Lesen. Hören. Und ein bisschen schreiben.

Autor: Matthias Seite 1 von 206

Leser mit allerlei Ansprüchen und ausdauernder Läufer. Je nach Tagesform auch mal ausdauernder Leser und Läufer mit allerlei Ansprüchen.

Schweigen

Was sie sagen,
die Vor­fah­ren,
geht uns viel­leicht gar nichts an.
Wir sehen, was sie tun, was sie taten,
aber ob es sie waren?

Ich könn­te in die Biblio­thek gehen
und lesen, was eigent­lich gemeint war,
und schrei­en.
Ich könn­te die Blöd­heit im Schnitt der Stei­ne,
ver­mer­gelt mit Weis­heit, erken­nen
und schrei­en,
ein­ge­mau­ert in die­se Geschich­te.

Es muss Geschwis­ter geben (alle so Schwesta, Bru­da, Cou­sin)
unter­schied­lich reagie­rend auf den glei­chen Schas,
gleich (gemein­sam) im Unter­schied­li­chen,

und ich bin blö­de zu mei­nem Glück
wie ein Göt­ter­baum ein, zwei Meter wach­send im Jahr,
das kann ich,
mit dem gan­zen Kör­per in die Bewe­gung leh­nen.

Die Anlei­tun­gen: Was sagen sie, was – wohin fal­len sie,
dahin fal­len wir auch und dann sagen wirs nicht.
Schau mich an,
wir sind die Rui­nen
für alle Idyl­len,
wir sind die Minen
für Iro­nie

Ann Cot­ten (aus: Die Anlei­tung der Vor­fah­ren. Ber­lin: Suhr­kamp 2023, 138)

Zukunft

Seven Lines About Future

Die Zukunft wird kom­men.
Auch die der Lite­ra­tur.
Sie wird wenig Hei­mat haben,
wenn sie kommt.
Aber Tag und Nacht und
die Kör­per, die sie lie­ben.

Lud­wig Fels, Mit mir hast du kei­ne Chan­ce, 5
Snowflake in close-up

Schnee

Schnee: wer
die­ses Wort zu Ende
den­ken könn­te
bis dahin
wo es sich auf­löst
und wie­der zu Was­ser wird

das die Wege auf­weicht
und den Him­mel in
einer schwar­zen

blan­ken Pfüt­ze
spie­gelt, als wär er
aus nicht­ros­ten­dem Stahl

und blie­be
unver­än­dert blau.

Rolf Die­ter Brink­mann (aus: Le Chant du Monde)[Rolf Die­ter Brink­mann: Stand­pho­tos. Gedich­ter 1962–1970. Rein­bek: Rowohlt 1980, S. 40]

Gleichgewicht

Die Natur erhältt alles in einem schwer­ben­den Gleich­ge­wicht. Der Geist wird nicht müde, ihm nach­zu­sin­nen.

Wil­helm Leh­mann, Buko­li­sches Tage­buch (2. Febru­ar 1931)

Herbst

Die Blät­ter fal­len, fal­len wie von weit,
als welk­ten in den Him­meln fer­ne Gär­ten;
sie fal­len mit ver­nei­nen­der Gebär­de.

Und in den Näch­ten fällt die schwe­re Erde
aus allen Ster­nen in die Ein­sam­keit.

Wir alle fal­len. Die­se Hand da fällt.
Und sie dir and­re an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, wel­cher die­ses Fal­len
unend­li­chen sanft in sei­nen Hän­den hält.

Rai­ner Maria Ril­ke, Herbst (Das BUch der Bil­der)

Gedichte

Bei Gedich­ten hilft zwei Mal lesen immer. Das kann nie falsch sein. Denn meis­tens ist schon nach dem zwei­ten Mal klar, ob das Ding vor uns über­haupt ein Gedicht ist oder nicht. Wenn näm­liuch nach dem zwei­ten Mal klar ist, was da steht, und eben­so due­litch, dass da nichts wei­ter ist, als was man ver­stan­den hat, dann ist es kein Gedicht. Weil ein Gedicht eben nicht das ist, was man gemein­hin meint, wenn man sagt: Ich habe ver­stan­den.

Urs Enge­ler, Mein Lie­ber Lühr (in: MÜt­ze #33, 1671)
zeitungen gebündelt

Zeitgemäße Zeitung?

Die „Süd­deut­sche Zei­tung“ geht mit der Zeit und hat ihre Digi­tal­aus­ga­be moder­ni­siert, sagt sie. Und zugleich das Redaktionssystem/​CMS gewech­selt. Dabei ist aber wohl eini­ges schief­ge­lau­fen. Zumin­dest aus mei­ner Sicht ist die neue Gestal­tung aus­ge­spro­chen man­gel­haft (bei eini­gen guten Ansät­zen). Ich lese die SZ täg­lich im Abon­ne­ment auf dem Tablet und habe mal auf­ge­schrie­ben, was mir direkt ins Auge gefal­len ist.

