den Per­so­ne­nen, die dadurch eine ande­re Schär­fe und Kon­tu­rie­rung zu haben schei­nen als in den spä­te­ren Farb­fo­to­gra­fien (so ist zumin­dest mein eige­ner Ein­druck …).

Chris­ti­an Neu­häu­ser: Wie reich darf man sein? Über Gier, Neid und Gerech­tig­keit. 3. Auf­la­ge. Dit­zin­gen: Reclam 2019 (Was bedeu­tet das alles?). 89 Sei­ten. ISBN 978−3−15−019602−1

Neuhäuser, Wie reich darf man sein? (Cover)Neu­häu­ser betrach­tet Reich­tum und damit zusam­men­hän­gen­de Tugen­den und Pro­ble­me wie Gier, Gerech­tig­keit, und Neid – der Titel ist hier tat­säch­lich sehr genau. Er argu­men­tiert dabei vor allem moral­phi­lo­so­phisch. Öko­no­mi­sche, poli­ti­sche und/​oder sozia­le Kri­te­ri­en spie­len nur am Rand eine Rol­le. Und den­noch ist das natür­lich – das bleibt bei dem The­ma und auch bei sei­nem Zugang gar nicht aus – natür­lich ein poli­ti­sches Buch, dass vor allem Super­rei­che für ihn unter mora­li­schen, phi­lo­so­phi­schen und gesell­schaft­li­chen (und damit ja auch poli­ti­schen) Aspek­ten durch­aus kri­tisch zu betra­chen sind. Dabei geht es ihm aber über­haupt nicht um die Per­so­nen, son­dern um die sich an ihnen mani­fes­tie­ren­den Reich­tü­mer – und damit auch die Unter­schie­de, die Gren­zen. Und das hängt eben oft mit Unge­rech­tig­kei­ten zusam­men. Eines sei­ner Kern­ar­gu­men­te ist, dass Super­reich­tum – im Gegen­satz zu Wohl­stand und Reich­tum – nicht (mehr) ver­dient sein kann und damit moral­phi­lo­so­phisch ein Pro­blem ist.

Ein biss­chen scha­de ist, dass Neu­häu­ser dabei oft nicht sehr in die Tie­fe geht: Das ist manch­mal etwas plau­dernd gera­ten – was nicht heißt, dass Neu­häu­ser mit sei­ner Argu­men­ta­ti­on falsch läge. Aber man­ches scheint mir nicht zu ende gedacht/​geschrieben, zumin­dest in die­sem Büch­lein (es ist ja nun nicht die ein­zi­ge Aus­ein­an­der­set­zung des Autors mit die­sem The­ma).

Björn Kuhl­igk: Die Spra­che von Gibral­tar. Gedich­te. Mün­chen: Han­ser Ber­lin 2016. 85 Sei­ten. ISBN 978−3−446−25291−2.

kuhligk, sprache von gibraltar (cover)Kuhl­igk habe ich bis­her eher am Ran­de wahr­ge­nom­men: Durch­aus offen­bar anspre­chen­de Qua­li­tä­ten im lite­ra­ri­schen Schrei­ben, aber nicht mein drin­gens­ter Lek­tü­re­wunsch. Die Spra­che von Gibral­tar könn­te das ändern. Das ist näm­lich ein fei­nes Buch.

Ganz beson­ders der ers­te Teil, der titel­ge­ben­de Zyklus über Gibral­tar und die euro­päi­sche Enkla­ve dort, ist rich­tig gut. Das ist kei­ne über­mä­ßi­ge Betrof­fen­heits­li­te­ra­tur, der man die Bemüht­heit an jedem Wort anmerkt. Aber es ist ein genau­es Hin­schau­en (was an sich schon durch­aus eine loh­nens­wer­te Leis­tung wäre). Und es ist vor allem die Fähig­keit, aus dem Hin­schau­en, aus der Absur­di­tät und auch der Grau­sam­keit der Welt in die­sem klei­nen Ort eine poe­ti­sche Spra­che zu fin­den und zu bil­den. Damit lässt Kuhl­igk auch immer wie­der die zwei Wel­ten auf­ein­an­der pral­len und sich nicht nur hef­tig anein­an­der rei­ben, son­dern kra­chend mit­ein­an­der Ver­ha­ken.

Sehr pas­send scheint mir auch das (sonst bei Kuhl­igk mei­nes Wis­sens nicht vor­herr­schend, sogar sehr sel­ten ein­ge­setz­te) Mit­tel der lan­gen, erschöp­fen­den, ermü­den­den Rei­hung in die­sem Zyklus ein­ge­setzt zu wein – etwa die sehr ein­drück­lich wir­ken­de und genaue Lita­nei „wenn man …“.

Und dann gibt es auch noch in den rest­li­chen Abschnit­ten, in der zwei­ten Hälf­te des Ban­des, gute und schö­ne Gedich­te, die etwa sehr gelun­gen die Trost­lo­sig­keit des Land­le­bens im „Dorf­krug“ (47) ein­fan­gen oder in der Dopp­lung von „Was wir haben“ (50) und „Was fehlt“ (51) bei­na­he so etwas wie eine unsen­ti­men­ta­le Land­schafts­ly­rik ent­wi­ckeln.

wenn man das Wort „Kapi­ta­lis­mus“ aus­spricht, ist im Mund viel los /​wenn man Koh­le hoch­trägt, trägt man Asche run­ter (35)

Jür­gen Kau­be: Ist die Schu­le zu blöd für unse­re Kin­der? 2. Auf­la­ge. Ber­lin: Rowohlt Ber­lin 2019. 335 Sei­ten. ISBN 978−3−7371−0053−3.

Kaube, Ist die Schule zu blöd (Cover)Nun ja. Das war eine eher ent­täu­schen­de Lek­tü­re. Kau­be beob­ach­tet das Bil­dungs­sys­tem im wei­te­ren Sin­ne schon län­ger und hat sich auch immer wie­der dar­über geäu­ßert, durch­aus auch jen­seits der taes­ak­tu­el­len Anläs­se. Sei­ne klei­ne Schrift Im Reform­haus habe ich damals durch­aus mit Gewinn gele­sen. Bei Ist die Schu­le zu blöd für unse­re Kin­der? ist das aber lei­der anders. Der Titel hät­te ja schon eine War­nung sein kön­nen. Schon die ers­ten Sei­ten und die anfäng­li­chen Kapi­tel zei­gen schnell ein Haupt­man­ko des Buches: viel Gere­de, viel schö­ne Bei­spie­le, aber eher wenig Sub­stanz.

Vor allem hat mich sehr schnell und recht nach­hal­tig genervt, wie selek­tiv er liest/​wahrnimmt und dann lei­der auch argu­men­tiert. Das wird zum Bei­spiel in Bezug auf Bil­dungs­em­pi­ri­ker (für ihn ja fast ein Schimpf­wort) sehr deut­lich, aber auch in sei­nen aus­g­wähl­ten Bezü­gen auf Bil­dungs­un­gleich­heit und Chan­cen­un­gleich­heit im Bil­dungs­be­reich. Das ist ja eines sei­ner Haupt­ar­gu­men­te hier: Dass die Schu­le nicht dafür da ist, Ungleich­heit zu besei­ti­gen, dass sie von Politiker*innen zuneh­mend dazu „benutzt“ wird, sozia­le Pro­ble­me zu lösen. Ich kann ihm ja durch­aus dar­in (cum gra­no salis) zustim­men, dass die Schu­le das kaum leis­ten kann. Ich bin mir aber nicht so sicher, ob das wirk­lich ein so bestim­men­des Motiv der Bil­dungs­po­li­tik und so sehr ein wirk­li­ches Pro­blem ist. Jeden­falls haben die­se Nach­läs­sig­kei­ten mir es dann aus­ge­spro­chen schwer gemacht, die posi­ti­ven Aspek­te wirk­lich zu wür­di­gen (die aber durch­aus vor­han­den sind, nur lei­der eben etwas begra­ben unter dem ein­sei­ti­gen, schimp­fen­den Gewet­ter Kau­bes).

außer­dem gele­sen:

  • Lüt­fi­ye Güzel: sans tro­phée. Duis­burg, Ber­lin: go-güzel-publi­shing 2019.
  • Sieg­fried Völl­ger: (so viel zeit hat nie­mand). Gedich­te. Mün­chen: Alli­te­ra 2018 (Lyrik­edi­ti­on 2000). 105 Sei­ten. ISBN 978−3−96233−075−0.
  • Phil­ipp Hübl: Bull­shit-Resis­tenz. 2. Auf­la­ge. Ber­lin: Nico­lai 2019 (Tugen­den für das 21. Jahr­hun­dert). 109 154 Sei­ten. ISBN 978−3−96476−009−8.
Bibliothek (gebogene Reihe)