Ein neu­es Lay­out und neu­es Redak­ti­ons­sys­tem (also ande­re Soft­ware), aber für einen Typo­gra­phen oder Schrift­set­zer (oder über­haupt jeman­den, der nur ein biss­chen Ahnung von Text­satz und ‑gestal­tung hat), reich­te es offen­bar nicht mehr.

Schon beim ers­ten Lesen auf dem Tablet gleich auf­ge­fal­len sind mir (und da bin ich noch nicht mal auf Feh­ler­su­che gegan­gen):

  • Es gibt kei­ne Sil­ben­tren­nung, dafür aber kata­stro­pha­le Löcher im Flat­ter­satz der nicht sehr brei­ten Text­spal­ten. Dabei gibt es doch inzwi­schen sehr gute auto­ma­ti­sche Sil­ben­tren­nun­gen, die ohne manu­el­le Ein­grif­fe (nahe­zu) feh­ler­frei arbei­ten.
  • Dafür wer­den Zah­len wie 150.000 jetzt gna­den­los getrennt, weil die Tau­sen­der­stel­le hier wohl ein gewöhn­li­ches Leer­zei­chen ist. Das ist ein erbärm­li­cher Anfän­ger­feh­ler, der das Lesen sehr erschwert.
  • Es gibt kei­ne rich­ti­gen Anfüh­rungs­zei­chen (die im Deut­schen nor­ma­ler­wei­se zu Anfang unten, zu Ende oben ste­hen und nicht das Zoll-Zei­chen benut­zen), weder in Über­schrif­ten noch im Text. Das ist ein­fach sehr unschön.
  • Ein ver­wand­tes Pro­blem: Auch der ver­wen­de­te Apo­stroph ist sehr blo­ckig.
  • Es gibt kei­nen Gedan­ken­strich (Halb­ge­viert­strich), son­dern nur Bin­de-/Tren­nungs­stri­che – zumin­dest wird der Halb­ge­viert­strich nicht genutzt, weder bei der Tren­nung der Orts­mar­ke vom Text noch bei den typi­schen Fäl­len im Satz.
  • Die kur­si­ve Schrift wirkt im Text zugleich ange­fet­tet.
  • Mei­nes Erach­tens ist die aus­ge­wähl­te Schrift­art für die Res­sort­über­schrif­ten für die­sen Zweck unge­eig­net und wirkt selt­sam (gera­de in Ver­bin­dung mit den ande­ren ver­wen­de­ten Schrif­ten), aber das ist auch eine Geschmacks­fra­ge.

Immer­hin sind die Buch-Über­sich­ten (die Res­sort­sei­ten) nun deut­lich bes­ser struk­tu­riert. Vor allem zei­gen sie end­lich die Autor*innen nicht nur bei weni­gen, son­dern allen Arti­keln (außer bei rei­nen Mel­dun­gen, das ist ja sinn­voll) und sind durch die Stri­che bes­ser in sinn­haf­te Abschnit­te geglie­dert. Auch die Rei­hen­fol­ge der Arti­kel ist jetzt kon­sis­ten­ter zwi­schen Res­sort­über­sicht und Arti­kel­an­sicht (das war vor­her nicht immer so, son­dern schien manch­mal Glücks­sa­che).

Aber als Gan­zes ist das ziem­lich unwür­dig für ein Unter­neh­men die­ser Grö­ße. Es scheint fast so, als hät­te das nie­mand mal vor­her getes­tet ;-) Man könn­te also sagen, die „Süd­deut­sche Zei­tung“ ist mit die­ser Miss­ach­tung gestal­te­ri­scher Grund­re­geln mit der Zeit gegan­gen …

Waldwege

Bors­ten und räu­be­risch sind mei­ne spe­zia­len
Ver­stär­ker auf Wald­pfa­den, Käfer spie­gelns
Hase-Fuchs-Reh, selbst­ru­fend Herr und Frau
Kuckuck. Der Mensch, idea­lisch, sei immer
dem Wal­de zu, sin­gend. Beeren‑, Pilz­kör­be
neben sich an dem gluck­sen­den Bache sit­zen
gleich­sam zau­brisch. Nicht ach­te Zwer­gen-
werk nied­rig und ‑hor­te in Ger­ma­ni­ens Adern.
Nebst Dis­po, Glat­zen, Spuk, mag sein, auch
äch­tes Gold … Denn wer hat nach­ge­forscht.

Wald­we­ge

Stef­fen Popp, 118, 65

Gebirge

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The­re are the Alps,
fools! Sit down and wait for them to crum­ble!

Basil Bun­ting, On the Fly­le­af of Pound’s Can­tos

Erzählt-Werden

Kann es sein, daß das Leben kei­nen ande­ren Sinn hat, als erzählt zu wer­den und im Erzählt-Wer­den immer wie­der neu zu ent­ste­hen? Daß also das Erzählt-Wer­den einer der vie­len Wege der Fort­pflan­zung ist, die das Leben kennt?

Anne Weber, Luft und Lie­be, 184

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