Aus-Lese #54

Eber­hard Kolb: Otto von Bis­marck. Eine Bio­gra­phie. Mün­chen: Beck 2014. 208 Sei­ten. ISBN 978−3−406−66774−9.

kolb, bismarck (cover)Als Bio­gra­phie ist das für mich kaum satis­fak­ti­ons­fä­hig: Zu blass und ver­schwom­men bleibt das Bild. Der Mensch Bis­marck, die Per­son, tritt nahe­zu gar nicht auf – ab und an gibt es Hin­wei­se auf sei­ne Gesund­heit oder ein paar ganz weni­ge auf Frau und Kin­der. Im Vor­der­grund oder bes­ser allei­ne im Fokus steht sein poli­ti­sches Han­deln. Das beschreibt Kolb mit Zunei­gung, aber durch­aus auch mit Blick für die Ambi­va­len­zen Bis­marcks. Aber auch das Zen­trum, die Poli­tik, bleibt blut- und farb­los. Das liegt vor allem dar­an, dass Kolb oft sehr groß­zü­gig durch die Gescheh­nis­se und Taten durch eilt udn nur die Ergeb­nis­se berich­tet, den Weg aber meist nur sum­ma­risch (und oft genug mit dem Hin­weis: Die Details sind bekannt). Das wie­der­um hängt damit zusam­men, dass er kei­nen rech­ten Zugriff fin­det: Eigent­lich ist das eine preußische/​deutsche Geschich­te am Bei­spiel Bis­marcks. Und bei­des ist in die­sem Umfang natür­lich kaum beson­ders inten­siv oder tief­ge­hend zu leis­ten.

Wu Ming: Mani­tua­na. Ber­lin, Ham­burg: Asso­zia­ti­on A 2018. 509 Sei­ten. ISBN 978−3−86241−465−9.

wu ming, manituana (cover)Mani­tua­na reicht lei­der nicht an die letz­ten Bän­de von Wu Ming her­an. Das kann durch­aus dar­an lie­gen, dass der USA, ihre Unab­hän­gig­keits­krieg und der Kampf mit, um und gegen die „India­ner“ schon an sich nicht so ganz mein Ding sind. Da pas­siert dann zwar wie­der viel, es wird gekämpft, betro­gen, ver­ra­ten und ver­han­delt, eine Dele­ga­ti­on darf auch nach Eng­land rei­sen und sich im Luxus (und den Nie­de­run­gen Lon­dons) des Adels­le­bens gehö­rig fremd füh­len. Ich hat­te beim Lesen aber schon eigent­lich durch­weg den Ein­druck, dass das an Span­nung und vor allem hin­sicht­lich des bild­haf­ten, detail­rei­chen Erzäh­lens ein­fach nicht (mehr) so gut ist. Zu sehr dringt hier immer wie­der die Absicht an die Ober­flä­che und stellt sich vor den Text – und damit funk­tio­niert genau das, was bei ande­ren Tex­ten von Wu Ming die beson­de­re Span­nung und den spe­zi­el­len Reiz aus­macht, hier lei­der nicht.

Jan Peter Bre­mer: Der jun­ge Dok­to­rand. 2. Auf­la­ge. Mün­chen: Ber­lin 2019. 176 Sei­ten. ISBN 978−3−8270−1389−7.

bremer, der junge doktorand (cover)Das ist ein über­ra­schend fei­nes, klei­nes Buch. Jan Peter Bre­mer hat­te ich bis­her ja über­haupt nicht auf dem Schirm. Aber in Der jun­ge Dok­to­rand zeigt er sich durch­aus als gewief­ter Erzäh­ler, der sein Hand­werk ver­steht und vor allem ernst nimmt: Ernst neh­men in dem Sinn, dass er sich bemüht, sau­ber zu arbei­ten, Feh­ler zu ver­mei­den. Das zeigt der Text, der mit Gespür und Form­be­wusst­sein erzählt ist. Das kunst­vol­le Beherr­schen des Erzäh­lens zeigt sich auch in dem Umfang des Buches: Das ist ein klei­ner Roman. Es geht auch gar nicht so sehr um gro­ße, all­um­fas­sen­de Din­ge – die Welt wird hier nicht gera­de erzählt. Aber auch wenn er sich beschei­den gibt: Bre­mer gelingt es doch, auf den weni­gen Sei­ten mit genau­en Sät­zen, tref­fen­den Beschrei­bun­gen und Bewusst­sein für das rich­ti­ge Tem­po gro­ße The­men zu erzäh­len: Es geht um Ehe, um Gesell­schaft und Indi­vi­du­um, und natür­lich, vor allem, um Kunst – und auch ein biss­chen um nicht-nor­mier­te Lebens­läu­fe wie den des jun­gen Dok­to­ran­den, der weder jung noch Dok­to­rand ist. Das klingt in der Zusam­men­fas­sung recht tro­cken und ja, fast banal, ent­fal­tet bei Bre­mer aber eine tref­fen­den und sub­ti­le Komik. Und das macht dann ein­fach Spaß.

Nor­bert Scheu­er: Win­ter­bie­nen. 5. Auf­la­ge. Mün­chen: Beck 2019. 319 Sei­ten. ISBN 978−3−406−73964−4.

scheuer, winterbienen (cover)Die Win­ter­bie­nen haben mich etwas ent­täuscht und rat­los zurück­ge­las­sen. Ich habe Scheu­er ja durch­aus als erfah­re­nen Erzäh­ler und Autor schät­zen gelernt. Die­ser Roman hat aber mehr Schwä­chen als er mit sei­nen eher mäi­gen Stär­ken aus­glei­chen kann. Da ist zum einen die selt­sa­me Tage­buch-Fik­ti­on. Die passt näm­lich vor­ne und hin­ten nicht: Gut, dass der Tage­buch­text in Fuß­no­ten die latei­ni­schen Zita­te über­setzt, das wird noch von der Her­aus­ge­ber­fik­ti­on gedeckt. Dass (als ein Bei­spiel von vie­len) Egi­di­us Ari­mond (schon der Name macht mich ja bei­na­he wahn­sin­nig) als erfah­re­ner Imker aber nach jahr­zehn­te­lan­ger Tätig­keit sei­nem Tage­buch erklärt, was er war­um bei den Bie­nen, vor allem eben im Win­ter, macht, ist ein­fach hand­werk­li­cher bzw. erzähl­tech­ni­scher Unsinn, der einer Lek­to­rin durch­aus mal hät­te auf­fal­len dür­fen. Der Roman an sich ist für mich etwas zwie­späl­tig: Natür­lich sehr durch­drun­gen von völ­ki­scher Ideo­lo­gie, die eben wie­der durch die Tage­buch-Fik­ti­on legi­ti­miert wird. Dann ist da noch das Lei­den eines Krie­ges, der auf die Aggres­so­ren zurück­ge­fal­len wird, hier aber – in Ari­mond und den rest­li­chen, sche­men­haft auf­tau­chen­den Eifel­be­woh­nern – eher als irgend­wie gege­ben hin­ge­nom­men wird. Angeb­lich ist die erzähl­te Welt geprägt von dem „Wunsch nach einer fried­li­chen Zukunft“ – davon merkt man im Text aber reich­lich wenig. Im gan­zen bleibt mir das etwas frag­wür­dig und vor allem aus­ge­spro­chen unbe­frie­di­gend: War­um erzählt Scheu­er uns das? Und war­um ver­steckt sich der Autor so (bei­na­he) voll­kom­men hin­ter sei­ner Figur – was will mir das eigent­lich sagen?

außer­dem gele­sen:

  • Hei­mi­to von Dode­rer: Unter schwar­zen Ster­nen. Erzäh­lun­gen. Mün­chen: Deut­scher Taschen­buch Ver­lag 1973. 154 Sei­ten. ISBN 3−7642−0055−3.
  • Glenn Gould: Frei­heit und Musik. Reden und Schrif­ten. 2., durch­ge­se­he­ne und ergänz­te Auf­la­ge. Dit­zin­gen: Reclam 2019 (Was bedeu­tet das alles?). 84 Sei­ten. ISBN 978−3−15−019412−6.
  • Alger­non Black­wood: Eine Kanu­fahrt auf der Donau. /​Die Wei­den. Ulm: danu­be boo­kes 2018. 154 Sei­ten. ISBN 978−3−946046−13−4.
  • Sibyl­le Schwarz: Ist Lie­ben Lust, wer bringt dann das Beschwer?. Leip­zig: Rei­ne­cke & Voß 2016. 58 Sei­ten. ISBN 978−3−942901−21−5.

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